Ernährungssouveränität – eine Grundsatzfrage

Bei der Volksinitiative ‹Für Ernährungssouveränität – die Landwirtschaft betrifft uns alle› geht es um eine existentielle Grundsatzfrage: Wer bestimmt in Zukunft über unsere Landwirtschaft und über unsere Ernährung? Wir Schweizerinnen und Schweizer oder die internationalen Märkte beziehungsweise multinationale Lebensmittelkonzerne?

(Bild: Antoinette Caron, Pixabay)

Das Schweizer Volk will Ernährungssicherheit…

Am 24. September 2017 haben wir mit deutlicher Mehrheit (78,8%) den Bund mit dem neuen Verfassungsartikel 104 a «zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln» verpflichtet. Das zeigt, dass die grosse Mehrheit hinter unseren Bäuerinnen und Bauern steht, die die Schweiz heute noch zu 55 % mit Nahrungsmitteln versorgen können. Das das so bleiben muss, hat das wuchtige ‹Ja› zur Ernährungssicherheit gezeigt.

… jedoch der Bundesrat will Freihandel

Mit dem Art. 104 hat sich das Schweizer Volk aber auch einen Pferdefuss eingehandelt. Unter Art. 104 c. steht, dass der Bund Voraussetzungen schafft für «eine auf den Markt ausgerichtete Land- und Ernährungswirtschaft».

Hört man das Wort «Markt» haben die meisten von uns spontan den bäuerlichen Wochenmarkt vor Augen, durch den man gerne schlendert um frisches Gemüse, Früchte, Milchprodukte oder Fleisch zu posten und mit diesem oder jenem einen Schwatz zu halten. Wenn beim Bundesrat von «Markt» die Rede ist, meint er etwas ganz Anderes. Er hat den Weltmarkt vor Augen.
Nachzulesen ist das in seiner «Gesamtschau zur mittelfristigen Weiterentwicklung der Agrarpolitik» vom 1. November 2017, die er knapp 3 Monate nach der Abstimmung veröffentlicht hat. Dort schreibt der Bundesrat in den «Schlussfolgerungen»: «Unsere exportorientierte Volkswirtschaft ist ebenso wie unsere Versorgungssicherheit auf offene Märkte angewiesen. Es ist davon auszugehen, dass der Grenzschutz im Agrarbereich bei zukünftigen Freihandelsabkommen zunehmend Verhandlungsgegenstand sein wird.» Dort steht auch wie der Bundesrat in Bezug auf den «Markt» in Zukunft mit anderen Staaten verhandeln will. Er plädiert «für einen Abbau des Grenzschutzes für landwirtschaftliche Waren.» (1) Das ist nicht im Sinne des Souveräns. Wer mit einem ‹Ja› für die Ernährungssicherheit gestimmt hat, hat ganz sicher nicht das gemeint.

«Ein Affront für die Landwirtschaft»

Der Vizepräsident des Schweizerischen Bauernverbandes, Hans Frei aus Watt ZH, bezeichnete die «Gesamtschau» des Bundesrates denn auch als untauglich, als «Affront für die Landwirtschaft». (2) Die bundesrätliche Auffassung von Markt in der ‹Gesamtschau› charakterisiert Hans Frei wie folgt: «Nieder mit den Zollschranken, freie Fahrt für die Versorgung mit Nahrungsmitteln aus dem Ausland›, so lautet der bundesrätliche Tenor.» Wird der Grenzschutz für landwirtschaftliche Güter abgebaut, werden die Folgen katastrophal sein: «Noch mehr Bauernhofsterben dank Freihandel (…) Der ‹Strukturwandel› in der Schweizer Landwirtschaft, d.h. immer weniger und immer grössere Betriebe, soll merklich beschleunigt werden. (…) und Aussteiger sollen milliardenschwer ‹ausfinanziert› werden. Das alles ist im bundesrätlichen Papier nachzulesen. (…) Der Souverän wird ignoriert», so das Fazit des Vizepräsidenten des Schweizer Bauernverbandes. Damit hat er nicht nur mir aus der Seele gesprochen.

Mit der Ernährungssouveränität die bundesrätliche Ausrichtung auf den Weltmarkt korrigieren

Ein ‹Ja› zur Ernährungssouveränität am 24. September kann der bundesrätlichen Freihandelspolitik einen dicken Strich durch die Rechnung machen. Im neuen Verfassungsartikel ist der Schutzzoll als Aufgabe des Bundes explizit festgelegt. Dort heisst es:
«Zum Erhalt und zur Förderung der einheimischen Produktion erhebt er (der Bund d.V.) Zölle auf der Einfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln und reguliert deren Einfuhrmenge.» Und weiter: «Zur Förderung einer Produktion unter sozialen und ökologischen Bedingungen, die den schweizerischen Normen entsprechen, erhebt er Zölle auf der Einfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln, die diesen Normen nicht entsprechen; er kann deren Einfuhr verbieten.»

