Süffisante Polemik und peinliche Fehler von Rudolf Strahm

Die irreführenden Argumente des ehemaligen Preisüberwachers brauchen eine Entgegnung

Der nachfolgende Text bezieht sich auf eine Kolumne von Rudolf Strahm im Tagesanzeiger und im Bund vom 14. Mai. Die Zitate aus dieser Kolumne sind kursiv gesetzt.

Das gefährliche Vollgeld-Experiment
Ein originelles Denkmodell einer am Schreibtisch konstruierten Geldmarktordnung ist die Vollgeldinitiative, über die wir demnächst abstimmen. Sie will eine fundamentale Umgestaltung des Kreditsystems in der Schweiz. Nach ihr soll einzig die Schweizerische Nationalbank (SNB) Geld in Form von Münzen, Noten und Buchgeld schaffen dürfen. Die Geschäftsbanken dürften nur noch als Kreditdurchlaufstellen dienen. Sie dürften nur ausleihen, was sie an Einlagen direkt von den Kunden erhalten und was ihnen die SNB direkt zuteilt. Dagegen will die Initiative alle Kredite von Bank zu Bank (sogenannte Sichteinlagen) verbieten. Das von der Nationalbank geschöpfte Geld bezeichnen die Initianten als «Vollgeld».
Ein solches Modell wäre an sich reizvoll. Bereits in der Finanzkrise der 1930er-Jahre entwarfen amerikanische Ökonomen ein 100-Prozent-Reservesystem der US-Notenbank zur Verhinderung von Spekulationsblasen. Der deutsche Politologe Joseph Huber war von diesem Gedankenkonstrukt so fasziniert, dass er nun Buch um Buch schreibt, um die Welt mit Vollgeld zu retten.

Schon gleich zu Beginn steigt Strahm mit süffisanter Polemik ein. «Das Modell wäre reizvoll», ja wenn nicht die böse Realität wäre… Strahm der gegen Machtkonzentration und Verirrungen in der Wirtschaft anschreibt und den Kapitalismus anprangert, aber ein Modell das besser ist, nein: Das muss ein Hirngespinst sein, besonders dann, wenn es einleuchtet und reizvoll wäre….?

Nur tauglich für Insel-Wirtschaft
Ein solches Konstrukt wäre durchaus machbar, wenn man die Welt neu erfinden könnte und viele Länder mitmachen würden. Aber in einer offenen Volkswirtschaft mit international verflochtenen Banken und globalen Finanzmärkten funktioniert es nicht. Die Vollgeldstrategie ist ein Traummodell für die Robinson-Insel mit einem abgeschotteten Geld- und Kreditsystem.

Folgerichtig nennt Rudolf Strahm Vollgeld ein Traummodell für eine Robinson-Insel und baut seine Argumentation weiter aus, um den Vorschlag ins Lächerliche und Praxisfremde zu stellen. Doch mitnichten. Der Vorschlag ist das pure Gegenteil: Vollgeld bringt endlich die klare Erkenntnis und gedankliche Durchdringung unseres nebulösen und den privaten Profitinteressen überlassen Geldsystems zurück. Nebenbei steht auch die Tatsache, dass Anfang des 20ten Jahrhunderts faktisch ein Vollgeld-System in der Schweiz existierte und trotz fehlender internationaler Vereinheitlichung auch problemlos funktionierte.

Ein Teil der gesamthaft gehaltenen oder im Umlauf befindlichen Schweizer Franken werden heute schon von internationalen Banken und Versicherungen kontrolliert, auch von schweizerischen Bankfilialen im Ausland. Im Falle eines Vollgeldregimes wäre es für sie ein Leichtes, über den Umweg einer ausländischen Bankfiliale Kredite zu vermitteln, im Ausland Franken-Sichtguthaben von Bank zu Bank zu verschieben oder über internationale Kreditkartensysteme und verdeckte Kryptogelder jede Art von Umgehungsgeschäften abzuwickeln. Sofort würde das Umgehungsbusiness zu einem Geschäftsmodell. Die Nationalbank könnte dies nur mit harten Zwangsmassnahmen wie zum Beispiel lückenlosen Kapitalverkehrskontrollen verhindern.

