Kinder sind Riesen

Sie werden allerdings von Erwachsenen klein gemacht, auch weil wir alle selbst ein verletztes Kind in uns tragen. Gedanken über Schule.

Selbstlerner in Tamera
Begeisterung ist der beste Lernmotor. In der Schule von Tamera. Foto: Alec Gagneux

Ich nehme an, dass die meisten, die diesen Beitrag lesen, ganz «normal» zur Schule gegangen sind. Haben wir dort etwas für’s «richtige» Leben gelernt? Haben wir dort unsere Talente und Begabungen entdecken und ausbilden können? Vielleicht ist es ja einigen gelungen. Aber ist denn Rücksicht genommen worden z.B. auf unsere unterschiedlichen Entwicklungsstufen? 

Nein! Es geht in unserem bestehenden staatlichen Schulsystem nur darum, ein «Gefäss» zu füllen und das vorgegebene Lernpensum zu erfüllen. Alle sollen zur gleichen Zeit in Linie und auf den gleichen Stand gebracht werden: Lernen zu lernen, lernen zu gehorchen und sich zu fügen. Lernen für die nächste Klassenarbeit oder Klausur, um gute Noten zu erzielen und auf die nächst höhere Stufe zu gelangen. Danach kann man das Erlernte ruhig wieder vergessen – es sei denn, der Inhalt hat einen tatsächlich interessiert – in der Regel ist es aber nicht wichtig für das richtige Leben.

Das Resultat: Die Schüler bekommen eine gute Ausbildung, die sie zum gehorsamen Untertan macht – und wenn dann junge Soldaten auf Anweisung unseres «Kriegsministers» Pistorius in die Schulen gehen, um die Heranwachsenden von der Wichtigkeit ihrer Kriegstauglichkeit zu überzeugen, dann weiss man, was die Uhr geschlagen hat …

Ein Kind ist kein Gefäss, das gefüllt,
sondern ein Feuer,
das entzündet werden will.
(François Rabelais)

Wie oft habe ich schon in der Vergangenheit beobachten können, dass kleine Kinder sich unbändig auf die Schule gefreut hatten und die Einschulung kaum erwarten konnten. Und dann? Nach einigen Wochen war oft die Freude dahin. Schule war zur Pflicht und oft sogar zur Qual geworden. 

Nur in wenigen Fällen konnte bei den jungen Menschen in der Schule ein echtes Feuer entzündet werden. Eine freie Entwicklung nach eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen ist nicht vorgesehen. Bildung gibt es nur nach Lehrplan – und für die ethische Bildung und die wahren sozialen Werte des Lebens oder gar der Herzensbildung bleibt kein Platz. 

Über dem Eingang einer tibetischen Schule entdeckte ein Reisender folgenden Text:

Wenn ein Kind kritisiert wird, lernt es zu verurteilen. 
Wenn ein Kind angefeindet wird, lernt es zu kämpfen. 
Wenn ein Kind verspottet wird, lernt es, schüchtern zu sein. 
Wenn ein Kind beschämt wird, lernt es, sich schuldig zu fühlen. 
Wenn ein Kind verstanden und toleriert wird, lernt es, geduldig zu sein. 
Wenn ein Kind ermutigt wird, lernt es, sich selbst zu vertrauen. 
Wenn ein Kind gelobt wird, lernt es, sich selbst zu schätzen. 
Wenn ein Kind gerecht behandelt wird, lernt es, gerecht zu sein. 
Wenn ein Kind geborgen lebt, lernt es zu vertrauen. 
Wenn ein Kind anerkannt wird, lernt es, sich selbst zu mögen. 
Wenn ein Kind in Freundschaft angenommen wird, lernt es, in der Welt Liebe zu finden. 

Wenn jede Lehrerin und jeder Lehrer sich diese Sätze jeden Morgen mit echter emotionaler Beteiligung durchlesen würde, wären die Umgangsformen im Miteinander in den Schulen sicher schon bald von anderer Qualität.

Ja, es liegt vieles im Argen im Schulsystem. Es begann im 16. Jahrhundert mit dem eigentlich guten Gedanken der Reformation, ein allgemeines (kirchliches!) Bildungssystem mit Schulen für Jungen und Mädchen einzuführen. Dieser Gedanke setzte sich im Laufe der nächsten Jahrhunderte fort. Immer wieder gab es Absichtserklärungen für die Einführung einer allgemeinen Schulpflicht. Durch die bürgerliche Bewegung der Aufklärung im 18. Jahrhundert bekam dieser Gedanke immer mehr Gewicht. Aber erst im 20. Jahrhundert wurde in der Verfassung der Weimarer Republik die allgemeine Schulpflicht für ganz Deutschland festgelegt. Auf Wikipedia hier nachzulesen.

Was also als guter Gedanke für eine Allgemeinbildung aller Menschen vor ca. fünfhundert Jahren begann, führte durch die immer noch bestehenden patriarchale Struktur, mit der Herrschaft des Menschen über Menschen, zu dem Dilemma des heutigen Schulsystems. 

