Stille Macht, gefährliche Macht

Grenzwerte für radioaktive Strahlung können das Leben nicht schützen. Verstümmelte Insekten sind die schweigenden Zeugen für die verhängnisvollen Irrtum.

Hoffen auf eine Lösung – kontaminierte Erde wird in der Präfektur Fukushima vorerst in Plastiksäcken aufbewahrt. Foto: Cornelia Hesse

Straffreiheit ist die Zauberwelle, auf der sich die Atomindustrie bewegt. Alle Machenschaften, die Krankheit und Tod von Millionen von Menschen verursacht haben und noch verursachen werden, bleiben unangetastet – geschützt von Behörden, Gerichten, Wissenschaftern.
«Welches Atom-Erbe hinterlassen wir kommenden Generationen und wie muss die Gesetzgebung geändert werden, um jetzt schon ihre Anliegen durchsetzen zu können, um weitere Katastrophen und Belastungen zu verhindern». Dies war das Thema des kürzlich in Basderl durchgeführten Kongresses der ÄrztInnen für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges (PSR/IPPNW Schweiz). Weil Atombomben und Atomenergie zwingend miteinander verbunden sind, kamen Opfer der Atombombentests, Opfer der Uranminen und des Fukushima-Unfalls zu Wort. Ihre Leiden sprengen jede Vorstellung.

Unser Bewusstsein ist noch nicht stark genug zu erfassen, was wir, wenn wir das Atomlicht anschalten, Menschen antun, die in der Umgebung von Uranminen leben. Millionen Tonnen von radioaktivem Schutt liegen neben ihren Dörfern. Die kommenden Generationen sind auf Tausende von Jahren verstrahltem Trinkwasser und Essen ausgesetzt. Sie leiden an allem: Krebs, Diabetes, Herzinfarkt bei Kindern, Totgeburten, schweren Missbildungen.

Es gibt keine Schwelle, unterhalb derer die Strahlung ungefährlich wäre. Das Prinzip der Verdünnung ist keine Lösung.

Millionen werden von Regierungen und Uranbetreibern gequält und ausgenutzt. Menschenrechte werden mit Füssen getreten. Gesetze, die die Menschen und die Ungeborenen schützen könnten, existieren nicht. Aber auch in der Schweiz werden die kommenden Generationen bezahlen müssen. Wir haben vom Atomstrom profitiert, ihnen bleiben nur die Gefahren und die Kosten. Ein Paradigmenwechsel ist zwingend: Es gibt keinen Schwellenwert, unterhalb dessen künstliche Radioaktivität ungefährlich wäre. Die Menschenrechte müssen auch für kommende Generationen gelten. Unternehmen und Verantwortliche müssen auch für ihr Verhalten in Bezug auf kommende Generationen zur Rechenschaft gezogen werden können. Ein solidarischer Fonds muss eingerichtet werden, der den kommenden Generationen die Mittel gibt, den heute verursachten Müll zu bearbeiten und Opfer zu entschädigen. Kinder müssen geschult und auf das gefährliche Erbe vorbereitet werden. Auch in der Endlagerfrage dürfen keine Entscheidungen getroffen werden ohne den Einbezug der nächsten 300 Generationen.

Das Atomkraftwerk Mühleberg wird 2019 abgestellt. 2024 wandern die Brennstäbe und das hoch verstrahlte Material ins Zwischenlager Zwilag. Das schwach verstrahlte Material wird von Arbeitern an der Oberfläche mechanisch durch Abschleifen von radioaktiven Partikeln befreit und dann «freigemessen». 2032 bis 2034 erfolgt der konventionelle Rückbau. Doch etwa 90 Prozent des freigemessenen Materials sind in sogenannten «niederen Dosen» mit Radionukliden verstrahlt. Der freigemessene Abfall gilt jetzt als nicht mehr radioaktiv und kann auf normalen Mülldeponien entsorgt oder zur Wiederverwendung verkauft werden. Das Metall landet in Kochtöpfen, als Zahnspangen in Kindermündern, Beton wird für Häuser und Kindergärten wiederverwendet. Eine daraus folgende Krankheit kann nicht mehr auf die Strahlung aus einem Atomkraftwerk zurückgeführt werden. Atomkraftwerkbetreiber, die zur Rechenschaft gezogen werden könnten, wird es dann nicht mehr geben. Behörden werden behaupten, dass der Abfall nicht radioaktiv war.

Mit Zeichnungen vin verstümmelten Insekten aus der Umgebung von Atomanlagen ist Cornelia Hesse weltweit bekannt geworden.

