Dataismus: Die digitale Revolution frisst ihre Kinder

Seit dem Beginn der Aufklärung wird die Welt als Materie verstanden, deren Teile sich in Zahlen ausdrücken lassen. Der gottbasierte Absolutismus wurde durch einen wissenschaftsbasierten Absolutismus ersetzt. Heute ist die Zahlenfülle so gross, dass wir sie nicht mehr mit Logik, sondern nur noch mit statistischer Wahrscheinlichkeit verstehen können.

Der Dataismus, ein Begriff des deutschen Philosophen Byung-Chul Han, ist eine schleichende Epidemie, die um 1650 begann. Anstatt das Ganze zu verstehen, hat man die Welt und ihre Phänomene in ihre Teile zerlegt und vermessen. Die Diktatur der Zahlen konnte anfangen. Heute ist die digitale Welt daran, der realen Welt einen grauen(-haften) Schleier überzustülpen. Big Data und NSA sind nur der sichtbare Teil des Phänomens. Datenerhebungen sollen heute schon einen Anteil von 30 Prozent der Wirtschaftstätigkeit der Industrieländer erreicht haben.


Ohne Statistik geschieht fast nichts mehr auf dieser Welt. Kannst du es belegen? Gibt es eine Studie, die es bestätigt? Das Dilemma ist perfekt: Ohne Zahlen ist eine Meinung wertlos, wird sie mit Zahlen unterlegt, ist die ebenso belegte Gegenstudie sofort zur Hand. Zahlen sind mit dem Nimbus der Exaktheit umgeben. Die Wissenschaft verspricht uns damit Objektivität. In der Folge verschwindet sofort die Bereitschaft, Entscheidungen zu treffen, ohne zuvor im Zahlendschungel einer Studie gewühlt zu haben. 


Traue keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast, sagte Winston Churchill. Das ist keine Aufforderung, generell Entscheidungen ohne Zahlen und Statistiken zu fällen. Für harte Naturwissenschaften wie Astronomie, Physik, Geologie oder Chemie, die materienbasierte oder lineare, geschlossene Systeme untersuchen, ist die Basis von Zahlen und Mathematik sinnvoll. In lebendigen, offenen Sozialsystemen, wo Informationen wie Gesundheit, soziale Gerechtigkeit, Territorialansprüche oder Börsenentwicklung nicht in Meter, Kilogramm, Joule, oder Grad Celsius gemessen werden können, sind die Verzerrungs- und Manipulationspotenziale gigantisch.


Wann hilft die Statistik und wann stört sie?
Galileo, Newton, Freud und Einstein haben ihre bahnbrechenden Entdeckungen ohne Statistiken und Wahrscheinlichkeitsrechnungen gemacht. Beobachtung, Assoziationsvermögen, ein gutes Gedächtnis und logisches Denken waren die tragenden Säulen für neue Entdeckungen.


Statistik bringt – das hat der Wirtschaftsnobelpreis 2013 gezeigt – Absurdes. Da wurden zwei Forscher für sich widersprechende Thesen zur Preisbildung geehrt. Beide, Fama und Shiller, haben ihre Hypothesen mit statistischem Material untermauert. Hat Fama Recht, wenn er behauptet, die Preisbildung an den Finanzmärkten sei rational? Oder ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass Shiller mit seiner Irrationalitätsthese richtig liegt? Die statistischen Ergebnisse in den Gesellschaftswissenschaften – und da gehört die Ökonomie trotz ihres Objektivitätsanspruchs auch dazu – haben eine hohe Wahrscheinlichkeit, nicht zuzutreffen. Rendite- und Risikoprognosen für die Börse werden auf der Basis historischer Zahlen nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit statistisch ermittelt. Das Unangenehme dabei ist, dass in Sozialsystemen unwahrscheinliche Ereignisse viel öfter zu beobachten sind, als es ihre theoretische Wahrscheinlichkeit vermuten liesse. Die errechnete Wahrscheinlichkeit, dass der Börsenkurs an einem Tag mehr als 7 Prozent vom Vortageskurs abweicht, liegt bei einem Ereignis alle 500 000 Jahre. Allein für den Dow Jones wurden solche Ausschläge 46 Mal in 150 Jahren festgestellt.


