Geheimnisse in Beziehungen

Sind Geheimnisse in einer Paarbeziehung schädlich oder gut und notwendig? Die klare Antwort lautet: Ja! Sie sind gut und notwendig. Und sie können schädlich sein.

(Bild: Shutterstock)

Jede Beziehung wird durch eine spezielle Kommunikation geformt. Fremden teilt man nur Unpersönliches mit. Freunden teilt man Persönliches mit. Dem Liebespartner teilt man Intimes mit. Jeder will als der geliebt werden, der er ist und mit all seinen Seiten. Dem Liebespartner kommt die Aufgabe zu, ihn in seinem So-Sein zu bestätigen.

Die Frage, die sich stellt, ist: Sollte jeder wirklich alles mitteilen, was sich in seinem Inner­sten, abspielt? Nachfolgendes Gedankenexperiment zeigt, wie schädlich das wäre.

Könnte der Partner Gedanken lesen, dann würde er beispielsweise erfahren, wen man sonst noch attraktiv oder vielleicht sogar attraktiver findet. Mit wem man eine Nacht verbringen will oder schon verbracht hat. Welche Phantasien uns bei der Selbstbefriedigung helfen. Welche Rolle das Geld oder Erbe spielt. Wann man beabsichtigt, ihn zu verlassen, z.B. wenn das Haus bezahlt ist oder die Kinder aus dem Haus sind und vieles mehr. Könnten Partner Gedanken lesen, würde sich kaum jemand auf Liebesbeziehungen einlassen.

Dazu ein kleines Beispiel: Ein Mann will von seiner Freundin in einem intimen Augenblick wissen, mit wie vielen Männern sie schon geschlafen hat. Sie zögert mit der Antwort, denn sie fühlt instinktiv, dass es besser wäre, das als Geheimnis zu bewahren. Sie sagt ihm: «Das willst du gar nicht wissen!» Aber er bohrt. Als sie schliesslich sagt, sie wüsste es nicht so genau, es wären wohl über 30, ist er schwer getroffen. Die Beziehung ist eine ganze Weile gestört. Er denkt zeitweise sogar daran, sich zu trennen, bleibt aber. Wäre es nicht besser gewesen, sie hätte gelogen? Oder hätte gesagt: «Ich zähle so etwas nicht, und ich meine, es geht dich auch nichts an.»

Geheimnisse werden in einer Beziehung unbedingt gebraucht. Das Geheimnis grenzt vom anderen ab und hält das Interesse der Partner, die Neugier auf das Innenleben lebendig. Durch Geheimnisse bleibt die eigene Identität erhalten. Nur weil niemand in meinen Kopf und in meine Gefühle hineinblicken kann, existiere ich als Individuum. Und nur deshalb, weil Partner getrennt voneinander sind, brauchen sie ihre Liebe, die ihnen Zuwendung und Bestätigung vermittelt.

Was in einer heutigen Liebesbeziehung dennoch unbedingt gebraucht wird, ist der Eindruck, keine Geheimnisse voreinander zu haben, zumindest keine grossen. Eine Liebesbeziehung lebt vom Teilen intimster Dinge. Man teilt dem Partner auch die Dinge mit, wovon kein anderer erfährt. Man teilt ihm eigene Sehnsüchte, Gefühle, Ängste, Erwartungen, Hoffnungen, Begehren mit. So entsteht die Illusion, das Innerste des Partners genau zu kennen. Diese Illusion wird gebraucht, damit der wichtige Eindruck der Ganzliebe – ich werde um meiner Selbst willen, mit allem geliebt, was mich ausmacht – entstehen kann.
Man darf den Eindruck absoluter Offenheit aber nicht mit absoluter Offenheit verwechseln. Die Überzeugung, ganz und gar geliebt zu werden, hält sich nämlich nur, solange man sich vieles nicht mitteilt. Was diesen Eindruck zu sehr stören würde, also alles, was sich trennend anstatt verbindend auswirkt, behält man besser für sich. Zumindest, solange es geht.

Geheimnisse bergen natürlich Risiken. Darunter das Risiko, dass das Geheimnis unfreiwillig gelüftet wird. Der Seitensprung, der heraus kommt, kann eine Beziehung beenden oder beleben. Es kommt auf die Schwere der Verletzung an, die dadurch entsteht.

Es ist gut, dass man nicht alles vom Partner weiss – und nicht alles von sich selbst.

Doch warum entsteht eine Verletzung? Weil die Annahme zerstört wird, den anderen zu kennen. Was die Beziehung dann retten kann, ist die Offenbarung weiterer Geheimnisse. Beispielsweise, was man lange Zeit vermisst hat, worunter man schon lange leidet etc. Eine Garantie auf Erhalt der Beziehung gibt es aber nicht, denn alles, was man offenbart, kann sowohl Zuwendung als auch Abweisung auslösen.
Muss man befürchten, dass der Beziehung die Geheimnisse mit der Zeit ausgehen? Nein, denn bei jedem Geheimnis, das preisgegeben wird, rückt ein anderes nach. Die Quelle der Geheimnisse liegt dort, wo persönliche Veränderung stattfindet, in unserem Unbewussten, in dem nicht zu kontrollierenden Gefühlsbereich des Einzelnen. Es ist daher gut, dass man nicht alles vom Partner weiss – und nicht alles von sich selbst.

Was nun? Was tun?

Wenn Sie vor der Entscheidung «beichten oder nicht?» stehen, beantworten Sie sich erst folgende Fragen:
• Gibt es eine Vereinbarung in Bezug auf den Punkt, den ich geheim halte?
• Hat die Sache Bedeutung für die Beziehung?
• Wie wird mein Partner reagieren, wenn ich das Geheimnis offenbare?
• Wie wird mein Partner reagieren, wenn ich schweige und er von selbst hinter das Geheimnis kommt?
• Mit welchen Folgen glaube ich, besser leben zu können?

Und wenn Sie dann doch beim Lügen ertappt werden, bleibt nur, dazu zu stehen. Ja, ich habe gelogen. Aus Egoismus. Weil ich die Beziehung zu dir erhalten will!  
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Michael Mary (*1953) ist Paarberater aus Norddeutschland und mit 36 Büchern, darunter einige Bestseller, einer der produktivsten und meistgelesenen deutschsprachigen Autoren zu Beziehungsfragen.
www.michaelmary.de

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26. November 2018
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