Und was ist mit der Wahrheit?

Wer für etwas ist, glaubt genauso, die Wahrheit auf seiner Seite zu haben wie derjenige, der gegen etwas ist. Aber welche Wahrheit eigentlich?

Gefühle haben ihre eigene Logik und eigene Wahrheiten. Unser Gefühl beruht auf der Summe all dessen, was wir gelernt und erfahren haben. Gefühle sind immer wahr, auch wenn die Fakten sie widerlegen. Man kann nicht gegen Gefühle argumentieren. Sie sind. Hinter Gefühlen stehen auch Wirklichkeiten: Wir und unsere eigene Welt. Unsere Gefühle liefern wichtige Anhaltspunkte dafür, wer wir sind, wie wir bei uns selber bleiben können oder wo wir hinwollen.

Jenseits unserer gefühlten Wahrheiten gibt es auch eine «objektive» Wahrheit. Wir verstehen unter Wahrheit alle Feststellungen, die auch von anderen Menschen in unserem Kulturkreis für «richtig» gehalten werden. Europa hat sich nach der Aufklärung auf ein wissenschaftliches Weltbild verständigt. Es gab und gibt andere: religiöse Weltbilder zum Beispiel. Sie beruhen auf einer anderen Art von Evidenz. Auf einer Phänomenologie, an die man glauben muss, um sie zu «sehen». Phänomene, die sich wissenschaftlich meist nicht überprüfen lassen.

Was Wissenschaft ist, dafür werden immer wieder Regeln festgelegt. Wissenschaftliche Aussagen müssen zum Beispiel widerlegbar sein. Experimente müssen überprüft werden können und – unter den gleichen Bedingungen – das gleiche Ergebnisse hervorbringen.

Unser Zusammenleben basiert auf einer Übereinkunft, dass wahr ist, was mit der Wirklichkeit korrespondiert. Für diese «Korrespondenztheorie» gibt es gute Argumente. Nicht zuletzt, dass die Sonden, die wir zum Jupiter schicken, tatsächlich ankommen. Oder, dass wissenschaftliche Theorien konsistent sein müssen, sich nicht gegenseitig widersprechen dürfen. Wird eine Theorie aufgestellt, die dem Stand einer Wissenschaft widerspricht, hat entweder die gesamte Wissenschaft ein Problem oder diejenigen, die diese Theorie erarbeiteten. Wissenschaft beruht auf Konsistenz: Wenn es nur eine Wirklichkeit gibt – und davon gehen wir bisher aus – dann dürfen sich wahre Aussagen nicht widersprechen.

Wissenschaft kann irren und sie kann manipulieren. Oft ist schon der Ausschnitt, der gewählt wird, das Problem. Wir wissen zum Beispiel, dass ein bestimmter Wirkstoff harmlos ist, wenn wir den festgelegten Grenzwert einhalten. Aber wenn wir viele Wirkstoffe zeitgleich verwenden, kann der gleiche Wirkstoff ganz andere, ungeahnte Folgen haben. Wenn Unternehmen Wissenschaftler bezahlen, ist immer Skepsis erforderlich. Das gilt auch für staatlich finanzierte Forschung. Ob Wissenschaft tatsächlich dem Gemeinwohl dient, ist eine politische Entscheidung. Das können letztlich nur die Bürger entscheiden.
Wissenschaft kann helfen, die richtigen Ziele auf die richtige Art und Weise zu verfolgen. Sie kann uns Methoden und Technologien an die Hand geben, unsere Welt so zu gestalten, wie es uns guttut. Denn wie sagte Marx so schön: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.» Womit wir beim zweiten, schwierigeren Aspekt der Wahrheit sind. Wenn wir mit anderen streiten, müssen wir zwei Arten von Aussagen unterscheiden: Feststellungen über die Welt, wie sie ist, und Aussagen darüber, wie sie sein sollte. In unserer täglichen Wahrheitssuche geht das oft wild durcheinander.

Menschen verfolgen fast immer eigene und oft auch gegensätzliche Ziele. Nicht jeder muss der Meinung sein, dass die Wirtschaft immer weiterwachsen muss, dass Monogamie wünschenswert ist oder Roboter entwickelt werden müssen, die in unserem Auftrag töten.
Wenn die Wahrheit der Massstab dafür sein soll, ob wir für oder gegen etwas sind, sollten wir doch auch Folgendes beachten: Wir sind  sehr geschickt darin,  uns die Welt so zusammenzubasteln,  dass sie uns und unsere Ziele bestätigen. Wir lieben es, Fakten Dritten so zu präsentieren, dass das Bild, das sie erzeugen, für uns und unsere Positionen von Vorteil sind.  Und wir sind nämlich süchtig nach Sinn und Konsistenz! Deshalb konstruieren wir gerne Zusammenhänge und Sinn, wo es keine gibt. Es ist daher rational und wichtig, nicht nur anderen, sondern vor allem auch uns selbst nicht alles zu glauben. Skepsis, selber Denken, Kritik und Selbstkritik sind immer die richtige Wahl.

Um zu entscheiden, ob wir für oder gegen etwas sind, brauchen wir einen aufgeklärten Umgang mit der Wahrheit. Und die Wahrheit entsteht zwischen den Menschen. Sie sollte überprüfbar und wissenschaftlichen Argumenten zugänglich sein. Das gilt vor allem dann, wenn es darum geht, in welche Richtung wir die Welt verändern wollen. Zumal die meisten Veränderungen, die wir uns wünschen, nur durch gemeinsames Handeln erreicht werden können.
Für ein wahrhaftiges Leben brauchen wir jede Menge Geduld, Toleranz, Hartnäckigkeit und die Bereitschaft, uns immer wieder neu auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Wer für etwas oder gegen etwas ist, ohne sich immer wieder auf die Suche nach der Wahrheit zu machen, will es gar nicht so genau wissen. Denn nichts ist für ein gepflegtes Vorurteil oder Ressentiment so gefährlich, wie ein ständiges, wahrhaftiges Bemühen um das, was wir heute alles wissen können.

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