Ein wichtiger Übeltäter heisst Korrelation. Wird eine Vergleichsstudie über Todeshäufigkeit und Personenmerkmale durchgeführt, fällt die Korrelation zwischen «weisse Haare und gestorbene Personen» besonders hoch aus. Heisst das, dass weisse Haare eine Hauptursache (Kausalität) für den Tod sind? Sicher nicht. Korrelation und Kausalität sind zwei Paar Schuhe. Die Suche der Forscher nach besonders hohen Korrelationen in Finanz-, Gesundheits-, oder Sozialbereichen  ist ein hochspekulativer Prozess. Die Beziehungen zwischen den Elementen sind multi-multifaktoriell, und nichtmessbare Einflüsse spielen mit. Kann man in Zahlen angeben, wie viel Liebe oder Demütigung ein Kind zwischen 0 und 18 Jahren von seinen Eltern erhalten hat?


Beim anderen Übeltäter, dem Reduktionismus, wird das Prinzip der Nichtdualität in Sozialsystemen missachtet. Weil Kontext, Akteure oder beide stets im Wandel sind, kann sich je nach Zeitpunkt eine Änderung positiv oder negativ auswirken. Duale Schlüsse (positiv/negativ, entweder/oder) zu ziehen, führt zur Wahrnehmungsreduktion. Ein Paradoxon ergibt sich, wenn eine Studie beispielsweise besagt, dass es einerseits 85 Prozent der Zürcher blendend geht und anderseits in keinem anderen Kanton die Quote der psychisch hochbelasteten Menschen so hoch ist wie in Zürich. Fazit: Es geht uns gut UND doch nicht. Zahlenkonstruktionen und Korrelationen sind wenig hilfreich.


Digitaler Wissenschaftsreduktionismus baut, analog zur Statistik, auf Nicht-Gedächtnis, Korrelation und Dualität und präsentiert sich dabei als Norm. Die Mechanisierung des Denkens birgt Gefahren und führt zur Absurdität. Die Luzerner IV-Stelle hat Hirnscans eingesetzt, um die Frage der Invalidität bei psychischen Erkrankungen zu beantworten. Kommen keine abnormalen Befunde in den inneren Strukturen des Gehirns ans Licht, kann dem Patienten die IV-Rente gestrichen werden. Das ist doppelt absurd: zum einen sind funktionelle Störungen ohne Gewebebeschädigung sehr wohl möglich. Zum Zweiten ist der Umkehrschluss «keine Krankheit, weil keine ‹objektive› Ursache» erst recht nicht haltbar. Hier wird klar, dass eine rationale Argumentation (keine wissenschaftliche Befunde) missbraucht wird, um politisch-emotionale Ziele (psychisch Kranke sind Simulanten) zu erreichen. 


Die Wissenschaft als postmoderne Glaubensgemeinschaft will die Komplexität des Gehirns mit seinen 100 Milliarden verbundenen Zellen durch  Ist-Soll-Scanbilder bewältigen und verbreitet damit die Illusion, Gesellschaftsphänomene könnten mit Ist-Soll-Zahlen bewertet und kontrolliert werden.


Um die Wirklichkeit wahrzunehmen, stehen uns Sinnesorgane, emotionale Intelligenz oder Erfahrungsaustauch zur Verfügung, und wir können auf Körperempfindungen, Gefühle oder Intuition vertrauen. Die individuelle Prophylaxe gegen Dataismus ist möglich und kann trainiert werden. Jahrmilliardenlang lang ist unser Körper die zuverlässigste Informationsquelle gewesen. Ist diese Körperintelligenz plötzlich bedeutungslos, weil uns immer mehr digitale Roboter umgeben? Werden Körperempfindungen, Intuition, Phantasie und Emotionen als «Hexen» auf dem Scheiterhaufen des Dataismus verbrannt? Es ist nicht zu hoffen!


Wollen wir wirklich nur noch im Zahlenmeer schwimmen, oder in richtigem Wasser? Dann ab in den See! Das Leben ist im Wasser entstanden, und Schwimmen lernt man ohnehin nicht vom Bücherlesen. «Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind», so Albert Einstein. So gilt es, dieses Tabu zu brechen, auch in der Cloud.

--------------

Dr. Jean-Luc Gérard ist Ökonom und Arzt und erforscht die Integration von Kreativität, Gesundheit, Achtsamkeit und evolutionärem Denken im Alltag. Er ist Gründer der «Stressprävention Schweiz», die sich Pilotprojekten mit Hochrisikogruppen und dem Brückenbau zwischen Schulung und Wirksamkeitsforschung widmet.
Kontakt: [email protected]




Mehr zum Thema finden Sie im Heft 136 Berichte aus der Tabuzone
29. April 2015
von: