Guttenberg – der Scheinriese wankt

Der smarte Verteidigungsminister wurde uns zwei Jahre lang als der „natürliche“ nächste Kanzler Deutschlands verkauft. Jetzt ist der Lack ab. Eine tote Soldatin auf der Gorch Fock, ein Vergewaltigungsfall in der Bundeswehr, Zitateklau bei der Doktorarbeit – die Fehlleistungen häufen sich. (Roland Rottenfußer)

Es gibt Ereignisse, die nur scheinbar harmlos sind, aber große symbolische Kraft besitzen. Sie verweisen über das, was konkret geschehen ist, hinaus auf einen größeren Zusammenhang. „Pars pro Toto“ könnte man es nennen: Ein Teil steht für das Ganze.



Nehmen wir zum Beispiel folgendes Ereignis: Ein Techniker vertauschte 1987 das Videoband von Kanzler Helmut Kohls Neujahrsansprache mit der Ansprache vom Vorjahr. Viele Zuschauer bemerkten den Fehler nicht. Hinterher gab es großes Geschrei, Kohl zeigte sich brüskiert. Unbewusst hat der Techniker damit eine bedeutsame Aussage gemacht: Helmut Kohls Reden sind auswechselbar, er bedient sich eines so verwaschenen Phrasenrepertoires, dass man nicht merkt, auf welche Zeit sich das Gesagte bezieht.



Noch ein Ereignis: Silvio Berlusconi lässt sein Gesicht liften. Symbolische Bedeutung: Dieser Mann ist nur noch Maske. Er will etwas darstellen, was er nicht ist. Etwas Hässliches schminkt sich als Schönes. Er ist ein Großkotz und Blender. Die gesamte von ihm repräsentierte Fernsehlandschaft und nicht zuletzt seine Politik basieren auf Künstlichkeit, auf Lifting.



Nun schlage ich den Bogen zu unserem Verteidigungsminister zu Guttenberg. Wie ist es zu verstehen, dass Deutschlands beliebtester Politiker bedeutende Teile seiner Doktorarbeit abgeschrieben hat? Hat sich da jemand geistig liften lassen? Zwei Deutungsmöglichkeiten bieten sich an:


1. Die Politikersprache der Neuzeit ist eine Ansammlung von Plagiaten. Politiker sind nur selten Selbstdenker, sie bedienen sich vorgefertigter Sprach- und Inhaltsmodule und geben diese als eigene Geistesblitze aus. „Für Frieden und Freiheit“, „Sozial ist, was Arbeit schafft“ oder „Der Standort Deutschland darf nicht Schlusslicht bleiben“ – Warum selbst formulieren, wenn die Phrasendreschmaschinen der Think Tanks ständig Brauchbares auswerfen? Die Politikersprache ist nicht inspiriertes „Gemälde“, sondern eher „Montage“.


2. Karl-Theodor zu Guttenberg will etwas darstellen, was er nicht ist. Nach außen hin brillant und nahezu makellos, zeigen sich hinter der Fassade peinliche Defizite. Auf den Punkt gebracht: Er ist nicht echt, er betrügt. In welchen Bereichen könnte er uns noch etwas vormachen? Schärfen wir künftig unseren Blick dafür – und nicht nur bei zu Guttenberg!



Ich bin ja Germanist und liebe es deshalb, zu interpretieren, die verborgene Bedeutung hinter der offensichtlichen aufzuspüren, den „Subtext“ hinter dem „Text“. Daher hier noch ein paar Deutungen zu jüngeren Ereignissen der Militärgeschichte.



Zu Guttenberg besucht mit seiner Frau und einem Talkshowmoderator die Front. Wäre das ein Roman, würde ich fragen: „Nun, was wollte uns der Verfasser damit sagen?“ Politik ist Show, speziell die des Herrn zu Guttenberg. Soldaten töten und sterben; die Guttenbergs lächeln Bunte-kompatibel. Die Truppe sah es größtenteils als „Würdigung“, ich betrachte es eher als Verhöhnung, wenn der Minister Soldaten als Kulisse für seine Selbstdarstellung nutzt.



