Soziokratie – Betriebssystem für Selbstverantwortung

Sie wollten flache oder gar keine Hierarchie. Im Team gab es Dauer-Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung. In Sitzungen gab es immer dieselben zwei oder drei, die zu viel sprachen, und die vielen, die schwiegen. Soziokratie war eine Lösung.

soziokratische Kreise
Soziokratische Kreise. Screenshot Erklärvideo

Jedes Sozialgefüge - ob Dorfgemeinschaft, Unternehmen, Bürgerinitiative oder Familie - steht irgendwann vor der Machtfrage. Wer bestimmt - das Gerangel einzelner Egos oder die Kompetenz aller? Wie kann die kollektive Intelligenz besser genutzt werden? Wie werden mehr Beteiligte motiviert, sich mit dem Ganzen zu identifizieren? Geht das auch im Arbeitsalltag mit realistischem Zeitaufwand? Wie berücksichtigt man in einer demokratischen Entscheidung alle Meinungen, nicht nur die der Mehrheit? Kurz gesagt, wie entsteht ein entscheidungsfähiges Wir?

Die Frage ist nicht neu. Sozialreformer aller Zeiten entwickelten Antworten darauf, experimentierten mit ihnen, verwarfen sie und fanden neue. 

- Pyramidale Hierarchie erwies sich als nicht nachhaltig - irgendwann merken die Befehlsempfänger, dass sie auch mitreden wollen und lehnen sich gegen die Bosse auf. 

- Demokratie mit einfachen Mehrheitsbeschlüssen ist auf lange Sicht unbefriedigend: Beteiligung wird auf ein Handheben oder Kreuzchen-machen reduziert, Entscheidung sind leicht zu manipulieren, und die unzufriedene Minderheit ist vorprogrammiert - man nennt das Politikmüdigkeit.

- Basisdemokratie mit Konsensfindung zermürbt mit ihren Endlosdiskussionen viele Gruppen und entlarvte sich als Diktatur der Bremser: Jeder konnte Weiterentwicklung blockieren. 

 

Was könnte die Lösung sein?

Aus Kybernetik, Informatik und Quantentheorie kamen verheissungsvolle Ergebnisse: Schwarmintelligenz zeigt, dass natürliche und digitale Systeme, die kollektive Intelligenz nutzen, in vielen Fällen hierarchischen Systemen überlegen sind. Oder Regelkreise aus der Mechanik: Technische und biologische Systeme brauchen ständige Auswertung und Rückkopplung. Ganz simples Beispiel sind Heizkessel, Thermostat und Heizkörper: Ohne Regelung durch das Thermostat heizt der Kessel weiter bis zum Platzen. 

Wie kann man diese Erkenntnisse auf Organisationen anwenden? Wo ist das Thermostat in einem Unternehmen? Antwort: in selbstverantwortlichen Mitarbeitern. Mit dieser Erkenntnis und einer Menge Idealismus entstanden seit den Siebziger Jahren neue "Betriebssysteme". Eines davon ist die Soziokratie. Sie wird seit etwa zehn Jahren auch in Deutschland in Unternehmen und Gemeinschaften angewendet. 

Thomas H, ehemaliger Geschäftsführer eines gemeinschaftlich geführten Unternehmens mit etwa 100 Mitarbeitern aus Brandenburg, sagt, die Soziokratie habe sie aus einigen Engpässen geholt. 

«Wir hatten Dauer-Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung. In Sitzungen gab es immer dieselben zwei oder drei, die zu viel sprachen, und die vielen, die schwiegen. Bei wichtigen Entscheidungen kam es zu einem Schlagabtausch, bis einer sich durchsetzte. Durchgesetzte Entscheidungen sind aber nicht belastbar, denn sie werden nicht von allen getragen.»

H. lernte die Soziokratie kennen und erkannte gleich ihren Wert. Er und ein kleines Team liessen sich in die Funktionsweise einführen. Soziokratie besteht aus vier Elementen:

  • Die soziokratische Wahl

  • Der Konsent

  • Das Kreisprinzip

  • Die doppelte Bindung

 

Die soziokratische Wahl

In der Soziokratie zählen Kompetenz, Einsatz und Verantwortungsbereitschaft mehr als Namen und Posten. In einem soziokratischen Unternehmen zählt jede Stimme, und der einfachste Bürobote oder Nachtwächter kann bei entsprechendem Engagement in ein hohes Gremium aufsteigen. Wie findet man die richtigen Repräsentanten? Durch Wahl. 

Eine soziokratische Wahl besteht aus drei Runden: In der ersten Runde schlägt jeder reihum offen und transparent einen Menschen vor, den er oder sie in der Position sehen möchte - und begründet die eigene Wahl. 

