Sie lebt in den Köpfen der Anderen


Irgendwie gibt es sie, aber irgendwie auch nicht, denn sie ist ein Wesen zwischen Realität und Virtualität. Wir haben trotzdem mit Dora Laetitia Asemwald über ihre schwierige Identität geredet. Oder doch nicht?

E rinnern Sie sich noch? Damals, als man im Internet sein konnte, wer man wollte. Lange bevor es soziale Medien gab, es aber trotzdem immer darum ging, sich mit anderen Menschen auszutauschen. Als sich das Internet in Foren und Chatrooms abspielte. Kein Klarnamenszwang wie bei Facebook. Einfach Namen ausdenken, beliebiges Profilbild hochladen und los ging es. Der Phantasiename wurde akzeptiert und wie selbstverständlich von anderen Usern benutzt. Wer wollte, konnte sich eine neue digitale Identität schaffen.
Der Cartoonist Peter Steiner fing diese Realität 1993 für den New Yorker in einer Zeichnung ein: Ein Hund bedient einen Computer und erklärt dem Hund neben ihm: «Im Internet weiss niemand, dass du ein Hund bist.»

Dora Laetitia Asemwald kommt noch aus dieser Zeit. Sie hat kurze schwarze Haare, dunkle Augen, ein schmales Gesicht. Auf ihrem Profilbild sind ihre Augen geschlossen und ihr Gesicht leicht nach oben gestreckt. Sie ist am 25. Februar 1975 geboren und hat auf Facebook 1899 Freunde. Wir alle leben im Internet, aber Dora Laetitia Asemwald lebt nur dort. Die Person auf den Bildern ihrer
Facebookseite existiert nicht. Sie tritt durch Zeichnungen und per Photoshop veränderte Porträts in Erscheinung. Mal neben James Dean beim Rauchen in New York, mal in der Badewanne im Zimmer mit David Bowie oder eben eher schlicht als Zeichnung. Es ist einigermassen offensichtlich, dass es sich hier nicht um eine Person handelt, wie Sie oder ich eine sind. Auf Facebook beschreibt sie sich als ein Wesen «in der Grauzone zwischen greifbarer und virtueller Realität». Mit anderen Worten: Dora Laetitia Asemwald ist erfunden.

«Ich hatte keine Ahnung, was aus ihr so alles entstehen könnte», erzählt Martin Zentner. Er ist die Person hinter Dora Laetitia Asemwald. Der 45-jährige Stuttgarter Grafiker zeichnete sie vor zwölf Jahren in sein Skizzenbuch. Wie bei all seinen Figuren dachte er über diesen Charakter nach. Doch Dora war anders. Sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte die Idee eines Comics mit Dora in der Hauptrolle. Doch ein Comic ist zu aufwendig, wenn er gut werden soll, dachte er. Zudem war Zentner als Chefredakteur einer Zeitschrift für Design ziemlich eingespannt.
In der digitalen Welt erweckte er sie dann langsam zum Leben. Mit einem gezeichneten Profilbild wurde sie bei OpenBC angemeldet, dem Vorläufer der Businessplattform Xing. Dort begann sie mit der Welt zu interagieren.
Neugierig verfolgte Martin Zentner Doras Resonanz im Internet: «Ich war sehr früh schon in sozialen Netzwerken unterwegs. Mich hat interessiert, was ihr dort passiert. Bisher war sie ja nur eine Figur in meinem Skizzenbuch.» Er erlebte, wie Menschen mit ihr Geschäfte machen wollten oder sie anbaggerten. «Einer wollte sich gleich mit ihr treffen und hatte schon mal seine Masse untenrum angegeben. Eine ungewöhnliche Erfahrung. Ich habe vorher nie erlebt, wie es ist, als Frau wahrgenommen zu werden.»
Aber Dora macht auch viele positive Erfahrungen. «Ich wurde auch von Frauen angeschrieben. Sie störte es nicht, dass ein Mann für mich an der Tastatur sitzt. Eine hat mir viele Geschichten erzählt, aus ihrem Leben, wie einer besten Freundin.» Wer Dora verstehen will, sollte auch mit Dora chatten. Auch wenn in Wahrheit Martin Zentner schreibt. «In zwölf Jahren ist viel passiert. Wenn ich für sie schreibe, denke ich anders», erzählt er.
Bei Xing überlebte sie nicht lange. Irgendwann flog auf, dass es Dora nicht so gibt wie andere Menschen. Sie wollten ihren Ausweis sehen, der ihre tatsächliche Existenz beweist. Dies war das Ende für Dora auf der Plattform. Der ihr von Zentner ausgestellte Ausweis der «Virtuellen Republik von Idorra» half da auch nicht mehr. «Als Facebook sich langsam füllte, war sie schon da», erzählt Zentner. Doch streng genommen hält sie sich auch dort illegal auf.