Ein Soldat wird mehrmals von seinem Vorgesetzten vergewaltigt. Ein Hauptfeldwebel aus Regen im Bayerischen Wald soll einen Feldwebel vergewaltigt haben – eine Nachricht, die erst am 12.02. durch den Newsticker ging. Das Opfer soll aus Angst vor Schikanen und dienstlichen Nachteilen lange geschwiegen haben. Deutung: Nicht ein Soldat wurde vergewaltigt, Militär ist Vergewaltigung – ihrem Wesen nach. Hinter dem Prinzip Befehl und Gehorsam steht die Grundhaltung: „Es ist mir egal, wie es dir dabei geht, ich will jetzt, dass du das tust. Wenn nicht, lasse ich dich noch mehr leiden“. Das ist die Mentalität von Missbrauchstätern. Sie gehen über das explizite oder implizite „Nein“ ihrer Opfer hinweg, brechen seinen Willen. Es ist anzunehmen, dass nicht nur körperliche Gewalt, sondern auch der antrainierte Gehorsam gegenüber einem Vorgesetzten zu dem Vorfall in Regen geführt hat. Wie könnte man jemandem einen Wunsch abschlagen, der nicht nur ein Häkchen, sondern eine Schleife auf der Schulterklappe hat? Umgangssprachlich sagen Soldaten auch gern, ein Vorgesetzter habe sie „gefickt“, wenn sie meinen: er hat mich schikaniert. In diesem Fall gilt wirklich: „Pars pro Toto“ – ein Teil für das Ganze.



Ein Soldat in Afghanistan erschießt sich beim Waffenreinigen selbst. So geschehen Ende letzten Jahres. Vielleicht war auch ein Kamerad an dem Vorfall beteiligt, und die Soldaten haben „spielerisch“ mit geladenen Waffen herumgefuchtelt. Deutung: Bei Soldaten staut sich durch die Kampfsituation, aber auch durch die Demütigungen, denen sie durch Drill und Zwang ausgesetzt sind, viel Aggression an. Da sie diese emotionale „Ladung“ nicht gegen ihre Urheber richten können, richtet sie sich gegen Kameraden oder wird autoaggressiv entladen. Gegenseitige Bagatell-Gewaltanwendung unter Soldaten ist eher die Regel als die Ausnahme. Harmlosere Formen sind Schläge auf den Oberarm aus nichtigem Anlass oder die Gewohnheit, Neuzugänge den Mülleimer ausleeren zu lassen. Aber auch grausame Initiationsrituale, etwa bei den Mittenwalder Gebirgsjägern, sind bekannt geworden. Mitverantwortlich dafür ist m.E. stets der durch Vorgesetzte und das Militärsystem erzeugte Druck. Wer ihn nicht an schwächere Leidensgenossen weitergeben kann oder will, lässt sich schon mal zu autoaggressiven Handlungen hinreißen. Selbst Depressionen oder Fingernägel kauen können Akte der Gewalt gegen sich selbst sein. Eine versehentliche Selbsterschießung ist da nur die Spitze eines Eisbergs.



Auf der Gorch Fock fällt eine Soldatin aus den Masten in die Tiefe – tot. Außerdem wurde in der Presse von katastrophalen Zuständen auf dem Schulschiff der Bundeswehr berichtet. Von Demütigungen und Diebstählen seitens der Stammbesatzung war die Rede, auch von sexueller Belästigung der Offiziersanwärterinnen. Deutung: Auch hier gilt „Pars pro Toto“. Militär verleiht dem Ranghöheren eine in Zivilleben unbekannte Machtfülle. Nicht alle können damit umgehen. Unreife Charaktere nutzen ihre Stellung immer wieder, um Untergebene entwürdigend zu behandeln. Macht scheint etwas „Geiles“ an sich zu haben. Und sie agiert sich ihrer Natur nach gegen den Willen des ihr Unterworfenen aus. Sonst wäre es ja keine Macht, sondern Überzeugungsarbeit. Sarah Lena S. wurde in die Takelage geschickt, Höhe: 27 Meter – eine lebensgefährliche Situation. So etwas sollte niemals gegen den Willen oder das Gefühl des Betroffenen „befohlen“ werden. Sarah Lena soll vorher geäußert haben, sie wäre lieber nicht hoch geklettert. Aus welchem Grund auch immer – es hätte respektiert werden müssen. Bei Lebensgefahr hört der Spaß auf. Beim Militär allerdings fängt er dort offenbar erst an. Militär ist ein System, das auf Menschen so viel Druck ausübt, dass sie lieber ihren Tod riskieren als den Ungehorsam. Der Gehorsam wird so weit automatisiert, dass der natürliche Selbsterhaltungstrieb im Kriegsfall versagt. Ein perverses System der Gehirnwäsche, das auf der Gorch Fock exemplarisch vorgeführt wurde. Zum Glück steht endlich eine Mutter gegen den Staat Deutschland auf und verklagt diejenigen, die ihre Tochter für ihren Machtwahn verheizt haben.



