Alles neu macht der 1. Mai

Stell dir vor: Am diesjährigen 1. Mai gelingt es endlich. Die Lohnabhängigen aller Länder vereinigen sich.

Als erster Akt der Solidarität machen wir einen Haufen mit dem Geld, das uns eben gerade für den Monat April als Lohn ausbezahlt worden ist: Die Bankerin aus Zürich wirft ihr Bündel Tausendernoten in die Mitte, der Programmierer aus dem Silicon Valley seinen Rucksack voll Dollars, die Näherin aus Dhaka ihre handvoll Taka usw. Dann kommt eine Fee und verteilt diese Löhne gleichmässig auf alle 7.6 Milliarden Menschen der Welt. Jede und jeder erhält genau gleich viel, zu gängigen Wechselkursen bar ausbezahlt in der jeweiligen Landeswährung.

Dann der zweite Akt: Wir marschieren mit roten Fahnen zu den Kapitalistinnen und Kapitalisten und «überzeugen» sie, all ihre Immobilien, Aktien und sonstigen Wertpapiere an einen riesigen Fonds abzutreten. Die Gewinne dieses Fonds, so wird proklamiert, gehören allen. Sogleich erfolgt die erste Auszahlung: Das Total der globalen Unternehmensgewinne und Renditen des vergangenen Monats wird gleichmässig auf die Weltbevölkerung aufgeteilt. Zusätzlich zum Welt-Durchschnittslohn zaubert uns die rote Fee jetzt also noch die Welt-Durchschnittsdividende bar auf die Hand.

All die Gewinne, die Bezos, Buffett, Zuckerberg und Konsorten einfahren! Das müsste umverteilt doch locker für monatlich neuntausend Franken pro Person reichen. Oder nicht?

Fröhlich ziehen wir von dannen. Der gesamte Mehrwert, den die Menschheit im April geschaffen und vermarktet hat, steht jetzt zu gleichen Teilen allen Menschen zur Verfügung, als Budget für den Monat Mai. Zuhause angekommen zähle ich mein Geld. Kann das stimmen? Nur neunhundert Franken? Hat die Fee bei mir eine Null vergessen? All die Gewinne, die Bezos, Buffett, Zuckerberg und Konsorten einfahren! Das müsste umverteilt doch locker für monatlich neuntausend Franken pro Person reichen. Oder nicht?
Ich gehe auf Wikipedia. Das Welt-BIP im Jahr 2018: $ 84 Billionen (eine Acht mit dreizehn Nullen), geteilt durch die Weltbevölkerung (eine Acht mit neun Nullen), ergibt eine Eins mit vier Nullen. Das ist das jährliche Welt-BIP pro Kopf. Geteilt durch zwölf Monate. Zehntausend durch zwölf. Wechselkurs $ zu CHF etwa 1:1. Hm. Neunhundert Franken scheint plus minus zu stimmen.

Aber ich bleibe skeptisch. Ich lese noch einmal Kapitel 12 in «Das Kapital im 21. Jahrhundert» von Thomas Piketty. Dort steht: In Steueroasen sind undeklarierte Vermögenswerte in der Grössenordnung von 10 bis 30% des Welt-BIPs versteckt. Ich nehme an, dass auch die Gewinne auf diese Vermögenswerte nirgendwo deklariert sind, und unterstelle jetzt einfach mal eine extrem hohe Rendite von jährlich 20 Prozent. Demgemäss kommen zu den offiziellen $ 84 Billionen Welt-BIP noch bis zu $ 5 Billionen undeklarierte Gewinne hinzu. Aber auch das macht auf meine neunhundert Franken nur ein zusätzliches Fünfzigernötli aus. Offenbar muss ich als Schweizer in dieser neuen Welt der Gleichheit den Gürtel enger schnallen.

Bling! SMS: «Heute 18:00 Bundesplatz: Spontane Klimademo!» Ich gehe hin. Die ganze Welt ist schon da. Die Näherin aus Dhaka hat ein Megafon. «Genossinnen und Genossen! Ich habe vorhin mein Geld gezählt. Ich dachte: Das kann nicht stimmen. 75’000 Taka pro Person und Monat? Vor einigen Jahren habe ich noch 3000 Taka verdient, dann waren es 5300, seit Anfang Jahr sind es 8000. Und ich nehme gerne auch doppelt oder dreimal so viel. Aber neunmal so viel? Ich ging auf Wikipedia. Ich wollte verstehen, warum wir alle so absurd viel Geld erhalten haben. Ich stiess auf den Eintrag zum Earth Overshoot Day. Wenn wir weitermachen wie bisher, wird er dieses Jahr schon im Juli stattfinden. D.h. die Weltwirtschaft wird in sieben Monaten mehr Ressourcen verbraucht haben, als unser Planet innerhalb eines Jahres erneuern kann. Fast die Hälfte unseres Einkommens basiert auf Raubbau an der Zukunft, ist Diebstahl an unseren Enkelkindern! Darum: Halbieren wir die Weltwirtschaft! Degrowth now! 38000 Taka pro Person sind mehr als genug!»

Der Bundesplatz erschallt: «Degrowth now! Degrowth now!» Ich lasse mich mitreissen. Keine Ahnung zwar, wie ich mit 450 Franken im Monat auskommen soll. Vielleicht geben mir ein paar genügsame Näherinnen einen Konsumkredit, rückzahlbar am Sankt Nimmerleinstag. Ja, so könnte es klappen. Degrowth now!