Grosse Visionen auf kleinem Raum

In Berlin entwickelt der Architekt Van Bo Le-Mentzel winzige, aber komfortable Gebäude, in denen auch Obdachlose und Geflüchtete in besten Innenstadtlagen leben können.

Die Kurse bei Le-Mentzel sollen den Studierenden bald auch Kredit-Punkte geben.

In der Nähe des Berliner Tiergartens, in direkter Nachbarschaft der CDU-Parteizentrale und vor dem Bauhaus-Museum, steht das kleinste Dorf der Stadt: eine Siedlung mit dreizehn Holzhäusern, die meisten auf Chassis montiert und jeweils mit einer Grundfläche von weniger als zehn Quadratmetern. Sie gehören zum Campus der Tinyhouse-University (TU), eine Lehr- und Forschungsstätte für eine zukunftsfähige Stadtgestaltung, die der Berliner Architekt Van Bo Le-Mentzel im vergangenen März ins Leben gerufen hat. Es ist das Vorzeige-Beispiel seiner Vision: erschwinglicher Wohnraum für alle zu erschaffen.

6,4 Quadratmeter genügen
Gerade sitzt er in einem der Häuser, das ihm als Büro dient, und telefoniert. Auf dem Bildschirm ist die neuste Kreation des 40-Jährigen zu sehen: Der «Tiny Temple» – ein kombiniertes Klo- und Wohnhaus, das später auf Festivals eingesetzt werden soll. Angedeutete Säulen und eine Attika geben dem Gebäude ein antikisiertes Aussehen. «Drei oder vier Pissoirs?», will der Handwerker wissen, der ein paar Kilometer entfernt das 30 000-Euro-Gebäude Realität werden lässt. Le-Mentzel diskutiert die Masse und überlässt schliesslich ihm die Entscheidung.
Le-Mentzel ist als Kind mit seinen Eltern aus Laos geflohen, wurde in Berlin erst Rapper und dann Architekt. 2011 erlangte er mit der Entwicklung von Hartz-IV-Designermöbeln zum Selberbauen erstmals Bekanntheit, zwei Jahre später mit den Turnschuhen Karma-Chakhs, die er selbst in Asien fair produzieren liess und kürzlich machte sein «Tiny100» in den Medien die Runde: Auf nur 6,4 m² bietet es Küchenzeile, Bett, Schreibtisch, Sofa, Toilette und Dusche. Geplante Mietkosten: 100 Euro. Es war eines der ersten Wohnmodelle, das er entwickelte. Nachdem es lange am Landwehrkanal zum Probewohnen stand, wird es gegenwärtig vom Facility-Manager des Campus bewohnt – einem ehemaligen Obdachlosen.

Einige Menschen bezeichnen Van Bo Le-Mentzel als Weltverbesserer. Er selbst sieht sich eher als «eine Art Politiker». Jedenfalls tritt er als Überzeugungstäter auf, der mit seiner neugierigen und wohlwollenden Art die Menschen für sich gewinnt. Fast immer geht es im Gespräch mit ihm um Grundsätzliches: «Warum bezeichnet man jemanden, der von Libyen nach Italien kommt als Migranten, nicht aber einen Schwaben, der nach Berlin oder in die Schweiz zieht?» Die Ortsveränderung sei nicht entscheidend, schlussfolgert er, sondern der erlaubte oder beschränkte Zugang. Das alles müsse neu diskutiert werden, schliesslich sei die Welt in Bewegung. Dabei gäbe es nicht nur immer mehr Geflüchtete, sondern auch junge Menschen drängen in die Metropolen und wollen oft nur eine beschränkte Zeit bleiben.

«Stadtplaner, Architekten und Juristen aber haben keine Ideen, wie sie mit diesen Veränderungen umgehen sollen», findet Le-Mentzel. Für ihn ist klar, dass die notwendige Umgestaltung der Innenstädte nicht einfach den Immobilienmaklern überlassen werden darf. Deshalb will er ganz praktisch dazu beitragen, dass auch Menschen mit wenig Geld eine würdige Bleibe in besten Innenstadtlagen finden können. So ist die Tinyhouse University auf dem Bauhaus Campus Berlin ein Lern- und Forschungsort im umfassenden Sinne. Neben den Workshops und Planungsarbeiten bietet die Siedlung auch Menschen ein Zuhause, die vorher in Parks oder Flüchtlingsunterkünften übernachtet haben. Die meisten Häuser haben zwei Zugangsmöglichkeiten, so dass sich die Nutzenden möglichst wenig gegenseitig stören.