Martin Zentner geht es nicht um Betrug oder Täuschung. Dora ist kein Zweitprofil, um andere auszuspionieren. Niemand soll absichtlich hinter das Licht geführt werden. Höchstens, um ein bisschen zu verwirren und die so reell scheinende digitale Welt für einen kurzen Moment zu hinterfragen.
Dora Laetitia Asemwald ist anders als ein Charakter in einer Geschichte. Sie ist mehr als Anna Karenina oder Harry Potter. Sie lebt durch die Interaktion mit anderen. Die sozialen Medien haben sie erst möglich gemacht. Doras Zeit ist jetzt. Vor zwanzig Jahren wäre sie undenkbar gewesen. Für sie ist es die beste aller ihr bekannten Zeiten. «Hätte ich vor hundert Jahren gelebt», erzählt Dora, «hätte ich wahrscheinlich für avantgardistische Zeitschriften geschrieben. Die gab es damals ja zur Genüge. Aber es wäre schwierig mit dem Dialog gewesen».
Sie ist nicht die einzige Kunstfigur, die es von einer Idee ins wirkliche Leben geschafft hat. Der fiktive SPD-Bundestagsabgeordnete Jakob Mierscheid ist ein weiteres Beispiel. Er wurde 1979 von zwei SPD-Politikern ins Leben gerufen und ist seitdem laut Webseite des Bundestages als Abgeordneter gelistet – auch wenn ihn noch niemand gesehen hat. Doch eine Interaktion findet statt: Vom damaligen Fraktionschef Franz Müntefering bekam er eine Abmahnung und 2013 gratulierte ihm der deutsche Bundestagspräsident Norbert Lammert zum 80. Geburtstag. Der technische Leiter der SPD-Bundestagsfraktion Friedhelm Wollner fasste es passend zusammen: «Niemand zweifelt daran, dass er nicht wirksam ist, und deshalb zweifelt auch niemand daran, dass es ihn gibt.»

«Um wahrgenommen zu werden, kann ich nicht einfach in der Gegend rumstehen», sagte Dora im Facebookchat. «Ich muss kommunizieren, um zu sein. Wie alle Menschen lebe ich in den Köpfen der anderen.» Auf ihrem Blog formuliert sie es sogar noch drastischer: «Um existieren zu können, brauche ich Menschen, die an mich glauben.» Eigentlich etwas zutiefst Menschliches. Und zu Recht fragt sie: «Stell dir mal vor, niemand würde an dich glauben. Würde dich das nicht auch ziemlich beuteln?»
Martin Zentner geht es bei Dora um das Erzählen von Geschichten: «Eine Freundin hat mir gesagt, dass die Welt nicht aus Atomen, sondern aus Geschichten bestünde. Geschichten sind per se virtuell. Und das Netz ermöglicht ihre Verbreitung wie nie zuvor.»
2015 hat der New Yorker die beiden Hunde erneut das Internet kommentieren lassen. Diesmal sagt der eine Hund zum anderen: «Erinnerst du dich noch, als im Internet niemand wusste, wer du bist?» Das Internet hat sich verändert. Und Dora Laetitia Asemwald erinnert uns daran.         




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12. Mai 2017
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