T. H.: "Bereits dadurch kommt unglaublich viel realistische Wertschätzung auf den Tisch. Menschen, die sich nicht selbst aufstellen würden, weil sie sich das nicht zutrauen, erfahren auf diese Weise, welches Potential andere in ihnen sehen. Andere, die sonst wie selbstverständlich einen Posten übernehmen, müssen sich neu bewähren. Durch das direkte Feedback bei der Wahl erhalten die Menschen Ermutigung und eine realistische Einschätzung ihrer Fähigkeiten."

In einer zweiten Runde kann jeder im Kreis seine Meinung noch einmal ändern und auf die neuen Informationen eingehen. Jetzt kann man sich auf wenige Kandidaten fokussieren. 

Vor der dritten Runde macht die Moderation aus allen Nennungen einen Vorschlag - und anschliessend kann jeder im Kreis Stellung nehmen, also wählen. Dazu gibt es drei Möglichkeiten: Das Einverständnis, die Enthaltung oder einen schwerwiegenden Einwand. Erhält die vorgeschlagene Person keinen schwerwiegenden Einwand - auch nicht von ihr selbst - ist sie gewählt. Bei einem schwerwiegenden Einwand wird nachverhandelt.

Thomas H.: «Auch das kann sehr konstruktiv sein. Einmal gab es den schwerwiegenden Einwand, dass die beste Kandidatin gar nicht genug Zeit hat, da sie mit ihren Kindern schon ausgelastet war. Die gemeinsame Lösung war, dass mehrere Menschen sich zur Kinderbetreuung anboten. So erfuhr die Kandidatin auch, wie wichtig sie den Wählern war.»

Mit Einverständnis, Enthaltung oder schwerwiegendem Einwand sind wir beim nächsten Thema.

«Ich habe als Mitarbeiter selbst erlebt, wie frustrierend es sein kann, wenn man nicht gehört wird, oder vor vollendete Tatsachen/Entscheidungen gestellt wird. Und ich habe als Führungskraft erlebt, wie schwierig es sein kann, weitreichende Entscheidungen alleine treffen und verantworten zu müssen. Die Soziokratie spricht mir aus dem Herzen. Es gibt niemanden, der Befugnis und Macht über andere hat. Ich habe Freude an guten Kooperationen, der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft/Gruppe und an Augenhöhe im Miteinander. Und das erlebe ich in der Soziokratie. In einem gemeinschaftlichen Prozess werden Lösungen für Probleme erarbeitet und danach umgesetzt.»
Thorsten Scherbaum, Coach und Experte für Führungskräfte

Der Konsent

Das Wort Konsent stammt aus dem Holländischen und wird oft mit Konsens verwechselt. Konsens aber heisst: Alle müssen einverstanden sein. Das ist mühsam und bedeutet, dass jeder ohne Angabe von Gründen den Prozess blockieren kann. Dagegen meint Konsent: «Ich habe keinen Einwand gegen die vorgeschlagene Lösung. Es ist vielleicht nicht meine Lieblingslösung, aber ich kann die Umsetzung der Lösung trotzdem mittragen.» Dieser feine Unterschied bringt eine ganz andere Praxis.

Thomas H. aus seiner Erfahrung«Die Grundhaltung im soziokratischen Kreis ist Zuhören - nicht Überreden oder Überzeugen. Für die Entscheidung im Konsent braucht es vor allem eins: eine gute und lebendige Moderation.»

Und so geht es: Ein Kreis bearbeitet ein Problem und jemand macht einen abstimmungsfähigen Vorschlag. Dann gibt es zunächst eine Runde für Verständnisfragen. Wichtig: in dieser Phase sind noch keine Meinungsäusserungen gewünscht, alle sollen zunächst den Sachverhalt richtig verstehen.

H.: «Hier wird schon in 50 % aller Fälle die Entscheidung getroffen - der Sachverhalt ist oft zwingend, und alle stimme zu, sobald alle Unklarheiten beseitigt sind.»

Erst in der zweiten Runde, falls es sie noch braucht, geht es um Meinungsäusserungen. Jeder, egal ob Vorstand oder einfaches Mitglied, hat das Recht auf einen schwerwiegenden Einwand. Die Moderatin fasst immer wieder das Gesagte zusammen und macht Vorschläge, die Einwände zu integrieren. Auf diese Weise entwickelt sich der ursprüngliche Vorschlag weiter, gewinnt an Komplexität, modifiziert sich an einigen Stellen, wird tragfähiger - bis alle dahinter stehen können. Damit ist eine Entscheidung getroffen, die von allen aktiv erarbeitet wurde und die alle mitverantworten.

