Die logische Fortsetzung

Im August blockierten Aktivisten den Basler Ölhafen in Birsfelden. Nur wenige Kilometer entfernt, verhinderten 1975 über 15 000 Menschen den Bau des geplanten Atomkraftwerks Kaiseraugst. Klimaschutz ist die logische Fortsetzung der Anti-Atom-Bewegung, sagt der Umweltaktivist Martin Vosseler im Gespräch mit Olivier Christe.

Msrtin Vosseler auf dem Solarboot, mit dem er den Atlantik überquerte. (Bild: zvg)

Olivier Christe: Herr Vosseler, Sie sagen, der Klimaschutz sei die logische Fortsetzung der Anti-Atom-Bewegung. Worauf stützen Sie diese Behauptung?

Martin Vosseler: Es geht zum zweiten Mal um eine existentielle Bedrohung, ausgelöst durch die Energiefrage. Nur eine Reduktion des Verbrauchs und die Umstellung auf alternative Energiequellen können Abhilfe schaffen. Klimaschutz und Anti-Atom sind zwei Seiten derselben Medaille.

Das AKW Kaiseraugst wurde verhindert, die Schweizer Atompolitik nicht. Hält man sich nicht mit Nebensächlichkeiten auf?

Der Moment damals war ergreifend. Nach elf Wochen Geländebesetzung wurde das Projekt auf unbestimmte Zeit verschoben und 13 Jahre später aufgegeben. In erster Linie wegen den Protesten. Das Fazit: Die Aktion war erfolgreich, weil sich so viele engagiert haben. Und wir sind noch immer viele. Es braucht tausende Initiativen, die zusammenwirken, um schliesslich den nötigen Wandel auszulösen.

Aber dieser Wandel hat weder in der Atompolitik noch im Klimawandel stattgefunden. Nach wie vor sind Atomstrom und Energie aus fossilen Brennstoffen die wichtigsten Energiequellen der Welt. Weshalb glauben Sie daran, dass sich daran etwas ändert?

Weil wir müssen, wenn wir weiterhin die Erde bewohnen wollen! Und es stimmt nicht, dass sich nichts verändert hat. Heute haben wir Voraussetzungen, von denen wir damals nur träumen konnten. Ich meine vor allem das Pariser Abkommen von 2015 und die «Enzyclica Laudato si» von Papst Franziskus. Sie müssen sich dessen bewusst werden: Zwei der mächtigsten Institutionen der Gegenwart, die Staatengemeinschaft und die katholische Kirche, haben sich zum Klimaschutz bekannt. Sie können nun sagen, das seien schöne Worte ohne Folgen. Aber das Pariser Abkommen ist rechtlich bindend, und die Worte des Papstes sind es auch in ähnlicher Weise für Millionen von Menschen. Es gibt Momente, in denen man das Gefühl hat, nicht vorwärts zu kommen. Aber das stimmt nicht.

Weil der Stein so heiss ist und die Tropfen darauf verdampfen. Der CO2-Ausstoss nimmt jedes Jahr bedeutend zu.

Es bringt nichts zu jammern. Wir müssen weiter Tropfen darauf giessen. Nur viel Wasser kann den Stein abkühlen. Kühlwasser sozusagen. Zurück zur Sache: 1993 habe ich gemeinsam mit Bruno Manser gegen die Einfuhr von Tropenholz gefastet. Viele haben die Art der Aktion nicht verstanden, belächelt; aber die Öffentlichkeit begann sich Tag für Tag mehr für uns zu interessieren. Nach 42 Tagen habe ich mit Fasten aufgehört, Bruno hielt 18 weitere Tage durch. Das politische Ziel, den Importstopp von Tropenholz aus Sarawak in die Schweiz, haben wir zwar nicht erreicht; aber die Grossverteiler Migros, Coop und Jumbo nahmen Tropenholzprodukte aus den Regalen, und über 700 Schweizer Gemeinden verpflichteten sich, bei öffentlichen Bauten auf Tropenholz zu verzichten. Jeder Besenstiel wurde plötzlich umgedreht. Es wird immer jene geben, die mit dem Status quo ihr Handeln rechtfertigen und das der «Umdenker» diskreditieren wollen. Aber davon darf man sich nicht verunsichern lassen.»

Und wie schafft man das?

