Verklärte Nacht

Haltet die Augen auf in diesen Nächten, denn jetzt ist die Zeit der Glühwürmchen. Die Männchen machen sich zur Brautschau auf, die Weibchen leuchten ihnen entgegen. Doch viel Zeit haben sie nicht.

Bei Tag ist sein unscheinbares Wesen leicht zu übersehen, wenn es sich im Wiesengrunde, oft in Gesellschaft von Johanniskraut, für seinen nächtlichen Auftritt bedeckt hält. Bei fortschreitender Dämmerung, sobald am Osthimmel die Gestirne funkeln, offenbart es sich – aber es zeigt sich nicht. Das «Glühwürmchen», treffender auch «Johanniskäfer» genannt, verhüllt seine Gestalt im Schein seiner Aura. Von der Hochzeit der vom Mittelland bis in höhere Lagen verbreiteten Grossen Leuchtkäfer kündet in den Mittsommernächten bloss da und dort ein stilles gelbgrünliches Leuchten am Wegrand, wo paarungsbereite Weibchen auf sich aufmerksam machen. Von den Erkundungsflügen ihrer Freier zeigt sich keine Spur, denn nur die Weibchen der Art Lampyris noctiluca haben einen leuchtenden Unterleib, wo körpereigene Energie praktisch ohne Abwärme Licht erzeugt, im Unterschied zu unseren wirkungsvollen Leuchtdioden, die dennoch zwei Drittel der eingespeisten Energie als Wärme verlieren. Einzig ein hier und da ausgehendes Licht zeugt von einer glückenden Paarung.

 

Dieses biochemisch erzeugte Licht, sogenannte Bioluminiszenz, ist in unseren Breiten ein seltenes Phänomen. Geduldige Waldbesucher kann in mondlosen Nächten «leuchtendes Holz» in ungläubiges Staunen versetzen. Hinter dem Zauber wirkt ein feines Myzelgeflecht, Weissfäulepilze, die sich am Totholz laben und deren Leuchten die ausgebleichten Holzfasern anscheinen. Über die Signalfunktion dieses Lichts darf noch gerätselt werden. Anderswo gehört das Aussenden kalten Lichts zur Standardkommunikation, in der Tiefsee sind Bakterien und eine grosse Vielfalt von Tieren, von Einzellern bis zu Fischen, in der Lage, mit eigenem Licht anzulocken, abzuschrecken, abzulenken oder sich zu tarnen.

 

Leuchtkäfer haben es gerne warm und feucht und un-gedüngt – und natürlich dunkel. Der in unserer Gegend häufigste Grosse Leuchtkäfer (wobei gross bei 15 bis 20 mm Länge relativ zu verstehen ist) ist ein Kosmopolit und in weiten Teilen Eurasiens heimisch, von der Atlantikküste über die Alpennordseite bis Ostsibirien. Sein Lebensraum ist kleinräumig strukturiert: Waldsäume, Wegböschungen, Hecken, auch naturnahe Gärten oder Friedhof- und Parkanlagen – wenn er dort nicht im Sack des Laubsaugers landet. Je kleiner eine Population, desto mehr ist ihr Gedeihen von Verbindungskorridoren zu den nächsten Artgenossen abhängig. Schon eine mässig befahrene Strasse ist für Fussgänger unter Kleinlebewesen – die Weibchen sind flügellos – eine schwer überwindbare Barriere. Es leuchtet ein: Leuchtkäfer meiden das Licht. Wenn sie können. Wohl mögen die fliegenden Männchen auch im Streulicht von Strassen- und Hausbeleuchtungen nach Partnerinnen suchen, doch diese leuchten dort vergeblich und bleiben unentdeckt. Wie gründlich wir mittlerweile die Nacht zum Tag machen, wird erschreckend deutlich, wenn wir uns auf Leuchtkäfersuche begeben. Viele Stadtbewohner halten sie in unserer Welt für längst erloschen, zusammen mit dem Zauber der Kindheit, dabei tanzen sie ihnen vor der Nase herum. Ja, sie weichen zurück vor dem steten Umbau unserer Landschaft, vor der Industrialisierung der Landwirtschaft, vor der Trockenlegung der Böden, vor der fortschreitenden Versiegelung der Siedlungsgebiete. Dort machen, ausser der Lichtflut, die Gestaltungs- und die Nutzungsweise der Grünflächen ihren Lebensraum unbewohnbar: Rasenwüsten und andere Monokulturen, vergiftete Schnecken und überdüngte Böden, rigoroses Regime des Facility Managements mithilfe von Motorsensen und Laubsaugern. Aber am Stadtrand, wo der Kirschlorbeer in die ungetrimmte Landschaft ausfranst und die Nacht noch Nacht ist, sind sie noch da.
«Ho, ho, hotaru koi, atchi no mizu wa nigai zo, kotchi no mizu wa amai zo...», singt jedes japanische Kind im Kanon. «Hallo, hallo Leuchtkäfer, komm, dort ist bitteres Wasser, komm, hier schmeckt es süss…» Es leuchtet ein, dass sie in den Tropen, wo die meisten der zweitausend Leuchtkäferarten leben, in der Alltagskultur der Landbevölkerung eine prominente Rolle spielen. Aber auch im hochindustrialisierten Japan und Korea, wo die Menschen eine starke kulturelle Bindung zur äusseren Natur bewahrt haben, werden die Leuchtkäfer wie eh und je verehrt und ihr mittsommerlicher Hochzeitstanz mit Quartierfesten gefeiert.