Was nach dem Unfall in Tschernobyl noch nicht so bekannt war, ist durch Forschungen von unabhängigen Wissenschaftlern eindeutig bewiesen worden. Auch niedrigste Strahlendosen aus Atomanlagen oder dem Fallout von Unfällen sind gefährlich. Es gibt also keine Schwelle, unterhalb derer die Strahlung ungefährlich wäre. Das Prinzip der Verdünnung ist keine Lösung.
Wie können wir eine Katastrophe für die nächsten Generationen verhindern? Das Thema muss in der Öffentlichkeit diskutiert werden – wir begnügen uns nicht mit der Antwort, dass unsere Experten schon wissen, was sie tun. Das Stehenlassen eines Atomkraftwerks kostet, und es muss ein Fonds eröffnet werden, um einen späteren Abbau zu finanzieren. Wir brauchen unsere Fantasie und unser Wissen, um die Katastrophe zu verhindern.

Durch meine Untersuchungen an Wanzen und Zikaden aus dem Umfeld von Atomanlagen kann ich nach 30 Jahren Forschung aufzeigen, dass künstliche Radioaktivität – also die vom Menschen gemachte Radioaktivität – sehr schädlich ist und eine grosse Anzahl von Anomalien bei den Insekten auslöst. Das heisst: bereits niedrigste Strahlenmengen haben eine schreckliche Wirkung.
An der 6. Internationalen Konferenz der Citizen Science on Radiation Protection in Nihonmatsu vor einem Jahr hielt ich den Eröffnungsvortrag. Im Symposium ging es vor allem darum, zu bestätigen, dass es keinen Schwellenwert gibt, unterhalb dessen künstliche Radioaktivität aus Atomanlagen ungefährlich ist. An die japanische Regierung wurde ein Appell gerichtet, um zu verhindern, dass Menschen wieder in stärker verstrahlte Gebiete zurückkehren. Der von Japans Regierung als unbedenklich beurteilte Referenzwert von 20 mSievert pro Jahr stellt vor allem für die exponierten Kinder ein erhöhtes Krebsrisiko dar.

Als Künstlerin wurde ich auch zur Fukushima-Biennale für Kunst eingeladen. Es war für mich sehr spannend zu sehen, wie viele Künstler sich mit Fukushima auseinandersetzen und sich auch nicht davor fürchten, in der 20-Meilen-Zone ihre Werke zum Teil als Mahnmale zu gestalten. Am Ende der Konferenz führte ich mit jungen Leuten einen Workshop durch. Ich stellte ihnen die Aufgabe, ein Baumblatt vor Fukushima und ein Baumblatt nach Fukushima zu gestalten. Die Teilnehmer  begannen sofort intensiv zu arbeiten und erklärten, dass sie heute nicht mehr in den Wald gehen können und das sehr vermissen. Viele versuchten das Rascheln der Blätter oder die erinnerten Farben einzufangen. Papier wurde zerknüllt und zu bunten Bildern zusammengeklebt – die gestalteten Blätter der «Nach-Fukushima-Zeit» hingegen waren grau und flach. Ich bat die jungen Leute, diese Bilder dereinst ihren Enkeln zu geben als Zeugnis von Ahnen, die eine noch unverstrahlte Natur erlebt hatten. Ich ging sehr berührt und traurig weg.
In der Präfektur Fukushima, die durch den Atomunfall im Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi schwer verstrahlt wurde, lebt eine Million Menschen. Obwohl ein grosser Teil der Radioaktivität nach dem verheerenden Unfall in Richtung Meer abzog, verteilten sich Millionen Becquerel in der Präfektur, und die Wolken zogen bis 250 km in den Südwesten der Insel Honshū. Japans Regierung unternimmt viel, um die Bevölkerung von der Strahlung zu befreien. Ungezählte Plastiksäcke sind gefüllt mit kontaminierter Erde. Die leeren Häuser, verwahrloste Reisfelder und der allgemeine Zerfall auch ausserhalb der Evakuierungszone liessen mich erschaudern. Die Wälder, alles – ein Gebiet so gross wie das zwischen Zürich und Mannheim – ist verstrahlt, wenn auch im sogenannt niederen Dosisbereich. Die Leute wohnen immer noch da. Wenn in Europa ein Atomunfall dieser Dimension passieren würde _______  

Cornelia Hesse wurde weltweit bekannt mit ihren Zeichnungen verstümmelter Insekten aus der Umgebung von Atomkraftwerken. Sie ist Trägerin des Nuclear Free Future Awards 2015. Zuletzt ist von ihr erschienen:
Die Macht der schwachen Strahlung – was uns die Atomindustrie verschweigt. edition Zeitpunkt, 2016. 232 Seiten, geb. Fr. 29.-/€ 26.-.

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