Strahm verabsolutiert hier die heutige internationale Finanzwirtschaft, die er ja sonst bekämpft, sie werde schon Mittel und Wege finden, um das Vollgeld zu umgehen. Ja, hallo was ist das für ein Argument. Wo bleiben da Souverän und Gesetze? Weil man Gesetze umgehen kann, machen wir lieber keine? Zudem hat er nicht begriffen, dass seine Vorschläge zur Umgehung von Vollgeld eben zumeist gerade nicht mehr möglich sind. Es nützt einer ausländischen Bank nichts, wenn Sie einen Kredit in Schweizerfranken erzeugt. Sobald er irgendwann auf einem echten Schweizer-Geld-Konto einbezahlt werden soll, fliegt die Sache auf. Vollgeld IST Vollgeld, d.h. alles Schweizer-Geld ist dann registriert bei der Nationalbank, ohne Ausnahme. Warum ein gestandener Ökonom wie Strahm hier solche Schnitzer macht, ist unverständlich.

Den Initianten habe ich bereits vor der Lancierung und auch neulich wieder die Frage nach der internationalen Umgehung gestellt. Sie können aus ihrem Denkkonstrukt keine plausible Antwort ableiten. Selbst der Vollgeldguru Joseph Huber musste diese Umgehungsmöglichkeiten vorsichtig einräumen: «Banken könnten die Vollgeldordnung vielleicht ein Stück weit unterlaufen, indem sie sich von verbundenen Auslandunternehmen Kredit in Auslandwährung ausstellen lassen.»

Siehe oben. Wieso sollten solche Praktiken geduldet werden? Solche Praktiken stellen schon heute Schädigungen der Volkswirtschaft dar, genauso wie Geldwäsche und müssen und können durch die Instrumente der FINMA im Extremfall mit Entzug der Bankenlizenz bekämpft werden.

«Die Vollgeldstrategie ist kaum praxistauglich.»
Als Grundübel betrachten die Initianten die sogenannte girale Geldschöpfung der Banken. Darunter versteht man jene Praxis, wenn die Bank A der Bank B Kredite (Sichteinlagen) gewährt und dann diese an die Bank C weiterreicht usw. Die Vollgeldinitianten nennen dies irreführend «private Geldherstellung der Geschäftsbanken aus dem Nichts». Die Realität sieht so aus: Keine einzelne Bank kann «Geld schaffen». Und keine Einzelbank kann mehr ausleihen, als sie selber Aktiven hat. Richtig ist aber: Die Gesamtheit der Banken kann untereinander, als Bankensystem betrachtet, die Geldmenge durch girale Kreditschöpfung aufblähen und das Finanzsystem instabil machen.

Hier stellt Strahm die Girale Geldschöpfung nicht richtig dar. Sein Beispiel ist aus der überholten und falschen Fraktionalen-Reserve-Erklärung zur Geldschöpfung abgeleitet und entspricht nicht den Tatsachen. Nachlesen könnte er die richtige Version bei der Nationalbank «Alles über unser Geld» oder in einem Text der Bank of England «Money in the Modern Economy». Es ist peinlich, wenn er als gestandener Ökonom hier einen solchen Grundlagenfehler macht. Wenn er schon nicht versteht, wie Banken funktionieren, wie kann man dann seinen weiteren Aussagen trauen?

Der Denkfehler der Vollgeldinsulaner liegt allerdings darin, dass Spekulationsblasen nicht allein durch girale Geldschöpfung entstehen können, sondern indem die Banken und Schuldner zu wenig Eigenmittel als Finanzpuffer halten müssen, um ihre Risiken selber abzufedern. Heute verfügen die UBS und die CS über nur gerade 3 bis 4 Prozent Eigenmittelanteil an ihren (ungewichteten) Ausleihungen. Hätten die Initianten eine Eigenmitteldeckung von 10 oder gar 20 Prozent gefordert, könnten praktisch alle bankunabhängigen Ökonomen von links bis rechts hinter dieser Forderung stehen.

