Der Mond und seine Kalender

Jahrelang hab ich mich nach dem Mondkalender von Maria Thun gerichtet und auf die richtigen Kon­stellationen geachtet. Bis zu jenem Tag, an dem ich meine Schwester anrief.

Illustration: Aditi Desai

Der Mond war mir viele Jahre heilig. Nie ging ich in den Garten ohne den Mondkalender zu konsultieren. Egal ob es hudlete oder schneite, noch hell oder bereits dunkel war, wenn der Zeitpunkt für dieses oder jenes Gemüse gekommen war, wurde gesät. Ghaue oder Gstoche! Doch dann kam der Tag, an dem ich ein Telefongespräch mit meiner Schwester beenden wollte, um in den Garten zu gehen und Rüebli zu säen, weil Wurzeltag war. Damit war der familieninterne Krieg der Sterne lanciert. Meine Schwester warf mir den Wurzeltag als billige Ausrede vor, um das Gespräch abzuklemmen. Schliesslich sei heute Fruchttag!
Doch ich hatte recht, es war ein Wurzeltag. Jedenfalls war auf dem Mondkalender, den ich in der Küche aufgehängt hatte, ein Wurzeltag verzeichnet. Aber meine Schwester hatte auch recht. Auf ihrem Mondkalender war der Tag ein Fruchttag. Das merkten wir, als wir uns gegenseitig «unsere» Mondkalender unter die Nase hielten. «Kein Wunder waren meine Radiesli so mickrig», meinte meine Schwester nachdenklich, während ich an den Brokkoli dachte, der viel zu rasch in Blüte gegangen war. Und an den Spinat, der nicht keimen wollte. Die verkrüppelten Randen, die geschmacklosen Kürbisse, der Mini-Rosenkohl; für alles gab es plötzlich eine Erklärung!

Meine Schwester warf mir den Wurzeltag als billige Ausrede vor, um das Gespräch abzuklemmen. Schliesslich sei heute Fruchttag!

Ein Mond – drei Kalender
Wir waren naiv. Wir hatten tatsächlich geglaubt, dass es nicht nur einen Mond, sondern auch nur einen Mondkalender gibt. Weit gefehlt. Im Internet fand ich neben den Mond-Aussaatkalendern von Maria Thun und Johanna Paungger Pope zusätzlich einen Gratis-Mondkalender auf einem polnischen Server. Es gab kaum Tage, an denen die verschiedenen Kalender übereinstimmten. Am 3. Mai 2015 stand der Mond z.B. laut Maria Thun in der Jungfrau, man hätte an diesem Tag bis 19.30 Uhr Wurzelgemüse säen sollen. Bei Paungger stand der Mond am selben Tag in der Waage. Das war laut ihr ein Blütentag, den sie als ideal für das «Pflanzen, Setzen und Säen von Blatt- und oberirdisch wachsendem Gemüse» anpries. Beim polnischen Gratismondkalender war der gleiche Tag dem Sternbild Skorpion gewidmet, er empfahl ab 3.47 Uhr die Saat von Blattgemüse. Drei Kalender, drei Aussaattipps.

Pflanzenhoroskope mit unsicherer Wirkung
Auf die Erleichterung, endlich einen Schuldigen für sämtliche gärtnerischen Missgeschicke gefunden zu haben, folgte wenig später die Frage nach dem «richtigen» Kalender. Doch die Forschung hat das Thema kaum beackert. Dr. Hartmut Spiess vom Institut für biodynamische Forschung wies Anfang der 90er-Jahre statistisch gesicherte Zusammenhänge zwischen Mond und Pflanzenwachstum nach. Zwei bis drei Tage vor Vollmond keimten Aussaaten von Gemüse, Kräutern, Getreide und Zierpflanzen besser als zuvor, die Pflanzen wurden grösser und brachten höhere Erträge als später gesäte. Die Aussaattage der Anthroposophin Thun und der Mondkalender von Paungger beziehen sich aber nicht auf den Mond an sich, sondern auf Sternbilder. Es handelt sich genau genommen um «Pflanzenhoroskope». Der Einfluss dieser Horoskope wurde nie wissenschaftlich bestätigt und die meisten seriös angelegten Versuche scheiterten am Wetter, welches die Saat oder die Ernte zum angeblich «richtigen» Zeitpunkt vereitelte.

Masse macht Kasse
Bei vielen Mondkalendern handelt es sich nicht um altes Wissen. Thuns Feldforschung stammt aus den 1960er-Jahren. Der Kulturwissenschaftler Helmut Groschwitz wies in seiner Dissertation nach, dass Paungger zentrale Aussagen der Thunschen Aussaattage übernommen hat und als «altes tirolerisches Bauernwissen» ausgibt. Nichtsdestotrotz wurden ihre Werke in mehr als 25 Sprachen übersetzt und über 15 Millionen Mal verkauft. Paungger macht mit dem neu-alten Wissen laut eigenen Angaben mehr als eine halbe Million Euro Umsatz pro Jahr. Auch die Erben von Maria Thun werden kaum am Hungertuch nagen. Die Konstellationsforschung ist ein Millionengeschäft. Gartenbücher und -zeitschriften kommen nicht daran vorbei; gefragt sind Sternzeichen und die ihnen zugeordneten Gemüse mit möglichst genauer Zeitangabe. Genau darin liegt das Problem. Statt sich selbst ein Bild darüber zu machen, ob der Boden schon warm genug ist, um eine Aussaat zu wagen und zu prüfen, ob die Feuchtigkeit und das Wetter passen, werfen Millionen Gärtnerinnen und Gärtner lediglich einen Blick in ihren Mondkalender. Meine Schwester und ich sind vom Mond befreit. Wir säen und ernten, wenn die Saat- oder Erntebedingungen ideal sind, egal wie die Sterne stehen. Seither wächst unser Gemüse besser als zuvor. 
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Eveline Dudda ist regelmässige Gartenkolumnistin des Zeitpunkt und Autorin von «Spriessbürger», von der Deutschen Gartenbaugesellschaft als eines der fünf besten Gartenbücher 2016 bezeichnet. Es verwendet u.a. den «phänologischen Kalender», nach dem der richtige Zeitpunkt aufgrund natürlicher Erscheinungen angegeben wird. Kohlrabi pflanzen, wenn die Forsythien blühen. www.spriessbuerger.ch

 

 

29. Januar 2018
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