Ehe oder eher nicht?

Ist die zivilrechtliche Ehe überhaupt noch sinnvoll? Das Ehebündnis ist seit der Neuzeit vorrangig romantischer Natur. Als Wirtschaftsbündnisse sind Intimbeziehungen wohl weit weniger stabil als Care-Gemeinschaften.

Illustration: Aditi Desai

Die Idee, es gäbe richtige oder verwerfliche Beziehungsmodelle, ist verknüpft mit moralischen Annahmen, die sich mit der Zeit ändern. So war die Ehe vor der Neuzeit explizit keine erotische Angelegenheit, sondern eine wirtschaftliche. Andrea Büchler, Privatrechtlerin an der Uni Zürich, betont, dass die Ehe im 19. Jahrhundert Kinder legitimiert und ein Geschlechter-Arrangement mit einer bestimmten Aufgaben- und Machtverteilung hervorgebracht hat. Da diese Funktionen überflüssig wurden, hat die Ehe Büchler zufolge keine besondere Stellung mehr verdient.

Da nicht alle in eheähnlichen Verhältnissen leben wollen und können, haben wir es bei den zivilrechtlichen Vorteilen für verheiratete Paare mit einer Diskriminierung zu tun. Homosexuelle Paare  kämpfen seit Jahren gegen die Unmöglichkeit, eine Ehe einzugehen. Aber auch mit der «Ehe für alle» ist ein grundsätzlicheres Problem noch nicht aus der Welt geschafft. Denn viele Menschen leben gar nicht in einer Paarbeziehung. Sie leben als Singles, polyamourös in Mehrfachbeziehungen oder in anderen, nicht kategorisierbaren Strukturen. Man könnte aber auch die Sorge um die Anderen in den Vordergrund stellen. Dafür spricht, dass Lebensbegleiter oft gar nicht jene Menschen sind, die über ein Begehren mit uns verknüpft sind, sondern über langjährige Freundschaften und Verwandtschaftsverhältnisse in einem tragfähigen, konstanten Netz. Menschen, die für einander da sein möchten, könnten also eine rechtlich relevante Gemeinschaft bilden, damit etwa Spitalbesuche, eine Erbschaft oder der Erhalt der Aufenthaltsbewilligung klar geregelt sind.

Das ist der Segen und Fluch unserer Zeit: Wir können nicht nur viel mehr individuell entscheiden, wir müssen das auch.

Selbstverständlich könnten auch Menschen in einer Intimbeziehung eine solche Care-Gemeinschaft bilden. Die Ehe als rechtliche Institution würde aber abgeschafft. Ob Menschen weiterhin heiraten, bliebe dann letztlich eine private Angelegenheit: Natürlich sollen alle, die Freude an einem Liebesritual haben, dieses weiterhin zelebrieren. Ob das dann in einer Kirche, bei einem Schamanen oder einer Philosophin vollzogen wird, können sie für sich entscheiden. Suzanne Brøgger schreibt hierzu provokativ: «Jeder Versuch, die Ehe zu reformieren, dient nur ihrer Zweckentfremdung und Absurdität. Das heisst nicht, dass die Ehe zusammenbricht, wenn man versucht, sie von innen her zu liberalisieren. Im Gegenteil – wie wir täglich beobachten – sind es die Eheleute, die zusammenbrechen.»

In dieser Vision müssen für Elternschaft und Adoption spezielle Regelungen gefunden werden. Das schweizerische Gesetz orientiert sich bis heute in erster Linie am Modell: Vater-Mutter-Kinder. Die Realität ist hingegen viel bunter: Immer mehr homosexuelle Paare gründen eine Regenbogen-Familie; es gibt Kinder, deren Eltern innerhalb einer Freundschaft, aber ohne Intimbeziehung gemeinsam erziehen. Patchwork-Familien sind eine Selbstverständlichkeit. In Deutschland kann eine Einzelperson ein Kind adoptieren, ob dies auch zu dritt oder viert möglich ist, wird bestimmt früher oder später in vielen Ländern diskutiert. Hier müsste ein Konsens gefunden werden; aber das ist auch in der heutigen Situation oder bei der Realisierung der «Ehe für alle» der Fall. Bei diesen Regelungen muss auf jeden Fall das Kindeswohl das zentrale Anliegen sein, wobei die Meinungen weit auseinandergehen, wie das zu gewährleisten ist. Nachdem etwa jede zweite Ehe geschieden wird und eine Dunkelziffer von Trennungen ohne Scheidung besteht, liegt der Schluss nahe, dass das normative Modell gar keiner Mehrheit entspricht und die Welt vielfältiger ist, als die Gesetzgebung suggeriert.

Ziel einer solchen rechtlichen Erneuerung könnte zusätzlich sein, dass es zu weniger Kampfscheidungen kommt, da sich Menschen nach dem Care-Prinzip und nicht mehr nach romantischen Gesichtspunkten rechtlich zusammenschliessen. Das würde bedeuten, dass wir zu einem ähnlichen Modell zurückkehren, wie das Ehebündnis einmal gedacht war. Ein solcher Vertrag wäre wohl insgesamt mit vielen einzelnen Entscheidungspunkten verknüpft. Das ist der Segen und Fluch unserer Zeit: Wir können nicht nur viel mehr individuell entscheiden, wir müssen das auch. Die aktuellen Gesetze sind noch nach Standards formuliert, die von biografischen Konstanten ausgehen; das ist zwar bürokratisch übersichtlicher, aber einfach nicht mehr zeitgemäss.
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Dominique Zimmermann hat Philosophie und Literatur studiert und lebt als Autorin und Sexualtherapeutin in einer Care-Gemeinschaft in Basel. Sie führt in ihrem Textbistro auch regelmässige philosophische Salons durch. www.textbistro.ch

Literatur:
Dominique Zimmermann mit Beiträgen von Aysegül Sah Bozdogan: Das Mass der Liebe. Plädoyer für ein subversives Nein, Stuttgart 2015.
Suzanne Brøgger: ... sondern erlöse uns von der Liebe. Monogamie – der Kannibalismus unserer Zeit, Hamburg 1980.

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