Reis als Teilnahmegebühr
An den Workshops, die jeweils Donnerstags an der TU stattfinden, können sich Interessierte informieren und selbst erste Baupläne entwerfen. Als Gebühr sei ein Paket Reis zu entrichten, erfahren sie mit der Anmeldung. Heute haben sich neun Leute eingefunden – sie kommen aus der ganzen Welt. Ein Paar aus Chile hat schon konkrete Bauabsichten, auch eine Frau mit süddeutschem Akzent ist wild entschlossen. Nach einer Besichtigung des Campus sammelt sich das Grüppchen um einen grossen Tisch. Le-Mentzel fordert alle auf, auf Karopapier ihr 2,5 mal 4 Meter grosses Traumhaus zu zeichnen. Binnen weniger Minuten entstehen Pläne, die auch Badewannen, Freiflächen zum Tanzen und vorgebaute Terrassen vorsehen. Le-Mentzel erklärt, wie Treppen und Fenster in architektonische Pläne eingezeichnet werden und gibt Tipps, was die Phantasie zu einer interessanten Raumgestaltung anregt. Am Schluss stellen die Teilnehmer ihren Reis in einen frei zugänglichen Schrank, aus dem sich jeder Passant bedienen kann; in ganz Berlin existieren inzwischen über 20 solcher Essensverteilpunkte.

Alle Pläne sind open source
Fast jede Woche entwickelt Le-Mentzel ein neues Winzlingshaus. Selbstverständlich sind alle seine Baupläne open sources: Wer will, kann sie einfach herunterladen und den eigenen Wünschen und Bedürfnissen anpassen. «Es ist oft nicht so wichtig, wie viel Platz da ist. Worauf es ankommt ist, dass jeder Mensch einen Ort hat, an den er sich zurückziehen kann und dass ihm beim Kochen niemand reinredet», sagt Le-Mentzel, der selbst mit Frau und zwei Kindern in einer 2-Zimmer-Wohnung lebt.

Van Bo Le-Mentzel selbst lebt mit Frau und zwei Kindern in einer Zweizimmerwohnung.  (Bild: zvg

«Autos haben praktisch immer eine Green Card und bekommen überall zehn Quadratmeter in bester Lage», sagt Le-Mentzel und überträgt dieses Vorrecht auf die rollenden Häuser. Jedes Chassis hat ein Nummernschild, Höhen und Breiten sind aufs Strassenrecht abgestimmt. Auch das Ordnungsamt kann nichts sagen, wenn ein solches Fahrzeug zwei Wochen lang auf einem Parkplatz steht und faktisch jemand darin lebt. Offiziell wohnen darf man auf diese Weise nach deutschem Recht allerdings nicht: Dazu bedarf es unter anderem einer festen Adresse und einer genehmigten Wasser- und Abwasserentsorgung. Genau über solche Vorschriften will Le-Mentzel eine Diskussion anzetteln und die Möglichkeitsräume durch konkrete Erfahrungen ausdehnen.

Weniger Platz – mehr selbstbestimmte Zeit
Auf dem Campus spendiert das Bauhaus-Museum den Strom. Dell hat den Bildschirm in Le-Mentzels Büro gesponsort, Ikea 60 000 Euro für den Bau von zwei Gebäuden zur Verfügung gestellt. Doch es kommt auch vor, dass ihm ein Unbekannter 500 Euro in die Hand drückt. «Ich habe viel Geld bekommen von Leuten, die ich nicht kenne und denen ich nichts zurückgebe», sagt er – und nennt das Karma-Ökonomie.

Die Bewegung rund um die Tiny-Häuser hat inzwischen viele Fans. Richtig Auftrieb bekam sie vor etwa zehn Jahren in den USA, als viele ihre Häuser durch die Finanz- und Wirtschaftskrise verloren. Manche entdeckten schnell die Vorteile der neuen Bleibe: Nicht nur die Anfangsinvestition ist viel kleiner und vermeidet eine schwere, oft Jahrzehnte währende Schuldenlast. Auch die Heizkosten sind niedriger. Der Mangel an Stauraum führt ausserdem dazu, weniger Krempel anzuhäufen und stattdessen sehr bewusst einzukaufen. Alles zusammen bewirkt deutlich niedrigere Lebenshaltungskosten und eröffnet die Chance auf viel mehr selbstbestimmte Zeit.
Mittlerweile ist der Campus nach Wittenbeerg umgezogen, wo bereits Workshops für den Selbstbau von 5000-Euro-Häusern geplant sind. Auch ein offizielles Modul der Hamburger Universität soll hier stattfinden; die Teilnahme beschert den Studierenden immerhin fünf Credit-Punkte. Offenbar kommt langsam auch in etablierten akademischen Institutionen an, dass die Gegenwart grundlegend neue Fragen stellt.         
Infos: www.bauhauscampus.org

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