Der Grenzschutz ist jedoch nur ein Punkt in der Initiative. Von den weiteren Punkten seien einige hier angefügt. So soll der Bund dazu verpflichtet werden «eine einheimische bäuerliche Landwirtschaft» zu fördern und auf «eine Versorgung mit überwiegend einheimischen Lebens- und Futtermitteln» zu achten. Der Bund hat «wirksame Massnahmen» zu treffen, um die «Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Personen» zu erhöhen, «die Strukturvielfalt zu fördern», die Kulturflächen zu erhalten, «den Bäuerinnen und Bauern das Recht auf Nutzung, Vermehrung, Austausch und Vermarktung von Saatgut zu gewährleisten».
Zudem soll in der Landwirtschaft der «Einsatz genetisch veränderter Organismen» und gentechnisch erzeugter Pflanzen und Tiere verboten werden. Auch soll der Bund darauf hinwirken, «dass in allen Produktionszweigen und -ketten gerechte Preise festgelegt werden.» «Er stärkt den direkten Handel zwischen Bäuerinnen und Bauern und den Konsumenten und Konsumentinnen sowie die regionalen Verarbeitungs-, Lagerungs- und Vermarktungsstrukturen.»

Ernährungssouveränität ist keine Abschottung der Schweiz

BDP, CVP, FDP, SVP und die Wirtschaftsverbände bekämpfen die Volksinitiative für Ernährungssouveränität. Diese führe einseitig Zölle ein und gefährde damit das Abkommen mit der Welthandelsorganisation WTO sowie ein zukünftiges Agrarabkommen. Die BDP spricht gar von einer «Abschottung der Schweiz».

Wenn sich das Schweizer Volk am 23. September dafür entscheidet, über seine Landwirtschaft und Ernährung selber zu bestimmen, hat das nichts zu tun mit ‹Abschottung› oder ‹Planwirtschaft›‹ wie es die Gegner dem Stimmvolk mit dem Begriff ‹Sowjetisierung› suggerieren wollen.

Das Ziel der Ernährungssouveränität ist unsere Versorgung mit einheimischen Lebensmitteln durch unsere Bäuerinnen und Bauern zu gewährleisten und diesen auch in Zukunft ihre Existenz zu sichern. Es geht um den Fortbestand und den Schutz unserer bäuerlichen Landwirtschaft, die diese bitter nötig hat. Es muss Schluss sein damit, dass jeden Tag drei Bauernbetriebe aufgeben. In bäuerlichen Familienbetrieben sorgen unzählige fleissige Hände dafür, dass wir jeden Tag gesunde, einheimische Lebensmittel in unserem Laden oder auf dem lokalen Markt haben.
So schafft unsere Landwirtschaft unsere Lebensgrundlage. Wir wollen ihr Sorge tragen.

Weitere Informationen: https://ernahrungssouveranitat.ch

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Pressekonferenz der Allianz für Ernährungssouveränität

Am 13. August hat die Allianz für Ernährungssouveränität in Bern mit Referentinnen aus dem Welschland, dem Tessin und der Deutschschweiz die Volksinitiative der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Bäuerin Ulrike Minkner äusserte ihre Sorgen wegen der Landwirtschaft wie folgt: «Die bäuerliche Landwirtschaft hier in der Schweiz, aber auch in Europa und den Ländern des Südens wird nach und nach zerstört. Wir warten nicht länger auf die Lösungen des Bundes, sondern wir fordern Ernährungssouveränität. Wir wollen keine Lebensmittelimporte mehr, die anderswo ökologische Katastrophen auslösen oder unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen hergestellt werden.» Amanda Ioset von Solidarité sans frontières wies auf die Freihandelsabkommen mit den Ländern des Südens hin, die dort die kleinbäuerlichen Strukturen und damit die Volkswirtschaften zerstörten und so für die heutige Migrationsbewegung in den Norden mit verantwortlich sind. Sylvie Bonvin, Bäuerin und Parlamentarierin erklärte: «Es geht nicht darum, den globalisierten Agrar- und Nahrungsmittelhandel abzuschaffen. Doch es geht zum Beispiel darum, basierend auf den Bedürfnissen von allen, diesen Handel besser zu verwalten und so die landwirtschaftlichen und natürlichen Möglichkeiten der Regionen besser zu nutzen.» Lea Ferrari aus dem Vallée di Blenio berichtete von der schwierigen Lage der Bergbauern im Tal, für die ein ‹Ja› zur Initiative eine wichtige Unterstützung für die weitere Bewirtschaftung unter anderem auch der Alpen bedeuten würde. «Soutenir l›initiative pour la souveraineté alimentaire signifie donner une chance commerciale à la production lokale des régions suburbaines, ou il existe des recettes et des pratiques traditionelles, les saveurs et l›authenticité caractéristique qui peuvent constituer une alimentation saine pour la population suisse.» Tamara Funicello, Präsidentin der Jungsozialisten betonte das Recht jedes Volkes über seine Landwirtschaft und seine Ernährung selber zu bestimmen. «Die Ernährung, so wie die Bildung, die Energie usw müssen als öffentliche Güter (bien public) betrachtet werden.» Das Einstehen der mittleren und jungen Generation für unser Landwirtschaft und für unsere Ernährung an dieser Pressekonferenz war beeindruckend.

