Fleisch ohne Seele

Fleisch ohne Tier – das wird derzeit von verschiedensten Akteuren wild erprobt. Doch wie zukunftsfähig ist künstlich erzeugtes Fleisch?

Die Massentierhaltung wird verschwinden! Das behauptet der wohl bekannteste deutsche Philosoph Richard David Precht in seinem neuen Buch «Tiere denken». Er gibt sich optimistisch: «Vielleicht nicht in zehn, aber gewiss in zwanzig Jahren wird von der Massentierhaltung in Deutschland keine Rede mehr sein.» Nicht etwa weil Tierschützerinnen ihren Kampf gegen die Tierquälerei gewonnen hätten, auch nicht weil die Regierung Biohöfe stärker subventioniert. Im Gegenteil: «Subventionen kaschieren nur das Elend, weil sie einen Ausweg vorgaukeln, der keiner ist.» Der Grund sei ein anderer, und er ist technischer Natur. Precht beschwört das Fleisch aus dem Labor.

Erstmals rückte das Laborfleisch 2013 in die breite Öffentlichkeit. Damals präsentierte der niederländische Physiologe Mark Post der Welt vor laufender Kamera den ersten Labor-Burger. Noch fehlte ihm das Fett, doch die beiden geladenen Food-Kritiker waren sich einig: das ist Fleisch. Die Forschenden hatten den Burger aus Stammzellen von Rindern im Reagenzglas gezüchtet und ihn mühsam von Hand zusammengebastelt. Das aufwendige Vorhaben kostete stolze 250.000 Dollar. Dank Innovationen soll der Preis unterdessen auf einen Bruchteil gefallen sein. Entsprechend ist Post noch optimistischer als Precht: Er rechnet mit der Marktreife im höheren Preissegment in drei bis vier Jahren. Wenige Jahre später würden auch die Massen in den Genuss von «kultiviertem Fleisch» kommen, wie Post es nennt.

Unterdessen verfolgen weltweit zahlreiche Akteure das Ziel, die Menschheit mit künstlichem Fleisch zu versorgen. Und damit die Welt zu retten. Denn die Bevölkerung wächst stetig und mit ihr wächst auch der Fleischkonsum. Fleisch aus Massentierhaltung, so der Tenor, könnten wir uns in Zukunft schlicht nicht mehr leisten.

Dem Fleisch haftet noch immer unsere Überlegenheit über andere Spezies an.

Als Branchenführer gilt das kalifornische Start-up «Memphis Meats», das sich auf Hühner- und Entenfleisch spezialisiert hat. Es sorgte anfangs 2017 für Furore, als es weltweit zum ersten Mal ein Chicken Nugget aus dem Reagenzglas präsentierte. Memphis Meats rechnet mit der Marktreife bis Ende 2018. Im Silicon-Valley sind Stammzellen die neuen Computerchips, längst verschmelzen Technik und Ernährung. Fleisch aus Massentierhaltung war gestern, die Zukunft gehört clean meat so die Überzeugung der Entwickler. Dabei variieren die  Methoden im Labor. Manche züchten die Fleischzellen in einer speziellen Nährlösung auf essbaren Gerüsten. Andere setzen auf spezielle 3D-Drucker für biologische Substanzen, sogenannte Bioprinter.
Sie alle versuchen sich mit den Prognosen zur Marktreife ständig zu unterbieten. Den österreichischen Lebensmittelwissenschaftler und Forscher zur Nahrungszukunft Kurt Schmidinger erstaunt das nicht. «Je optimistischer man auftritt und je kürzer der Zeithorizont bis zur Marktreife kommuniziert wird, umso attraktiver wird man für Investoren.» Wer zuerst den Durchbruch schafft, dem winkt das grosse Geld. Doch Schmidinger warnt vor zu grossen Erwartungen: «Ein Steak wird es in den nächsten Jahren noch nicht geben, verarbeitetes Fleisch wie Burger oder Nuggets hingegen schon.» Die Frage sei nur, ob zu einem konkurrenzfähigen Preis.

