Meditation: Der inneren Stille lauschen

Die Gedanken schnattern wie Gänse. Aber man kann sie auch zum Schweigen bringen.

Bild: pxhere

Einatmen. Ich sitze reglos im Yogasitz und lausche nach innen, lasse meine Gedanken wie Wolken über den Himmel ziehen, ohne sie festzuhalten, ohne mich mit ihnen zu identifizieren, ich konzentriere mich ganz auf die allumfassende Silbe «Om», die ja eigentlich, wie ich besserwisserweiss, im Devanagari-Alphabet «Aum» ausgesprochen wird. Ausatmen. Ich bewerte nicht, ich hafte nicht an. Einatmen. Hab ich eigentlich den Abholschein für das Paket dabei? Mist, wieder vergessen. Ausatmen. Loslassen. Auf dem Heimweg könnte ich gleich einkaufen. Einatmen. Meine Gedanken schnattern fröhlich wie Gänse. Ich pfeife sie zurück, suche die innere Stille in mir und finde stattdessen einen Witz: «Mein Sohn meditiert jetzt regelmässig.» – «Na, immerhin besser, als dazusitzen und überhaupt nichts zu tun.» Grunzend unterdrücke ich mein Lachen. Einatmen. Solange es dich noch stört, wenn dein Nachbar sich geräuschvoll schnäuzt, bist du noch weit entfernt vom Pratyahara, dem «Zurückziehen der Sinne». Dafür ziehen die Sehnen in meinen Beinen, und auch der untere Rücken schmerzt. Doch das kratzt mich nicht. Es gibt kein «Ich». Und dieses Nicht-Ich fokussiert auf den Abstand zwischen den Gedanken. Ha, eben habe ich tatsächlich nichts gedacht! Und schon ist sie wieder dahin, diese Leere: Ob die anderen merken, dass ich gar nicht weiss, was ich hier tue? Woran denken die denn? Manche, sehe ich blinzelnden Auges, grinsen selig, wie sie so dasitzen. Wie würden sie reagieren, wenn ich jetzt laut niessen müsste? Es wird nicht leiser auf diesem Marktplatz, der mein Geist ist. Om.

Meditation ist ein simpler und müheloser Prozess, in dem du dich mit der Stille und dem Frieden in dir selbst verbindest.1 Das klingt ja nun wirklich einfach genug. Und sie ist besser als Wissen, wie schon in der Bhagavadgita steht. Meditation wird in denselben jahrtausendealten Schriften erwähnt, auf die sich auch Yoga und Ayurveda berufen. Es geht dabei um die Möglichkeit, durch regelmässiges Praktizieren unsere beschränkte Perspektive zu erweitern und unser Bewusstsein auf eine höhere Ebene zu heben, wo wir Einsicht in … eigentlich alles gewinnen. Beziehungsweise wo wir erkennen, dass es im Grunde eben gar nicht darum geht, weil es im Nirvana der Gedankenleere nämlich kein ICH mehr gibt, das erkennen könnte, sondern nur NICHTS. Die berühmte Leere zwischen den Ohren, die den Zugang zum universalen Bewusstsein herstellt und «die Matrix»2 durchdringt, wie es einer meiner Lieblingsschriftsteller schön lapidar auf den Punkt bringt: «Wozu die Meditation dient? Zu nichts. Für nichts ist sie wie geschaffen. Ja, mein Gott, aber wenn man vor dem Nichts steht, ist man bei der endgültigen Realität angekommen. Dann, und nur dann spürst du die wahre Natur des Universums, nur dann hast du dich in das absolute Absolute eingeklinkt, Alter, und wenn du dich nicht damit zufrieden geben willst, dir dein Leben lang was vormachen zu lassen, ist es das Einzige, in das du dich wirklich einklinken solltest.»3

Obwohl Meditation spirituelle Wurzeln hat und unabdingbarer Bestandteil der Praxis vieler Religionen und Glaubensgemeinschaften ist, ist sie weit davon entfernt, auf dieses Umfeld beschränkt zu sein. Unabhängig vom individuellen Glauben und Wertesystem kann sie überall und jederzeit von wirklich jedem Menschen angewandt werden, um in unserer immer lauter werdenden Welt einen Ort der Stille zu finden. Es ist längst belegt, dass wir alle, ob Schulkinder, Gefängnisinsassen, Niedergeschlagene oder Berufsstresser, von dieser «Übung der Achtsamkeit [als] radikale Massnahme mentaler Gesundung» enorm profitieren, wie es Jon Kabat-Zinn, ehemaliger Uni-Professor der Molekularbiologie und Gründer der Stress Reduction Clinic4, nennt. «Gelingt es uns, inmitten des alles verschlingenden Mahlstroms, der das Leben ist, uns in unserer Haut wohl zu fühlen? Kennen wir Unbeschwertheit und Heiterkeit, erfahren wir sogar Momente tiefen Glücks? Um nichts Geringeres geht es hier.»5 Eine Harvard-Studie bestätigte, dass sein achtwöchiges Programm der Achtsamkeitsmeditation auch die Struktur des Gehirns positiv verändert: Die Dichte der grauen Masse erhöht sich, Verbindungen zwischen den Nervenzellen nehmen zu, das Gehirn wächst. Als Folge dessen fühlen sich die regelmässig Meditierenden entspannter, dabei wacher und grundlegend geistig frisch.6 Da Körper und Geist eine Einheit sind, tut sich übrigens auch im Rest der Physis einiges: Stress, Depression, Sorge und deren Folgen werden reduziert, Schmerz gelindert, Resilienz und Konzentration gesteigert, Gedächtnis und Immunsystem gestärkt, Bluthochdruck gesenkt … eine Studie belegt sogar, dass Meditationspraxis Alzheimer verlangsamen kann.7