Thomas H.: «Schwerwiegende Einwände sind dabei nichts Lästiges, sondern notwendig für den Prozess.» Einen schwerwiegenden Einwand zu erheben, ist zunächst eine sehr persönliche Entscheidung, verlangt Mut und Selbstverantwortung. Immerhin geht man das Risiko ein, als Nörgler betrachtet zu werden. Doch auch wenn man nur ein Bauchgefühl hat und den Einwand noch gar nicht voll begründen kann, darf man ihn ernstnehmen. Die Gruppe wird jetzt im Gespräch herausfinden, wie der Vorschlag so modifiziert werden kann, dass er den Einwand integriert. 

Thomas H.: «In den meisten Fällen gelingt esmanchmal aber auch nicht. Dann vertagen wir die Entscheidung, besorgen mehr Informationen, Kleingruppen können sich treffen, und manchmal hilft es auch, darüber zu schlafen. Einmal hatten wir einen ganzen Tag über einer Entscheidung gebrütet und sie schliesslich vertagt. Am nächsten Tag ging es dann sehr schnell.»

Auch der Einwendende ist verpflichtet, an der Integration mitzuarbeiten. Wenn es gar keine Lösung gibt und er der einzige ist, der nicht mit der Entscheidung leben kann, kann es auch bedeuten, dass er nicht im richtigen Kreis oder im richtigen Projekt ist. Jetzt ist es nützlich, sich noch einmal die gemeinsamen Ziele anzuschauen und miteinander abzugleichen. Letztlich können nur Menschen mit gemeinsamen Zielen eine Entscheidung treffen - und die Uneinigkeit in der Entscheidung ist ein Zeichen für eine andere Ziel- und Prioritätensetzung. Thomas H: «Als letzten Schritt kann ein Einwand auch zum Ausschluss einer Person führen. Ich habe das allerdings noch nicht erlebt, selbst bei schwierigen Debatten nicht.»

 

Das Kreisprinzip

Thomas H.: «Das ewige Pingpong zwischen zwei Kontrahenten hört auf, wenn man im Krei sspricht. Reaktionsmuster werden entzerrt, man kann entspannen. Jeder weiss, dass er zu Wort kommt, und muss nicht darum kämpfen.»

Die Soziokratie trifft alle Entscheidungen in einem System verschiedener Kreise. Ein Kreis ist eine Gruppe von Menschen, die sich für ein gemeinsames Ziel verantwortlich fühlen. Innerhalb ihrer Domäne, die jeweils genau definiert ist, treffen sie ihre Entscheidungen autonom.

Thomas H.: «Wir haben verschiedene Fachkreise eingerichtet und festgestellt, dass es dem Gesamtunternehmen viel Zeit spart und effizient ist, wenn ein Teil der Entscheidungen dort getragen wird, wo die Menschen es verantworten.»

Als optimale Grösse für einen Kreis gibt er 10-12 Teilnehmer an, bei mehr Menschen sei es schwierig, den Fokus zu halten. Jedes Mitglied in einem soziokratischen Unternehmen sollte Teil eines Kreises sein. So ist gewährt, dass alle Mitverantwortung für das Ganze tragen. 

Über alle Entscheidungen und die Prozesse wird Protokoll geführt, so dass sie auch für Menschen nachvollziehbar sind, die nicht dabei waren - und damit jeder Kreis auch ein selbst-lernender Organismus mit einer eigenen Geschichte werden kann.

 

Doppelte Bindung

Die Kreise sind das Rückgrat der Unternehmensstruktur. Neben den Fach- oder Arbeitskreisen gibt es in einer soziokratischen Struktur auch den Allgemeinen Kreis oder Koordinationskreis, bei dem alle Informationen zusammenlaufen und dessen Mitglieder den Überblick haben. Er ist vergleichbar dem Management eines normalen Betriebes. In ihm sind alle anderen Arbeitskreise vertreten.

Das System der Kreise braucht eine dynamische Vernetzung, und zwar in zwei Richtungen: Jeder Kreis wählt eine Person, die ihn im Allgemeinen Kreis vertritt. Und der Allgemeine Kreis bestimmt zusätzlich einen Vertreter für jeden Fachkreis. Durch diese doppelte Bindung, also zwei Personen, die in beiden Kreisen sind, ist gewährt, dass alle Informationen, aber auch Spannungen, Emotionen, Zweifel in beide Richtungen fliessen. 

Oft gibt es zusätzlich einen Topkreis, der am ehesten einer Art Kuratorium entspricht. Hier sind manchmal auch externe Experten Mitglied. Die Aufgabe des Topkreises ist es, die Gesamtentwicklung im Auge zu behalten und ein Feedback zu geben, ob der Gesamtverlauf der Entscheidungen der allgemeinen Vision oder den Zielen entspricht. 