Die Initianten der Initiative machen keinen Denkfehler, denn sie behaupten nicht, dass jede Spekulation im Vollgeldsystem ausgeschlossen ist. Wenn allerdings die private Geldschöpfung à Discretion nicht unterbunden wird, bleiben viele weitere Massnahmen wirkungslos. Die Bekämpfung der Bankenexzesse hört mit Vollgeld nicht auf, aber Bürger und Staat haben dann via Nationalbank endlich wieder eine Möglichkeit echt zu steuern.

Mit ihrer totalen Umkrempelung des Kreditsystems haben sich die Initianten verrannt. Wir erleben nicht selten, dass sich überengagierte Urheber einer Volksinitiative ins Extrem verbeissen und sich dadurch selber isolieren.

Nicht die Initianten haben sich verrannt, sondern das heutige Geldsystem ist total aus dem Ruder gelaufen. Auf unseren Konten tummeln sich meist Bankenfranken, die in einer Krise wertlos werden und nicht als Schweizer Franken bezeichnet werden dürften. Wir haben tatsächlich meist „Fake Money“ auf unseren Konten und Strahm akzeptiert das kommentarlos, ja behauptet noch, das sei gut und richtig wie es sei?.

Kaum kontrollierbare Frankenaufwertung
In der Nationalökonomie gibt es in keinem Bereich so viele sektiererische Verirrungen wie in der Geld- und Währungspolitik. Ein solches Extrem war die marktfundamentalistische Deregulierungswelle vor der Finanzkrise 2008. Oder die Volksinitiative «Rettet unser Schweizer Gold» (Goldinitiative) von 2014. Oder in den 1990er-Jahren die historische Fehlleistung der damals monetaristisch geprägten SNB-Leitung, die mit ihrem Dogmatismus der Geldmengensteuerung die Schweizer Wirtschaft während Jahren regelrecht abwürgte. Heute wird ihr dogmatischer Monetarismus von damals allgemein als sektiererische Verirrung beurteilt.
Die Vollgeldstrategie hat eine richtige Absicht, nämlich die Stabilisierung des Finanzsystems. Aber sie wäre kaum praxistauglich, wenn eine grosse internationale Bankenkrise wie eine Pandemie auch auf die Schweiz übergriffe und den Frankenkurs durch Fluchtbewegungen in die Höhe triebe. Selbst Vollgeldpropagandist Joseph Huber räumt ein, dass bei einer Vollgeldordnung «das Land als ‹sicherer Hafen› gelten dürfte und daher einen unerwünscht hohen Währungszufluss erleben könnte». Dieses Experiment einer kaum kontrollierbaren Frankenaufwertung möchte ich unserer Exportwirtschaft und ihren Arbeitnehmern nicht antun!

Hier überwiegt leider die Polemik. Während Herr Strahm die «marktfundamentalistische Deregulierungswelle» ablehnt, sieht er nicht ein, dass eine ganz einfache und sehr wirkungsvolle Re-Regulierung ein Gegenmittel sein könnte. Eine knappe halbe Seite Verfassungstext statt viele hundert Seiten Basel III Empfehlungen mit sehr limitierten Wirkungen.
Und was die kaum kontrollierbare Frankenaufwertung angeht: Erstens wäre das ja eine direkte Bestätigung, dass Vollgeld das bessere Geld sein müsste, kein Grund deswegen also schlechteres Geld zu behalten. Zweitens wird aber Vollgeld tendenziell für Spekulanten unattraktiver, da sie ja nicht mehr so leicht zu solchen kommen werden und drittens, ja, Vollgeld würde uns auch nicht aus einer globalen Totalkrise retten. Aber auch hier: Wieso den Feuerlöscher nicht kaufen mit dem Argument, wenn die Stadt brennt, hilft er uns auch nicht?

Zu viel Macht für die SNB
Ein Vollgeldsystem würde der Nationalbank zusätzliche Macht über die Wirtschaftspolitik übertragen. Sie könnte mit der Geldmenge praktisch das Wachstum steuern. Dem dreiköpfigen Direktorium mit einem übervorsichtigen, modellgläubigen Wirtschaftsprofessor und zwei Karrierebeamten darf man diese Machtfülle ohne demokratische Legitimation nicht übertragen.