 

Hierzulande aber werden die flüchtigen Nachtwesen nur noch selten besungen, und viele Stadtmenschen können kaum glauben, dass fünfzig Meter vor ihrem Schlafzimmerfenster, hinter der Friedhofsmauer ein Käferweibchen mit seinem leuchtenden Hinterleib erwartete Artgenossen heranwinkt. In Zürich haben sich vor fünfzehn Jahren drei Dutzend Aficionados mit unterschiedlichstem fachlichem Hintergrund im «Glühwürmchen Projekt» versammelt. Ursprünglich war das eine interkontinental ausgerichtete Initiative des Lichtkünstlers Francesco Mariotti, dessen Objekte und Installationen sich im Spannungsfeld von Natur und Technik, Hightech und Abfall, Autonomie und Interaktivität bewegen. Der Verein hat sich fortan der Erforschung und Förderung der Leuchtkäfer verschrieben, die in Mitteleuropa mit gerade nur vier Arten vertreten sind, die aber alle, ob alteingesessen oder gestrandet, in der Finanzmetropole zu Hause sind. Mit der pflegerischen Aufwertung ihrer Lebensräume engagieren sich die Mitglieder auch für die begleitende tierische und pflanzliche Vielfalt. Denn der Käfer leuchtet da, wo unweit auch Schnecken raspeln, Igel schmatzen und wo der reizende Paarungsruf der Erdkröte erklingt. Um die Natur der Leuchtkäfer und ihre Spuren in unserer Kultur einer breiteren Öffentlichkeit in Erinnerung zu rufen, organisierte der Vereinspräsident und Stadtökologe Stefan Ineichen bereits zwei Mal ein fernöstlich inspiriertes Glühwürmchenfestival im Grossraum Zürich.

 

Wenn die Leuchtkäfermännchen in der Johannisnacht zur Brautschau aufsteigen, agieren sie fast auf Augenhöhe mit uns, aber sie müssen rasch zur Sache kommen. Denn zur Paarungszeit leben sie von Luft und Liebe allein, das grosse Fressen war früher, als sie – damals noch Larven – Schnecken jagten, zwei Jahre lang. Von jener Energiereserve leben sie nach der Verpuppung knappe zwei, drei Wochen, dann ist Schluss. Energiesparen ist unter Leuchtkäfern mehr als eine fromme Absicht, es ist ihr Lebensfaden. Für eine effiziente Partnersuche benötigen die Käfer einen wesentlich besseren Überblick als etwa unsereiner. Den bieten ihnen zwei Riesenaugen, ein jedes aus mehr als zweitausend Einzelaugen zusammengesetzt. Dieser Sehsinn liefert kein scharfes Bild, dafür registriert er kleinste Bewegungen und gestattet so eine rasche und präzise Ortung der unwiderstehlichen Lichtquelle.

 

Wird ein Weibchen entdeckt, so bleibt dem Überflieger keine Zeit für einen ordentlichen Landeanflug. Augenblicklich, und dabei recht zielgenau, lässt er sich fallen, oft genug ist ein anderer schneller, oder es drängt schon einer nach und es kommt zum Gerangel. Hat es in der ersten Nacht nicht geklappt, wird sich das Weibchen in einen Tagesschlupfwinkel zurückziehen und in der Abenddämmerung erneut seinen Posten beziehen. Wenn es also Tag für Tag an derselben Stelle leuchtet, so erwartet ein Weibchen auf verlorenem Posten Besuch, an einer aus der Flugperspektive nicht einsehbaren oder an einer zu hellen Stelle oder einer Stelle ausserhalb des Flugraums. War die Paarung erfolgreich, dann sucht das Weibchen nach einem feuchten Plätzchen für die Eiablage. Es muss die Eignung der Stelle mit grösster Sorgfalt
prüfen, denn das Gelege wird sich selbst überlassen bleiben, das Weibchen wird die Jungen nicht mehr schlüpfen
sehen. Die Männchen sterben bereits ein paar Tage früher.
Bei kaum einem anderen Tier ist Sex über eine so lange Lebensspanne beherrschendes Thema wie bei uns Menschen. Nicht nur beim Leuchtkäfer ist das Erwachsensein bloss das rasch verglühende Schlussbouquet.

www.glühwürmchen.ch

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Die Familie der Leuchtkäfer (Lampyridae)

umfasst weltweit etwa 2000 Arten, mehr als 90 Prozent leben in den Tropen und Subtropen. In der Schweiz (und in Mitteleuropa) sind gerade mal vier Arten vertreten: Der nebenan beschriebene, über weite Teile Eurasiens verbreitete Grosse Leuchtkäfer (Lampyris noctiluca), ausserdem der auf der Alpensüdseite und in weiten Teilen Zentral- und Südeuropas verbreitete Kleine Leuchtkäfer (Lamprohiza splendidula), dessen Männchen wie saumselige Kometen durch die Auenwälder gaukeln, und der ebenfalls auf der Alpensüdseite und im Mediterranen Raum beheimatete Italienische Leuchtkäfer (Luciola italica), bei dem ebenfalls beide Geschlechter leuchten, und sich blinkend verständigen, sowie der in Europa weitverbreitete, aber sehr unscheinbare und nicht flugfähige Kurzflügelleuchtkäfer (Phosphaenus hemipterus). Mehr ist auf www.glühwürmchen.ch zu erfahren.