Doch nicht nur die Technik ist anspruchsvoll, auch die Konsumenten. Werden sie das «Frankenstein-Fleisch», das «Fleisch ohne Seele» goutieren? «Die Stigmatisierung als ‹unnatürliches› Produkt wird in der Gesellschaft anfangs massiv sein», vermutet Schmidinger. Auch könnten die Zulassungsregelungen in gewissen Ländern schwierig werden. Jedoch hält er beide Hürden für überwindbar, sofern die Vorteile von Clean Meat richtig kommuniziert werden: geringerer Ressourcenverbrauch, Vermeidung von Tierleid und gesundheitliche Gewinne. So wäre es im Labor leicht möglich, einerseits Cholesterin und gesättigte Fettsäuren im Fleisch zu reduzieren und andererseits gewisse Vitamine oder Omega-3-Fettsäuren zu erhöhen.
Der Physiologe Mark Post sieht beim Laborfleisch noch ein anderes Potential: Die Ernährung befriedige nicht nur unsere physiologischen Bedürfnisse, sondern könne mitunter zum Status werden, erklärte er an der Konferenz «The End of Meat» anfangs 2017 in Berlin: «Fleisch gilt als Männersache, etwas Aggressives, eine Machtdemonstration.» Dem Fleisch hafte immer noch unsere Überlegenheit über andere Spezies an. «Kultiviertes Fleisch gilt hingegen als Produkt für Feiglinge», so Post augenzwinkernd. Wenn die machohafte Aura des Fleisches verschwinde, würde das den Weg hin zu einer pflanzlichen Ernährung vereinfachen.

Nun kommt auch die Fleischindustrie auf den Geschmack von Laborfleisch. Anfang 2017 stieg Tyson Foods in das Geschäft ein, einer der grössten Fleischfachverarbeiter weltweit, und sicherte sich einen Anteil von fünf Prozent beim amerikanischen Start-up «Beyond Meat». Gegenüber Fox News begründet der CEO von Tyson Foods die überraschende Investition mit veränderten Konsumbedürfnissen. «Derzeit wächst die Nachfrage nach pflanzlichem Protein und ich glaube, dass dies so bleiben wird.»
Dem kann sich auch die Schweizer Fleischindustrie nicht entziehen. «Das Thema Laborfleisch verfolgen wir mit Interesse und schliessen künftige Aktivitäten in diesem Gebiet nicht kategorisch aus», sagt Fabian Vetsch, Mediensprecher des Coop-Schlachthauses Bell. Ähnlich klingt es bei Migros’ Micarna. Man nehme derzeit eine Beobachterrolle ein. «Investitionen werden wir erst in Betracht ziehen, wenn die Produktion von Laborfleisch praxistauglicher ist», sagt Roland Pfister, Medienchef bei Micarna. Er betrachte es aber durchaus künftig als mögliche Ergänzung.

Die Stigmatisierung als ‹unnatürliches› Produkt wird in der Gesellschaft anfangs massiv sein.

Ähnlich sieht es Raphael Neuburger, Präsident der Veganen Gesellschaft Schweiz, wenn auch mit anderen Vorzeichen. «Fleisch aus dem Labor schätzen wir als zukunftsträchtige Alternative ein», sagt Neuburger. Anders als die Fleischindustrie sieht er Laborfleisch als Ergänzung zu pflanzlichen Produkten. Nicht alle wären nämlich bereit, ihre Ernährungsgewohnheiten zu ändern. Er begrüsst daher die Absicht der Fleischindustrie, in Laborfleisch zu investieren. Doch sollen diese Entwicklungen von den Vegan- und Tierorganisationen kritisch begleitet werden.

Denn bei allem Optimismus müssen die Laborfleisch-Visionen früher oder später an der ökonomischen und politischen Realität gemessen werden. Offen bleibt, wie die Agrarlobby darauf reagieren wird, die in vielen Industrienationen politisch besonderes Gewicht hat. Ein möglicher Streitpunkt werden die Agrarsubventionen sein. Solange die Steuergelder weiterhin in grosse und intensive Betriebe fliessen, wird sich an den landwirtschaftlichen Strukturen wenig ändern.
Auch Richard David Precht ist sich bewusst, dass philosophische Spekulationen vom Elfenbeinturm herunter wenig bringen. «Ethik entsteht nicht im zeitlos luftleeren Raum, sondern im Zusammenspiel mit ökonomischen und kulturellen Bedingungen.» Und doch bleibt Precht, wie die Forschergemeinde, eine Antwort schuldig, wie Laborfleisch politisch begleitet werden soll. Die Wirtschaft wird es richten, so das Credo.

Sollte das künstliche Steak tatsächlich kurz vor dem Durchbruch stehen, bedeutet das für die Gesellschaft eine doppelte Verantwortung. Als Konsumenten können wir das neue Fleisch kaufen und damit eine Nachfrage generieren. Als Bürger können wir von unserem Stimm- und Wahlrecht Gebrauch machen. So, dass die Massentierhaltung vielleicht tatsächlich bald der Vergangenheit angehört.