Die Qual der Wahl(-freiheit)

Ein Esel steht vor zwei Heuhaufen, beide gleich gross, beide gleich weit von ihm entfernt. Welchen soll er zuerst fressen? Der Esel überlegt. Und überlegt. Und überlegt. Bis er an seiner Unschlüssigkeit verhungert.
Das Gleichnis aus der Antike erzählt man sich heute noch, um der Qual der Wahl auf die Schliche zu kommen. Aber es ist falsch: Die Wahl unter wenigen genau umgrenzten Alternativen ist nämlich besser, als gar keine Wahl zu haben, das zeigt die Forschung. Der Esel müsste schon sehr dumm, könnte er sich nicht zwischen zwei Heuhaufen entscheiden.

Der französische Philosoph Jean Buridan definierte Freiheit im 14. Jahrhundert als Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, was später zu einem Lehrsatz des Liberalismus wurde: Je mehr Möglichkeiten der Mensch besitzt, desto freier ist er. Doch auch das ist falsch – irgendwann sind der Möglichkeiten genug und jede weitere verwirrt uns nur. Man denke an die erdrückenden Joghurt-Regale im Supermarkt. Die Auswahl ist heute beinahe unendlich, denn in einem globalisierten Markt kann jederzeit und überall eine noch bessere, noch günstigere Alternative auftauchen. Wir müssen nicht nur zwischen Joghurt «fettarm», «Fitness» und «Weight-Watcher» entscheiden, sondern auch zwischen Supermarkt und Webshop, zwischen Milch vom regionalen Bauern und Importmilch. Dabei vertrödeln wir so viel Zeit mit unwichtigen Entscheiden, dass die essentiellen Dinge auf der Strecke bleiben. Man könnte gar behaupten: Je freier der Markt, desto unfreier der Mensch.
Wie entscheidet also der Esel der Moderne, aufgewachsen im Emmental, konfrontiert mit der ganzen Welt? Er reist um den Erdball, um jeden auffindbaren Heuhaufen zu begutachten. War er zuvor verwöhnt, stirbt er irgendwo zwischen Grönland und Feuerland an Überanstrengung. Ist er zäh, entschliesst er sich in Neuseeland für einen der beiden Haufen zu Hause (auch Esel sind Gewohnheitstiere). Dieser allerdings, ist inzwischen verrottet – und der zähe Esel verhungert.


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10. August 2010
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