Man darf also unterschreiben, wenn Zen-Meister Thich Nhat Hanh sagt: «Meditation ist keineswegs etwas Weltfremdes, vielmehr hat sie ganz konkret mit unserem Leben und Alltag zu tun.» Die Arten, sie zu praktizieren, sind vielfältig. Im Groben lassen sie sich in passive (reglos Sitzen) und aktive Formen (Gehen, Tanzen, Yoga, Bogenschiessen…) unterscheiden. Bei den aktiven Arten sei im Besonderen die Dynamische Meditation von Osho genannt, wo sich Phasen heftiger Bewegung und des unzensierten Ausdrucks von Emotionen mit Phasen der absoluten Stille abwechseln. Bei den passiven Arten gibt es geführte Meditationen, wo Lehrer oder eine CD die Aufmerksamkeit lenken, und freie, wo jeder auf sich selber hört. Man kann mit dem gezielten Fokus arbeiten, etwa durch die Konzentration auf eine Kerzenflamme oder ein Mantra, oder durch Achtsamkeit, indem man einfach beobachtet, was in einem vorgeht, ohne festzuhalten, zu reagieren oder zu bewerten, wie bei Vipassana und Zazen. Und dann gibt es noch Arten, die einen Prozess des Transzendierens in Aussicht stellen, der ganz von selbst ablaufen soll, wenn man ihn lässt (und einen sogar zum Schweben bringen kann!). Vielmehr genau eine Art: Die Transzendentale Meditation (TM) des Maharishi Mahesh Yogi, zu dessen Anhängern die Beatles und auch Filmemacher David Lynch gehören, der die Fähigkeit, dank ihr konzentrierter arbeiten zu können, mit den Worten preist: «It’s like money in the bank: Das ist wie Geld auf der Bank.»8 Vielleicht würde ich, wenn ich nur öfters meditierte, tatsächlich auch das Finale der dritten Staffel seiner (schlichtweg genialen) Serie «Twin Peaks» verstehen.

Meditation ist, wenn wir die Ohren vor der Aussenwelt verschliessen und nach innen hören. Ein Ausflug in das real existierende Hier und Jetzt. Sie ist der Gang in die eigene Mitte, wo wir mit allem verbunden und gleichzeitig von allem losgelöst sind. Was man dort, auf dem Grunde des eigenen Selbsts oder auch der Selbstlosigkeit, noch aufspürt, ist sehr individuell und paradoxerweise auch sehr universell zugleich. Eileen Caddy, eine der Mütter Findhorns, der am längsten bestehenden spirituellen Gemeinschaft Europas, hat durch das «deep inner listening», das «intensive Lauschen nach innen», Zugang zu Gott in sich gefunden, der sich ihr mit erfreulich konkreten Botschaften zu erkennen gab. «Sei still und wisse, dass ich Gott bin», sagte er ihr zur Begrüssung. (9) Alles, was Eileen mitbrachte, um diesen direkten Draht zu erhalten, war ihre Bereitschaft, nachts aufzustehen und ganz ruhig zu sitzen, Stift und Papier in der Hand, das eigene Ego zur Seite zu schieben – und geduldig zu lauschen, ob und wenn es etwas zu hören gab.
Die meisten von uns geben schon beim «ruhig Sitzen» auf, als sei dies die ultimative Zumutung. Jage uns einen Berg hinauf, o Höheres Selbst, lass uns einen Ozean durchschwimmen, o Weisheit des Universums, wirf uns meinetwegen wie einen Frisbee, du Göttliches – aber zwinge uns bitte bloss nicht, stillzusitzen und nichts zu tun, nichts zu denken!

Ein unlängst Erleuchteter beschreibt seine Erweckungserfahrung folgendermassen: Als würde ein Lastwagen, der die ganze Zeit mit laufendem Motor vor der Tür stand, auf einmal abgestellt werden. Wer noch eine Motivation sucht, mit dem Meditieren zu beginnen, sollte sich diesen Gedanken einmal im Kopf zergehen lassen: Stille. Endlich einmal wirklich Stille.
Kein Laut mehr ...

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1 www.americanmeditationsociety.org
2 Larry und Andy Wachowski: Matrix, Film, 1999
3 Tom Robbins: Völker dieser Welt, relaxt!, Rowohlt 2003
4 www.stressreductionclinic.org
5 Jan Kabat-Zinn: Gesund durch Meditation, Knaur 2011
6 Sara Lazar u.a.: Mindfulness practice leads to increases in regional brain gray matter density, 2011
7 Dr. Florian Kurth, 2015, www.bmap.ucla.edu
8 David Sieveking: «David wants to fly», Dokumentation, 2010
9 Eileen Caddy: «Herzenstüren öffnen», Greuthof 2004

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Martina Pahr

Submitted by admin on So, 02/12/2017 - 12:56
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Martina Pahr ist Magister der Literaturwissenschaft, verausgabte Fernsehredakteurin, ehemalige Reiseleiterin, engagierte PR-lerin und leidenschaftliche Schreiberin. Sie reist gern und oft und würde ohne Internetzugang nicht mehr leben wollen. Im Sommer ist sie gern im Schottland, im Winter in Asien. Zwischendrin meistens in München. Egal wo sie ist, schreibt sie regelmässig mit spitzig-kritischer und humorvoll-bissiger Feder für den Zeitpunkt.

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