In den Brunnen steigen

Wie heilen wir – wie finden wir unseren gesunden Kern angesichts so viel Mutlosigkeit? Durch Tiefe, durch Loslassen. Die Samstagskolumne.

Brunnen
«Fühle», sagt die Mimose. «Steig hinab», raunt der Brunnen. «Vertraue deinem Herzen», flüstert die Linde. Foto: Josh Katen

Vor meinem Haus steht eine Linde mit einer herzförmigen Krone. Daneben eine alte Kirche, angeschlossen an ein Schloss, dessen Ursprünge auf das 12. Jahrhundert zurückgehen. Davor, in der Mitte des Platzes, ein Brunnen. Durch das noch laublose Astwerk der Linde leuchtet das strahlende Gelb eines Mimosenbaumes, empfindlich und stark zugleich. 

«Lass los» - so klingt es in dem Namen des Dorfes mit, in dem ich lebe. Und so trage ich die Schichten ab, die sich über lange Zeit um meine Sinne, meine Gedanken und mein Herz gelegt hatten. Stein um Stein entferne ich die Mauern des Gefängnisses, in das ich mich gesperrt habe, um mich zu schützen. Ich habe die Waffen niedergelegt und kämpfe nicht mehr. 

Wie erleichternd es ist, die Dinge nicht mehr als gegen sich gerichtet zu sehen! Wie herausfordernd, keinen Schuldigen mehr zu suchen, keinen Feind mehr. Wie unbequem, bei sich selbst nachzuforschen, anstatt über andere zu richten. «Fühle», sagt die Mimose. «Steig hinab», raunt der Brunnen. «Vertraue deinem Herzen», flüstert die Linde. Die Kirchturmuhr neben dem alten Schloss ist still.

Wie lange noch?

Auch vor einem kleinen französischen Winzerort machen die Ereignisse in der Welt nicht Halt. Entfremdung, Aggressivität, zunehmende Kontrolle und Überwachung, steigende Inflationsrate, Insolvenz- und Pleitewelle, drohende Enteignungen, Energiekrise, Epidemien, über allem die wachsende Gefahr eines dritten Weltkrieges. Behandelt wird, wie stets, das Symptom, auf das die Scheinwerfer weisen. Von Heilung kann keine Rede sein. Und Deutschland demonstriert gegen rechts. 

Ich muss tief hinabsteigen, um den klebrigen Fäden der Mutlosigkeit und Resignation zu entkommen. Wie lange wird es noch dauern? Wie lange wird die Täuschung sich noch halten können? Wie viel werden Gewalt und Zerstörung noch zunehmen müssen, bis die kritische Masse erreicht ist? Wie viele Seelen werden noch verkauft werden, wie viele Herzen gebrochen? Wie viele Leben werden noch unter den Trümmern einer zusammenbrechenden Zivilisation begraben werden?

Immer tiefer zieht es mich hinab. Wo ist das Licht am Ende des Tunnels? Die Dunkelheit macht mir Angst. Angst vor Krieg. Angst vor Entbehrung. Angst vor Schmerz. Angst zu fallen und alles zu verlieren. «Lass es zu», sagt der Brunnen. «Fühle, was du fühlst.» Hinter der Angst erscheint die Wut. So viel Unrecht! So viel Kälte! So viel Verdrehung! Die Empörung läuft mir über den Körper und ich wehre mich nicht. Endlich kommt die Traurigkeit, die sich hinter allem verbirgt. 

Ganz unten

Ich trauere um eine Welt ohne Krieg, ohne Herrschaft und Gewalt, ohne gegenseitiges Vergleichen und Beschuldigen, ohne political correctness und ohne Scheinheiligkeit. Es hat sie gegeben. Könnte ich mich sonst daran erinnern? Ich habe Sehnsucht nach zu Hause, nach einem Ort, an dem die Menschen einander begegnen, ohne Neid, ohne Eifersucht, ohne Selbstgerechtigkeit, ohne Hochmut, ohne sich selbst kleiner oder grösser zu machen, als sie sind. 

«Fang bei dir an», höre ich es im Brunnen rauschen. An mir ist es, diesen Ort in meinem Inneren zu erschaffen, die Wogen sich glätten zu lassen und das innere Wasser zu klären. Niemand anderes als ich kann in mir für Frieden sorgen. Ich bin es, die die Gedankenblasen zum Platzen bringen kann, die meinen Himmel verdunkeln. Ich habe die Möglichkeit, die Gedanken an Ohnmacht und Verzweiflung loszulassen und bin frei, mich mit dem zu verbinden, was mich nach oben zieht und mir hilft: eine Baumkrone, ein Brunnen, ein Kirchturm und ein Schloss.

Es ist spät am Abend, als ich wieder auf dem Platz stehe. Das Schloss ist hell erleuchtet. «Du hast die Macht. Du bist Königin in deinem Reich. Niemand kann sie dir ohne dein Einverständnis nehmen.» Ich sitze noch lange wach. Als nach dunkler Nacht die Turmuhr den Morgen einläutet, verneige ich mich vor der herzförmigen Krone der Linde neben der Kirche und gehe in den neuen Tag. 


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Kerstin Chavent

Submitted by cld on Mi, 05/17/2023 - 22:38
Kerstin Chavent

Kerstin Chavent lebt in Südfrankreich. Sie schreibt Artikel, Essays und autobiographische Erzählungen. Auf Deutsch erschienen sind bisher unter anderem Die Enthüllung,  In guter Gesellschaft, Die Waffen niederlegen, Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist, Krankheit heilt und Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Ihre Schwerpunkte sind der Umgang mit Krisensituationen und Krankheit und die Sensibilisierung für das schöpferische Potential im Menschen. Ihr Blog: „Bewusst: Sein im Wandel“.