Warum arbeiten wir so viel?

Wir schuften 40 Stunden pro Woche, 40 Jahre lang, und freuen uns auf die Pensionierung, damit wir endlich tun können, was wir gerne tun: Sieht so ein erfülltes Leben aus?

Blauer Hintergrund und weisse Leuchtschrift «Work harder»
Arbeitszeit ist Lebenszeit. Sie sollte uns mit Freude erfüllen. (Bild: Jordan Whitfield on Unsplash)

Selten erzeugte ein Posting auf unserer Facebook-Seite so viel Resonanz wie das Interview der NZZ mit dem Anthropologen David Graeber über das Phänomen der Bullshit-Jobs, das wir letzte Woche dort verlinkten. David Graeber wirft die Frage auf, warum es so viele nutzlose Jobs gibt, die ersatzlos gestrichen werden könnten, und kommt zum Schluss: «Die herrschende Klasse hat gemerkt, dass eine glückliche, produktive Bevölkerung, der viel Freizeit zur Verfügung steht, eine tödliche Gefahr ist.»

«Wären die Menschen glücklich, würden sie die 'Bullshit-Jobs' an den Nagel hängen, auf die theologische Arbeitsmoral pfeifen und sich den wichtigen Dingen zuwenden.» David Graeber

Die Bevölkerung muss beschäftigt werden, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommt und das System hinterfragt. Das Übel beginnt früh und nimmt in der Schule seinen Lauf. Kinder lernen, dass sie nicht ihr individuelles Potenzial entfalten, sondern Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben sollen, die auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind. So kommt es, dass viele keine Ahnung haben, welche Talente eigentlich in ihnen schlummern. Auf die Frage, was sie wirklich wollen, wofür sie wirklich brennen, wissen sie keine Antwort, nachdem sie Jahre auf der Schulbank verbrachten und taten, was man ihnen sagte. Stattdessen besinnen sie sich auf das, was sie einigermassen gut können, denn damit lässt sich Geld verdienen.

Und dann wird geschuftet, 40 Stunden pro Woche, acht Stunden jeden Tag, bis zum ersehnten Feierabend. Ferien gelten als «die schönsten Wochen des Jahres», nur leider gibt es nicht viele davon, also muss man sie geniessen und das Optimum heraus holen, bevor man wieder im Stollen steht. Das freut ganz besonders die Konsumindustrie, denn wir haben jede Menge Frust zu kompensieren.

Hüben und drüben ächzt das Heer der Werktätigen unter der Arbeitslast und dem Mangel an Freizeit. So vieles möchte man gerne tun, für sich und andere, doch ach, es fehlt die Zeit. Man möchte mehr Sport treiben, mehr Zeit für die Familie haben, für ein Ehrenamt, das einem am Herzen liegt; möchte mehr raus in die Natur oder ganz einfach mehr Zeit, um über etwas nachzudenken. Manche rackern sich 40 Jahre lang ab, bevor sie sich lang gehegte Wünsche erfüllen, Reisen zum Beispiel. Vom wohl verdienten Ruhestand ist dann die Rede - und wieder freut sich die Konsumindustrie, wenn Rentnerinnen und Rentner, frei vom Zwang der Existenzsicherung, nun endlich Gas geben und ihren wahren Interessen frönen dürfen.

Bei den Selbstständigen sieht es nicht viel besser aus. Nicht umsonst enthält der Begriff die Wörter «selbst» und «ständig», nur dass man jetzt nicht mehr für den Chef, sondern für die Kunden malocht, allerdings ohne die Sicherheit des festen Arbeitsplatzes und garantierter Sozialleistungen.

Unsere Vorfahren verbrachten angeblich nur rund drei Stunden damit, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, mit Jagen und Sammeln. Den Rest der Zeit widmeten sie sich dem Müssiggang und der Pflege von Beziehungen. Erstaunlicherweise ist das heute nicht viel anders: Eine Studie aus dem Jahr 2015 ermittelte anhand von 2000 befragten Arbeitnehmer/innen, dass nur drei von acht Stunden wirklich produktiv gearbeitet wird. Nicht ganz so krass sieht es eine Studie aus Wien, wonach Mitarbeitende im Schnitt während 37 Minuten pro Arbeitsstunde produktiv waren, also während 61,5 Prozent der Arbeitszeit.

Wie sähe unser Leben aus, wenn wir mehr Zeit für uns selbst hätten? Wenn wir, beispielsweise dank dem bedingungslosen Grundeinkommen, nicht mehr gezwungen wären, einen Grossteil unserer wachen Zeit damit zu verbringen, unser wirtschaftliches Überleben zu sichern?

Wir würden uns vielleicht fragen, was uns wirklich wichtig ist. Wir wären entspannter und zufriedener und würden vielleicht mehr für andere und für das Gemeinwohl tun. Wir würden weniger konsumieren, weil es weniger zu kompensieren gäbe; weil wir nicht mehr für den Feierabend, die Ferien und den Ruhestand leben würden. Wir kämen wieder in Kontakt mit unserer wahren Natur, mit dem, was uns ausmacht als Menschen und Persönlichkeiten.

All das ist nicht im Interesse der herrschenden Klasse. Doch es gibt Hoffnung: «Die Menschen ändern sich», ist David Graeber überzeugt. «Die Leute machen den Bullshit nicht mehr lange mit.»

Mehr dazu

- After Work, von Tobi Rosswog. Radikale Ideen für eine Gesellschaft jenseits der Arbeit. Sinnvoll tätig sein anstatt sinnlos schuften, Oekom Verlag
- Arbeit. Warum sie uns glücklich oder krank macht, von Joachim Bauer
- Willkommen in der Welt der Bullshit-Jobs, Artikel hier beim Zeitpunkt vom 22. April 2019