Einige Unternehmen führen zusätzlich einen Regelkreis ein. Dieser Kreis prüft die Massnahmen: Waren sie bis zu einem definierten Zeitpunkt erfolgreich? Haben sie sich bewährt? Wenn nicht, macht er Vorschläge, um nachzusteuern.

Thomas H.: «Das wird oft vergessen. Dann macht man zu lange Dinge, die letztlich nicht den richtigen Effekt haben.»

 

Kritik

Man könnte glauben, mit Soziokratie das optimale Betriebssystem für kollektive Intelligenz und Selbstverantwortung gefunden zu haben. Tatsächlich haben sich eine Reihe, auch grosse Weltkonzerne dafür interessiert und Teile davon integriert. Doch etliche von ihnen sind wieder davon abgekommen. Das hat verschiedene Gründe. 

Blogger Dominic Lindner machte eine Untersuchung über die Ausbreitung von Soziokratie in Unternehmen. Die wichtigsten Kritikpunkte, die ihm genannt wurden, waren der bürokratische Aufwand. Soziokratie werde von vielen als langsam und starr wahrgenommen. Viele Mitarbeiter hätten auch nicht immer Lust, tatsächlich so viel mitzubestimmen. So wird gerade in Basiskreisen eine zunehmende Passivität beobachtet.

Auch fürchten Fachkräfte, dass die normale Karriere in soziokratischen Unternehmen nicht mehr möglich ist, denn es wirken andere Dynamiken. Marten Disberg, Unternehmer aus den Niederlanden, sagte der Zeitschrift brandeins: «Wer Soziokratie in einer Organisation praktizieren will, muss Macht aufgeben, nicht die Macht seiner Überzeugungskraft, seiner Expertise, sondern die Über-Macht, die ihn trotz Unwissenheit und Inkompetenz unantastbar macht.» Kurz gesagt - Soziokratie passt doch nicht so gut in den Kapitalismus.

Thorsten Scherbaum, soziokratie-begeisterter Unternehmer und Coach aus der Schweiz, findet nicht, dass eine Methode schon perfekt sein muss, um sie anzuwenden, sondern «gut genug den Moment». Das ist ein weiteres soziokratisches Prinzip: Wir dürfen uns auf etwas einlassen, ohne es perfekt und übergründlich ausgearbeitet haben zu müssen - und es in der Anwendung weiterentwickeln. 

Scherbaum: «Soziokratie ist nichts für Organisationen, die noch nicht reif für einen Paradigmenwechsel sind. Soziokratie ist für Geschäftsführer und Inhaber, die bereit sind, an sich selbst zu arbeiten.»

Geschichte der Soziokratie
Die moderne Soziokratie geht auf Gerard Endenburg aus Rotterdam zurück. Der Elektrotechniker hatte das elterliche Unternehmen mit 150 Mitarbeitern geerbt. Zuvor war er bei dem Reformpädagogen und Quäker Kees Boeke in die Schule gegangen und hatte die Prinzipien von Gleichwertigkeit und Konsens in der Umsetzung erlebt. 1970, als junger Unternehmer, krempelt Endenburg sein Unternehmen um, führt die Prinzipien von Gleichwertigkeit, Transparenz und Gewinnbeteiligung ein. Doch erst als das Unternehmen 1974 durch globale Konkurrenz in eine Krise kommt, zeigt sich seine Stärke. Mitglieder der Belegschaft sträuben sich gegen Entlassung und sagen: Die Bewältigung einer Krise ist Gemeinschaftsaufgabe. Von Ingenieur über Arbeiter und Putzfrau bis zum Buchhalter ziehen alle los und aquirieren neue Aufträge. Nach einem halben Jahr ist die Firma gerettet und muss sogar neue Mitarbeiter einstellen.

Das Modell wird bekannt, die Prinzipien der Soziokratie immer mehr beachtet und werden sogar in der Gesetzgebung verankert. Zahlreiche Unternehmen in Holland führen sie ein, etliche kommen auch wieder davon ab, andere entwickeln sie weiter und passen sie an die eigenen Bedürfnisse an. Endenberg gründete das «Sociocratisch Centrum», das teilweise Weltkonzerne wie Shell bei der Einführung von mehr Mitbestimmung beriet.


Lesen Sie im Zeitpunkt zu diesem Thema:

Demokratie? Welche Demokratie denn bitte?

„Sie wollen Kapitalismus ohne Demokratie – wir wollen Demokratie ohne Kapitalismus!“

Keine Demokratie mit Besatzung

Maske und Demokratie: SP-Nationalrat auf Abwegen

Demokratie digital?