Dann kommt er als Sozialdemokrat auch noch damit, dass es schlecht sei, wenn die Nationalbank im Vollgeldsystem besser steuern könnte. Er scheint erstens den Verfassungstext nicht gelesen zu haben:
"Die Schweizerische Nationalbank führt als unabhängige Zentralbank eine Geld- und Währungspolitik, die dem Gesamtinteresse des Landes dient; sie wird unter Mitwirkung und Aufsicht des Bundes verwaltet.“
und zweitens passt es ihm scheinbar besser, wenn stattdessen einige wenige renditeorientierte ausländische Top-Banker bei CS und UBS die Steuerung innehaben, wie heute üblich? Seit wann hat die Sozialdemokratie so viel Zutrauen zu der Verantwortungshaltung von renditebolzenden Vorzeigekapitalisten? Die immer grösseren Konzerne à la Blackrock verdrängen die Demokratie und untergraben sukzessive unsere demokratische Kontrolle über das Finanzsystem. Wenn wir uns einen kleinen Teil der Kontrolle zurückholen können mit dem Vollgeld, wendet sich Strahm mit einem defätistischen Argumentarium, dagegen, das er sonst selbst immer kritisiert.

Viele Bürger möchten die internationalen Grossbanken irgendwie abstrafen, nachdem diese uns eine globale Finanzkrise mit zehnjähriger Schadenwirkung eingebrockt hatten. Der Ruf nach Einschränkung der Banken geniesst einige Sympathie. Damit spielen auch die Initianten. «Gäbe es eine Möglichkeit, die Banken und die Geldmengenvermehrung in die Schranken zu weisen?», fragte mich ein besorgter Bürger. Viele stellen sich solche Fragen zu Recht. Darauf ist aber die Vollgeldinitiative eine ungeeignete Antwort. Sie macht ein falsches Versprechen. Denn sie löst – in einem Land isoliert eingeführt – keine der international verursachten Probleme. Sie würde zum gefährlichsten Experiment mit unsicherem Ausgang.

Die Bürger sind doch keine rachsüchtigen Dummen, sondern haben richtig erkannt, dass die Banken aus der ganzen Misere straflos herausgekommen sind und sich heute wieder benehmen wie vor der Krise. Hat sich ein Top-Banker für die Katastrophe entschuldigt? Wurde die Macht dieser Herren drastisch eingeschränkt, nachdem sie gezeigt hatten, dass sie nicht damit umgehen konnten? Nein das Gefühl der Bürgerinnen und Bürger ist richtig: Banken in die Schranken und die Vollgeld Initiative ist eine solche Schranke, denn sie nimmt den Banken das zentrale Privileg der Geldschöpfung, das sie sich in den letzten Jahrzehnten klammheimlich angeeignet hatten. Wieso das ungeeignet sein soll? Weil das Ausland, resp. die internationale Finanzwelt, das nicht gerne sehen würde? Da hat Herr Strahm auch die Idee einer nationalen Währung nicht begriffen.

Herr Strahm verrennt sich somit selbst in seiner von der Bankenlobby vorgespurten Argumentation. Er hat sich nicht wirklich mit dem bestehenden Geldsystem befasst und versteht somit auch das Vollgeld als dringende Reparaturmassnahme nicht. Er befindet sich jetzt, wie wir alle, mitten in einem Experiment mit laufend erweiterter Privatisierung des Geldes, mit steigenden Geld- und Schuldenmengen, Blasenbildung und Umverteilung von unten nach oben und zeigt mit dem Finger auf eine angeblich „gefährliche“ Massnahme, die die verlorene Rechtsstaatlichkeit im Geldwesen wiederherstellen will. Gerade er, der sonst unbeirrt die sozialdemokratischen Werte hochhält und auch laufend intelligente Analysen schreibt, lässt sich damit von den Abbauern des Rechtsstaates vor den Karren spannen und spielt ihnen in die Hände. Wie will er so jemals den weiter beschleunigenden Finanzkapitalismus zähmen, wenn er die zentrale Schaltzentrale dieser Ideologie nicht erkannt hat: Das Geldsystem?

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Jens Martignoni ist Ökonom und Mitglied der «Allianz für Vollgeld und Gerechtigkeit», Wald ZH

Eine weitere kluge Entgegnung auf eine ältere Vollgeld-Kolumne von Rudolf Strahm «Rudolf Strahm und Geldgespinste» von Christoph Pfluger