Was tun, wenn das Eine dafür spricht, das Andere aber dagegen? Die alten Skeptiker, die Phyrroniker, haben darauf eine überraschende Antwort: Enthalte dich einfach des Urteils – jedenfalls zunächst!

Die Pyrrhoneer, die radikalsten Skeptiker unter den alten Griechen, glaubten, wir könnten lediglich beurteilen, wie uns die Dinge erscheinen, niemals aber, wie sie wirklich sind. Vor jeden Satz solle man die Worte «Es scheint mir gerade so, dass ...» setzen. Alles andere wäre vermessen oder würde zu Widersprüchen führen. Die Behauptung «Alles ist relativ» widerlegt sich streng genommen nämlich selbst. Ist sie selbst relativ oder absolut? Wenn sie relativ ist, so verliert sie ihre Kraft. Ist sie aber absolut, dann widerspricht sie sich selbst. Solchen Fallen versuchen die Pyrrhoneer zu entgehen, indem sie lediglich berichten, wie die Dinge ihnen gerade erscheinen: «Alles scheint relativ zu sein».

Pyrrhoneer sind der Ansicht, dass jeweils gleich gute Gründe für wie gegen eine Meinung sprechen. Pro und Kontra halten sich die Waage, egal, worum es gerade geht. Ist das Weltall endlich oder unendlich? Gibt es Gott oder nicht? Kopftuch verbieten oder zulassen? Demokratie schützen oder abschaffen? In all diesen Fragen liesse sich keine gut begründete Entscheidung treffen, meinen die Pyrrhoneer. Es spreche jeweils ebenso viel für die eine wie für die andere Seite. Dieses Gleichgewicht widerstreitender Ansichten nannten sie «Isosthenie».

Wer erst einmal eingesehen habe, dass sich Pro und Kontra in jeder Frage die Waage halten, der werde sich in seinen Urteilen zurückhalten. Diese Urteilsenthaltung nennen sie «Epoché». Aus ihr folge schliesslich die Seelenruhe, die «Ataraxie». Wer sich nämlich von allen festen Meinungen befreie, der lege auch alle Sorgen, alle Empörung und allen Eifer ab. Wenn Sie unsicher sind, ob Besitz und Reichtum überhaupt erstrebenswert sind, dann werden Sie gelassen reagieren, wenn Sie ausgeraubt werden oder die Gesellschaft in eine Krise schlittert. Für Sie wird keine Welt zusammenbrechen. Wenn Sie nicht denken, dass es eine absolute Wahrheit gibt, dann werden Sie mit Andersdenkenden toleranter umgehen und auf Reisen nicht so leicht aus der Fassung zu bringen sein.

Diese distanzierte Haltung birgt allerdings nicht nur die Gefahr der Gleichgültigkeit, sie kann auch zu Entscheidungsschwierigkeiten führen. Die Pyrrhoneer haben jedoch eine Lösung für diese Probleme: Sie orientieren sich im Denken wie auch im Handeln an dem subjektiven Eindruck, den die Dinge auf Sie machen. Obwohl sich die Argumente dafür und dagegen die Waage zu halten scheinen, zieht es Sie in eine Richtung, ohne Grund – vielleicht infolge Ihrer Erziehung, Ihrer Kultur oder einfach aufgrund der momentanen Verfassung. Dieser unbegründeten Neigung geben Sie nach.

Die pyrrhonischen Skeptiker sind also der Ansicht, der Weg zur Seelenruhe führe über die Urteilsenthaltung und diese selbst folge aus dem Eindruck, dass jede Überzeugung nur so stark sei wie ihr Gegenteil. Aber wie begründen sie diese Isosthenie? Was spricht für das Gleichgewicht einander widersprechender Überzeugungen? Die Pyrrhoneer haben ein ganzes Arsenal von skeptischen Argumenten. Neben dem Trilemma der Begründung zählt das Argument von der Relativität zu den wichtigsten Zweifelsgründen. Es besagt, dass es immer mehrere Perspektiven auf eine Sache gibt. Die Dinge sehen aus anderen Blickwinkeln und in anderen Kontexten jeweils anders aus. Jedes Phänomen lässt immer mehrere Deutungen zu. Und wenn wir uns doch einmal auf eine Deutung festlegen, kann es uns passieren, dass zukünftige Generationen über uns lachen werden. Man hat einmal geglaubt, die Erde sei eine Scheibe, es gäbe Hexen, Schwarze seien minderwertig und technologischer Fortschritt mache uns glücklich. Heute glauben wir noch, Tiere seien minderwertig, Roboter könnten keine Gefühle haben und wir könnten nicht ewig leben. Mal sehen.

Zu der Relativität muss gesagt werden: Aus der Tatsache, dass Menschen unterschiedliche Ansichten haben, folgt nicht, dass es kein Richtig und Falsch gibt und alles relativ ist. Eine Seite kann richtig liegen und die andere falsch. Nehmen Sie die Frage der Gleichberechtigung der Frau. Früher hat die Mehrheit geglaubt, Frauen hätten nicht die gleichen Rechte wie Männer. Diese Leute lagen einfach falsch. Zu sagen «Aber aus ihrer Sicht war das richtig», heisst nichts weiter als zu sagen «Sie haben etwas für wahr gehalten, das falsch war». Aber: Warum können wir heute so sicher sein, dass wir recht haben? Nun, wir haben bessere Gründe für als gegen die Gleichberechtigung.

Aber was sind gute Gründe? Ist die Tatsache, dass eine Überzeugung mit dem Koran übereinstimmt, ein guter Grund für eine Überzeugung? Fundamentalisten meinen Ja. Sie vom Gegenteil zu überzeugen, erfordert Geduld, Einfühlungsvermögen und Scharfsinn. Was bräuchte es für Sie persönlich, um Sie von grundlegenden Überzeugungen abzubringen und damit Ihr Weltbild umzustürzen? Wie könnte man Sie dazu bringen, nicht mehr an die Physik und an die Menschenrechte, sondern an Voodoo-Zauber und die moralische Unbedenklichkeit von Sklaverei zu glauben? Würden Argumente reichen?

 

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Yves Bossart ist Redakteur und Moderator der Sendung «Sternstunde Philosophie» (SRF) und Autor des Buches «Ohne Heute gäbe es morgen kein Gestern. Philosophische Gedankenspiele» (Heyne Verlag 2014, CHF 23.–).

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