"Guck mal, man kann es ja auch anders machen"

Die Schweiz hält sich gerne für den Demokratieweltmeister. Aber man kann auch ohne formelle direktdemokratische Institutionen heisse Konflikte lösen, zum Beispiel mithilfe einer durch Zufall bestimmten Bürgergruppe. Schorndorf in der Nähe von Stuttgart hat es vorgemacht.

Die Stadt Schorndorf mit 40 000 Einwohnern stand vor einem heiklen Problem. Die einen wollten Windenergie, die Andern keine Windräder. Die Schorndorfer fanden eine einvernehmliche Lösung. Wie sie funktionierte, erklärt Oberbürgermeister Matthias Klopfer (SPD) in einem Videogespräch mit der deutschen «Stiftung Mitarbeit»:

Als ich 2006 zum Oberbürgermeister gewählt worden bin, war mir klar, dass Politik im 21.Jahrhundert die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger braucht. Ich habe nie verstanden, warum man für Bürgerbeteiligung so wenig Geld ausgibt. Für jeden Statiker, für jeden Bodengutachter, für jedes Vogelgutachten gibt eine Stadt selbstverständlich Geld auch. Auch für Bürgerbeteiligung müssen wir einen Boden schaffen und Geld dafür bereitstellen. Das ist sicher ein Schlüssel zum Erfolg.
Ob Sport- oder Verkehrsentwicklungsplanung, Schule oder Integrationskonzept: In Schorndorf haben wir in den letzten Jahren positive Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung gemacht. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es gut ist, wenn sich der Oberbürgermeister selbst zurücknimmt, damit die Bürgerinnen und Bürger wirklich frei diskutieren können. Die spannende Frage für mich ist immer, wann kommt der Gemeinderat mit ins Spiel? Da haben wir unterschiedliche Modelle. Wenn er von Anfang an dabei ist, führt das zwar zu schnelleren Ergebnissen, teilweise bestimmen dann aber auch die Gemeinderäte die Diskussion. Deshalb haben wir es auch schon ohne Gemeinderäte gemacht.

Der Ausbau der Windenergie im Zuge der Energiewende war ein Ziel der baden-württembergischen Landesregierung. Und so kamen auf einen Schlag viele Windkraftstandorte ins Gespräch. Und auch bei uns gab es Gegner und Befürworter von Windkraftanlagen, das ist ja klar. Grosses Glück in Schorndorf war, dass der Gemeinderat einstimmig eine Bürgerbeteiligung beschlossen hat. Dann haben wir gemeinsam mit unserer Nachbarkommune per Zufallsstichprobe 70 Bürgerinnen und Bürger ausgewählt und diese Gruppe ergänzt durch Vertreterinnen und Vertreter von Bürgerinitiativen pro und kontra Windkraft. Diese haben anschliessend eine Bürgerempfehlung erarbeitet, die dann einstimmig vom Gemeinderat beschlossen wurde.

Wir haben zunächst ein externes Institut mit dem Prozessmanagement beauftragt. Es gab dann eine Auftaktveranstaltung, in der über das Vorhaben und den Ablauf der Bürgerbeteiligung informiert wurde. Danach wurden viele Sachfragen kontrovers diskutiert und in einem Fragenkatalog gebündelt, der Grundlage für ein anschliessendes Expertenhearing war. Zudem gab es immer wieder Exkursionen zu verschiedenen vorgeschlagenen Standorten. Die Gesprächsatmosphäre dabei war ganz besonders; durch den intensiven Austausch der Argumente haben alle Beteiligten und auch ich viel gelernt.
Am Ende des Prozesses stand dann die Bürgerempfehlung, die von mehr als 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger zustimmend aufgenommen wurde. Zwar gibt es nach wie vor auch Gegenwind, ich glaube aber nicht, dass der Protest die positive Grundstimmung zum Kippen bringt.

Die Zufallsauswahl von Bürger würde ich sofort wieder machen, es war mit Abstand die beste Bürgerbeteiligung, die wir bislang durchgeführt haben. Wenn es um eine Schulhofgestaltung geht, brauche ich keine Zufallsauswahl, das kann ich mit der Schule machen und mit den betroffenen Nachbarn. Aber in diesem Fall haben uns der gesunde Menschenverstand und die unterschiedlichen Lebenserfahrungen der zufällig ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehr gut getan. Egal ob leitender Angestellter oder einfache Bürgerin: Die Leute freuen sich, dass sie gefragt werden. Die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger führt so interessanterweise auch zu einer Versachlichung von Gemeinderatsdiskussionen, da bin ich immer sehr positiv überrascht. Und plötzlich denkt man, ja guck mal, man kann es ja auch anders machen.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung müssen lernen, dass Bürgerbeteiligung zwar anstrengend ist, dass sie auch Zeit kostet, aber dass es anschliessend in der konkreten Umsetzungsphase für sie als Mitarbeiter leichter wird und die demokratische Legitimation steigt. Die Projektverantwortlichen müssen aber auch Kompetenzen aufbauen und beispielsweise lernen, zu moderieren, weil wir nicht ständig Profis einkaufen können. Schlecht ist es, wenn man Bürgerbeteiligung immer bloss in Krisensituationen macht oder bei einem herausgehobenen Projekt; Bürgerbeteiligung muss Alltagshandeln werden.   

Das ganze Videogespräch ist zu finden unter
www.mitarbeit.de/klopfer_interview_forum_2015.html

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Mehr zum Thema allein - zusammen finden Sie im Zeitpunkt 145 "allein - zusammen"
15. September 2016
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