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Quellen:

1:  Der Bundesrat, Gesamtschau zur mittelfristigen Weiterentwicklung der Agrarpolitik, 1. November 2017, S. 80.

2:  Hans Frei, zitiert in: Schweizerzeit vom 24. November 2017, S. 12.

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Initiativtext

Die Bundesverfassung wird wie folgt ergänzt:
Art. 104c Ernährungssouveränität
1 Zur Umsetzung der Ernährungssouveränität fördert der Bund eine einheimische bäuerliche Landwirtschaft, die einträglich und vielfältig ist, gesunde Lebensmittel produziert und den gesellschaftlichen und ökologischen Erwartungen der Bevölkerung gerecht wird.
2 Er achtet auf eine Versorgung mit überwiegend einheimischen Lebens- und Futtermitteln und darauf, dass bei deren Produktion die natürlichen Ressourcen geschont werden.
3 Er trifft wirksame Massnahmen mit dem Ziel:
a. die Erhöhung der Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Personen und die Strukturvielfalt zu fördern;
b. die Kulturflächen, namentlich die Fruchtfolgeflächen, zu erhalten, und zwar sowohl in Bezug auf ihren Umfang als auch auf ihre Qualität;
c. den Bäuerinnen und Bauern das Recht auf Nutzung, Vermehrung, Austausch und Vermarktung von Saatgut zu gewährleisten.
4 Er verbietet in der Landwirtschaft den Einsatz genetisch veränderter Organismen sowie von Pflanzen und Tieren, die mithilfe von neuen Technologien entstanden sind, mit denen das Genom auf nicht natürliche Weise verändert oder neu zusammengesetzt wird.
5 Er nimmt namentlich folgende Aufgaben wahr:
a. Er unterstützt die Schaffung bäuerlicher Organisationen, die darauf ausgerichtet sind sicherzustellen, dass das Angebot von Seiten der Bäuerinnen und Bauern und die Bedürfnisse der Bevölkerung aufeinander abgestimmt sind.
b. Er gewährleistet die Transparenz auf dem Markt und wirkt darauf hin, dass in allen Produktionszweigen und -ketten gerechte Preise festgelegt werden.
c. Er stärkt den direkten Handel zwischen den Bäuerinnen und Bauern und den Konsumentinnen und Konsumenten sowie die regionalen Verarbeitungs-, Lagerungs- und Vermarktungsstrukturen.
6 Er richtet ein besonderes Augenmerk auf die Arbeitsbedingungen der in der Landwirtschaft Angestellten und achtet darauf, dass diese Bedingungen schweizweit einheitlich sind.
7 Zum Erhalt und zur Förderung der einheimischen Produktion erhebt er Zölle auf der Einfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln und reguliert deren Einfuhrmenge.
8 Zur Förderung einer Produktion unter sozialen und ökologischen Bedingungen, die den schweizerischen Normen entsprechen, erhebt er Zölle auf der Einfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln, die diesen Normen nicht entsprechen; er kann deren Einfuhr verbieten.
9 Er richtet keinerlei Subventionen aus für die Ausfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und von Lebensmitteln.
10 Er stellt die Information über die Bedingungen für die Produktion und die Verarbeitung von einheimischen und von eingeführten Lebensmitteln und die entsprechende Sensibilisierung sicher. Er kann unabhängig von internationalen Normen eigene Qualitätsnormen festlegen.
 
Art. 197 Ziff. 12
12. Übergangsbestimmung zu Art. 104c (Ernährungssouveränität)
Der Bundesrat unterbreitet der Bundesversammlung die gesetzlichen Bestimmungen, die für die Umsetzung von Artikel 104c erforderlich sind, spätestens zwei Jahre nach dessen Annahme durch Volk und Stände.

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Dr. Ariet Güttinger hat Psychologie, Geschichte und Pädagogik studiert und arbeitet an einer Sonderschule. Daneben befasst sie sich mit den Themen Neoliberalismus und Freihandelsverträge, die vor allem in den Ländern des Südens die kleinbäuerliche Landwirtschaft bis heute schädigen und zerstören. Sie engagiert sich u.a. für die Volksinitiative für Ernährungssouveränität.