Einerseits durch das Wissen um die Sache. Wer die Sicherung der Lebensgrundlagen als oberste Priorität erkennt, kann nicht anders, als diese verhöhnenden Stimmen zu ignorieren. Andererseits durch Kontakte. Wer sich engagiert, knüpft Kontakte. Ich war von 1980 bis 1982 Arzt in Boston. Damals erklärte der neu gewählte US-Präsident Reagan, die USA könne einen Atomkrieg führen und gewinnen. Ich kam in Kontakt mit der wachsenden Ärztebewegung PSR/IPPNW (Physicians for Social Responsibility / International Physicians for the Prevention of Nuclear War) und initiierte 1981 die Schweizer Sektion. Zu Beginn waren wir in Boston weniger als 100 Ärzte aus 14 Ländern, fünf Jahre später weltweit über 100 000 aus 86 Nationen. 1985 erhielt die Organisation den Friedensnobelpreis. Eine Folgeorganisation war die Sun21, die jährlich einen internationalen Kongress zur Förderung der nachhaltigen Energiezukunft durchführte und über die ich Menschen wie Al Gore, Michail Gorbatschow oder Bertrand Piccard kennengelernt habe. Gore kam kurz nach der Wahlniederlage nach Basel. Die Niederlage war natürlich eine Katastrophe, für ihn wie für mich, aber durch die Gespräche konnte ich besser damit umgehen.

Die Vernetzung mit Gleichgesinnten führt also zum Durchhalten. Aber heute ist es aufgrund der benutzeroptimierten Digitalität einfacher denn je, sich in einer Blase zu befinden und zu glauben, dass die Welt sich nach seinen Vorstellungen entwickle. Man umringt sich mit Gleichgesinnten. Wie kann man garantieren, dass man nicht in dieser Blase versinkt?

Das kann man nicht. Aber wenn man öffentlich für eine Sache einsteht, dann kommen die Personen, die anderer Meinung sind, von selbst und sagen das auch. Darüber würde ich mir nicht allzu grosse Sorgen machen. Bedeutender scheint mir etwas anderes: Ich führte neben meinem Aktivismus lange Zeit eine Arztpraxis. Zu meinen Patienten gehörten viele aktivistische Freunde, und nicht wenige kamen mit Burnout-Syndromen. Das gilt es zu verhindern, man muss dabei gesund bleiben.»

Und wie geht das?

Erstens ein Engagement wählen, das uns begeistert, das etwas mit uns selber und unseren Begabungen zu tun hat. Ich wandere gerne, also gehe ich in diesem Jahr von Sizilien nach Beznau und berichte auf unterschiedlichen Kanälen über diesen Marsch gegen das Atomkraftwerk. Zweitens Freundschaften pflegen, mit denen wir uns nähren und unterstützen können, und drittens Sport, gesunde Ernährung und Erholung.

Aktivismus kann aber auch genau das Gegenteil bedeuten. Durch die Möglichkeiten der digitalen Überwachung ist die Gefahr vor strafrechtlichen Folgen heute viel höher als früher. Was raten Sie in dieser Hinsicht?

Nicht jeder kann sich erlauben, strafrechtlich belangt zu werden. Jeder muss wählen, wie radikal sein Engagement ist und welche Konsequenzen er in Kauf nehmen kann.  Als selbständig erwerbender Arzt war ich da weitgehend unabhängig. Doch psychisch bin ich sehr betroffen. Bei mir führte das zum Auswendiglernen von Gedichten. Fast alle meine Vorbilder waren im Gefängnis, und so habe ich entsprechende Vorkehrungen getroffen. Die Gedichte kann mir im Gefängnis niemand nehmen.

Sie sagen, dass sie einen Fortschritt sehen. Wie unterscheidet sich Aktivismus heute von dem von 1975?

Auf der einen Seite wenig: Es wird niemand kommen, kein Politiker, kein Messias, der alles in die Hand nimmt. Es geht nach wie vor um Handlungswille und öffentlichen Druck. Auf der anderen Seite unterscheidet er sich heute grundsätzlich: Es geht darum, die Grundlagen, die heute wie gesagt vorhanden sind, durchzusetzen. Das machen zum Beispiel die Klimaseniorinnen mit ihrer Klage, die noch immer vor dem Bundesverwaltungsgericht hängig ist, das macht die Gletscherinitiative, die nächstes Jahr vors Volk kommt, und das haben auch die Aktivisten auf dem Basler Ölhafen gemacht.
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Martin Vosseler ist Arzt und Umweltaktivist und setzt sich in Worten und Taten für Erneuerbare Energien ein. Bekannt wurde er mit seinen Friedenswanderungen und der Erstüberquerung des Atlantik im Solarboot. www.martinvosseler.ch

20. November 2018
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