Nicht nur die Abneigung der Schüler gegen Schule in der bestehenden Form, die sie zum Teil sogar als qualvoll empfinden, wird immer grösser. Auch die Nachfrage unzufriedener Eltern nach alternativen Schulformen steigt. Davon gibt es in Deutschland schon eine relativ grosse Anzahl. Neben den bekanntesten Alternativmodellen wie Waldorf, Montessori und Freie Schule, existieren noch etliche weitere Konzepte. Eine Übersicht darüber finden Sie hier.

Durch die bestehende gesetzliche Schulpflicht, die bei Nichtbefolgung zu hohen Strafen führen kann, wird einer weiteren Möglichkeit der Beschaffung von Wissen, dem Homeschooling oder Freien Lernen ohne Schule, grosse Steine in den Weg gelegt. Das sogenannte Freilernen ist in Deutschland sogar gesetzlich verboten. In der ZDF-Mediathek gibt es darüber einen sehenswerten 25-minütigen Beitrag mit einem Beispiel, wie Bildung ohne Schule trotzdem funktionieren kann. 

Die Freilerner-Solidargemeinschaft e.V. schreibt dazu: Unter «Freilerner» verstehen wir Menschen, die sich ohne Bindung an eine Schule oder an eine andere Bildungsinstitution selbstbestimmt und selbstorganisiert bilden. 

Was in vielen Ländern selbstverständlich ist, nämlich die Möglichkeit, seine Persönlichkeit auf diese Art frei zu entfalten, widerspiegelt lediglich die Grundsätze einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft und ist aus Respekt vor der Menschenwürde geboten.

Einer der bekanntesten Freilerner ist André SternSeine Überzeugung der Möglichkeit des freien Lernens drückt er so aus: «Kinder sind Riesen – und sie haben unendlich viel Potenzial. Kinder werden allerdings von Erwachsenen klein gemacht, auch weil wir alle selbst ein verletztes Kind in uns tragen, das Kind, dem eines Tages gesagt worden ist: ‚Kind, so wie du bist, bist du nicht gut.‘»

In seinem Buch «... und ich war nie in der Schule» beschreibt der Sohn des Pädagogen und Malort-Erfinders Arno Stern, wie er sich in seiner Kindheit und Jugend verschiedenste Fertigkeiten selbst beibrachte, wie etwa das Metalltreiberhandwerk, Tanz oder Fotografie. Später begann er, sich für Musik zu interessieren, lernte Gitarre spielen und las Biographien von Komponisten. Das Feuer dafür hat er durch seine ungebremste Neugier selbst in sich entzündet.

Heute arbeitet André Stern als Musiker, Komponist, Gitarrenbauer, Referent und Journalist. Er hat zahlreiche Bücher verfasst und ist Vater zweier Kinder, die ebenfalls keine Schule besuchen. Auch sein Bruder, der heute freischaffende Philosoph Bertrand Stern, hat eine sehr interessante Vita ohne «Schulbildung». So hatte er u.a. von 2011 bis einschl. 2012 einen Lehrauftrag an der Universität Kassel. 

Trotz all diese Beispiele können wir dennoch sehr froh sein, dass es die Einrichtung der staatlichen Schulen gibt. Denn die wenigsten Eltern sind heute in der Lage, ihren Kindern das Umfeld für freies Lernen zu bieten. In Wohn- und Lebens-Gemeinschaften ist das wesentlich leichter einzurichten, und vielleicht gibt es dabei sogar die Möglichkeit, eine eigene freie Schule zu gründen. Hier ein Beispiel aus Tamera mit der «Schule der Hoffnung» . 

Nicht zu vergessen: Viele Kinder, mit unserer seit Jahrtausenden bestehenden patriarchalen Prägung, brauchen eine gewisse Führung. Diese Führung sollte allerdings vor allem dazu da sein, das Feuer in ihnen zu entzünden, damit sie die Möglichkeit in sich selbst entdecken, zu selbstdenkenden selbstverantwortlichen freien Menschen zu werden.

Vielleicht findest Du heute Abend wieder die Zeit und Möglichkeit (Tipp: Handywecker für kurz vor 21 Uhr stellen), dich den gemeinsamen Gedanken für eine grosse Vielfalt von verschiedenen Lern- und Schulformen anzuschliessen und diese ins morphogenetische Feld des Universums zu schicken. Nur gemeinsam können wir sie in die Richtung wenden, die für alle kleinen und grossen Menschen zum GUTEN LEBEN FÜR ALLE und zum Frieden auf Erden führt. 

Ich wünsche uns allen eine gute Frühlingswoche mit vielen guten Gedanken für freudevolles freies Lernen.

Eva-Maria

Eva-Maria Gent
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www.gesellschaft-in-balance.de 
www.charta-demokratiekonferenz.org


 

06. Mai 2024
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Kommentare

"Eine freie Entwicklung nach…

von meineMeinung
"Eine freie Entwicklung nach eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen ist nicht vorgesehen. Bildung gibt es nur nach Lehrplan – und für die ethische Bildung und die wahren sozialen Werte des Lebens oder gar der Herzensbildung bleibt kein Platz." Eine treffende Beschreibung des heutigen staatlichen Schulwesens... Danke für die schönen Gedanken und Beispiele, wie es anders gehen kann.