Hier noch ein paar grundsätzliche Anmerkungen: Ungehorsam als strafbarer Tatbestand hat in einer modernen Demokratie nichts mehr zu suchen. Die Erfahrungen aus dem Dritten Reich sollten uns zur Genüge deutlich gemacht haben, wohin blinder Gehorsam führt. Das bedeutet nicht, dass es keine Disziplin, keine Autorität geben darf. Es gibt Situationen, in den es hilfreich ist, wenn alle Ausführenden die Dienstanweisungen einer Autoritätsperson befolgen, ohne zu fragen und zu diskutieren. Beispiele dafür sind Schiffe, und dort besonders akute Notsituationen. Es kann zielführend sein, wenn Matrosen ihre Autonomie teilweise an einen Vorgesetzten delegieren – im Vertrauen auf seine Kompetenz und menschliche Integrität. Diese Machtbefugnis ist aber immer vorläufig, sie ist dem Vorgesetzten auf Probe verliehen und gilt nur, solange er sich des Vertrauens als würdig erweist. Verlangt der Vorgesetzte Unzumutbares oder gar etwas, was für den Untergebenen lebensgefährlich ist, sollte „Befehlsverweigerung“ jederzeit möglich sein. Dies kann zwar, wie in Privatfirmen, zur Entlassung führen, darf aber auf keinen Fall strafrechtliche Folgen haben. „Aber wie können wir unter solchen Umständen sicher gehen, dass Soldaten töten oder sterben, wenn sie sollen?“, werden Militärs einwenden. Eben: Das Töten und Sterben würde sich stark reduzieren. Sarah Lena z.B. könnte noch am Leben sein, und auch die ca. 140 Toten des Massakers von Kundus, wenn in Deutschland endlich eine Kultur des Ungehorsams gepflegt würde. Meuterei auf der Gorch Fock? Na hoffentlich! Was wir angesichts des ganzen militärischen Wahnsinns brauchen, sind mehr Meutereien.



Zum Schluss noch einmal zu Karl-Theodor zu Guttenberg: Viele der Vorgänge, die hier beschrieben wurden, gehen nicht auf sein persönliches Verschulden zurück. Sie liegen in der Natur des Prinzips „Militär“. Zu Guttenberg hat die Strukturen von seinen Vorgängern „geerbt“, er hat sie aber auch nie ernsthaft in Frage gestellt. Dies ist auch wegen der internationalen Verflechtung militärischer Demütigungsstrukturen nicht so leicht möglich. Befehl und Gehorsam „müssen“ im Nato-Verbund gelten. Offiziere aus einem Land müssen Untergebenen aus einem anderen Land Befehle geben können, ohne sich dabei durch Reste von Würde und Eigenwillen gestört zu fühlen. Guttenbergs Schuld besteht also – abgesehen von der Plagiator-Affäre und übertriebenem Selbstdarstellungsbedürfnis – „nur“ darin, in einem vorhandenen System mit geschwommen zu sein.



Endgültig Schluss sein muss nach dieser Kette von Fehlleistungen aber mit jeglichem „Gutti-Kult“. Es war nicht mehr zu ertragen, dass uns der Baron als politisches Schwergewicht verkauft wurde, der quasi automatisch demnächst als Kanzler über uns herrschen wird. Sicher zeichnet er sich durch „Stehvermögen“, „Charisma“ und eine gewisse Effizienz aus. Die Abschaffung der Wehrpflicht kann ich gerade auf der Basis der eben angestellten Überlegungen nur begrüßen. Allerdings dürfte den Minister kaum Menschenfreundlichkeit dazu motiviert haben dürfte, sondern finanzielle Erwägungen und der Drang, eine „professionelle Eingreiftruppe“ zu schaffen, die die halbe Welt mit deutschen Patronenhülsen sprenkeln wird. Guttenberg wirkte streckenweise wie ein „Großer“, was ihm insofern erleichtert wurde, als man unter lauter Zwergen leicht wie ein Riese wirken kann. Der Polit-Riese allerdings ist ein Scheinriese – und zwar buchstäblich im Sinn von Michael Endes famosem „Herrn Tur Tur“. Die Figur aus dem Kinderbuch „Jim Knopf“ wurde umso kleiner, je näher man sie betrachtete.



Es braucht schon viel publizistische Skrupellosigkeit und extrem unkritische Konsumenten, um einem Volk diesen Mann über Jahre als kommenden Heiland aufschwatzen zu können. Jemanden, der ökonomisch erkennbar die Interessen seiner eigenen privilegierten Klasse vertritt und der den Luftschlag auf Kundus als „angemessen“ bezeichnet. Wenn 140-facher Mord „angemessen“ ist, fühle ich mich mehr in der Welt des „Unangemessenen“ zu Hause. Wenn dieser Mann Hoffung repräsentiert, bin ich lieber verzweifelt. Und selbst auf die Gefahr hin, dass die nächste Kanzlerschaft zwischen Ursula von der Leyen, Norbert Röttgen und Sigmar Gabriel ausgekartelt wird – ich wäre froh, wenn der Alptraum von einem „Kanzler zu Guttenberg“ nun endlich ausgeträumt wäre.



23. Februar 2011
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