Blütenstaubwirtschaft

Wenn Dinge zu Daten werden

Die besten und schönsten Geigen sind nicht neu, sondern dreihundert Jahre alt. Von diesem Höhepunkt haben wir uns durch den Fortschritt weit entfernt.


Diese Feststellung war am Ende meiner Lehrzeit als Geigenbauer der Ausgangspunkt meiner Wanderschaft, um mehr über unsere Welt und diese Fortschrittsbewegung zu erfahren. Unterwegs bin ich zu der Ansicht gekommen, dass wir uns in einem grossen Durcheinander befinden. Wir träumen noch von der schönen Welt des alten Handwerks, wir verhalten uns brav nach den Regeln der Industrie, und wir leben tatsächlich bereits mitten im Informationszeitalter. Unsere alten Gewohnheiten, unsere aktuellen Gesetze und die gegenwärtige technische Realität passen nicht mehr zusammen. Ich meine damit zum Beispiel die Statusmeldung einer «städtischen digitalen Bibliothek» die besagt: «Dieses ebook ist zur Zeit ausgeliehen.» Das ist technisch gesehen so absurd, als hätten wir das Rad erfunden, um es auf dem Rücken herumzutragen. Dinge können ausgeliehen, Daten nur kopiert werden. Und das ebook ist kein Ding. Es ist als Datum jederzeit und überall verfügbar.


Mich interessiert die Geschichte, wie es zu diesem Durcheinander gekommen ist, und die Frage, wie wir dieses «Rad» der Digitalisierung richtig nutzen könnten. BIütenstaub gibt einen Hinweis darauf.


Menschen sind das, was Automaten nicht sind. Seit Urzeiten steht die menschliche Arbeitsleistung als fester Anker im allgemeinen Wertgefüge. Auf ihrer Grundlage können alle Preise berechnet und verglichen werden, auch wenn sie mehr und mehr von Maschinen erledigt wird. Das funktioniert zu Beginn eines Industrialisierungsprozesses recht gut. Man kann fragen, wie viel menschliche Arbeit diese oder jene Maschine einspart und wie sich dadurch die Lohnstückkosten verändern. Damit setzt eine Dynamik ein, die sich selbst beschleunigt. Sobald die ersten Maschinen gegen die Menschen gewinnen und die Arbeit schneller und günstiger machen, bleibt den frei gewordenen Arbeitskräften, weil sie noch immer lohnabhängig sind, nichts anderes übrig, als weitere Maschinen zu bauen. Das geht so weiter bis zu dem Tag, an dem sie eine Maschine herstellen, die selbst wiederum Maschinen herstellt. Jetzt sind theoretisch alle Arbeiter von der Plackerei befreit. Einige von ihnen sind mit der hochinteressanten Planung dieser Automatisierungsprozesse beschäftigt. Die übrigen Arbeiter könnten etwas anderes tun oder den Blick aufs Blumenfeld geniessen. Weil sie aber weder am Eigentum noch an der Organisation der neuen Automaten beteiligt sind, fehlt ihnen das Anrecht auf deren Ertrag, und das bringt sie in Existenznot.


Diese Not ist so alt wie die Industrialisierung. Die Maschinenstürmer wollten schon vor zweihundert Jahren das Problem durch die Zerstörung der Maschinen aus der Welt schaffen, und hundert Jahre später erkannte auch Henry Ford, dass er von seinem Maschinenertrag wieder so viel an seine Arbeiter verteilen musste, dass sie sich selbst aus ihrem Lohn auch die Produkte kaufen konnten, womit das prinzipielle Problem nicht gelöst, aber noch längere Zeit aufgeschoben werden konnte.


Einen weiteren Aufschub erhielt das Problem dadurch, dass die durch Maschinen wegrationalisierten Arbeitsplätze teilweise ersetzt wurden durch Kopfarbeitsplätze. Aber genau so, wie die meisten Muskelarbeitsplätze durch die Mechanisierung aufgelöst wurden, werden in den nächsten fünfzig Jahren die meisten Kopfarbeitsplätze durch die Digitalisierung überflüssig. Denn jede Kopfleistung, die nicht mehr tut, als nach bereits bekannten Verfahren bereits bekanntes Wissen zu verarbeiten, wird ersetzt werden. Und wenn wir ehrlich sind, leisten wir in den allermeisten Fällen nicht viel mehr als das. Was sich daraus in den nächsten vierzig Jahren entwickeln wird, können wir uns kaum vorstellen, obwohl es uns unmittelbar bevorsteht.


Angenommen, eines Tages würde alle physische und geistige Arbeit durch Vollautomaten geleistet, dann würde alles Geld wie bei einem Riesenmagneten bei diesen Vollautomaten landen, und ganz schnell würde alles Wirtschaften zum Erliegen kommen, weil gar kein Geld mehr bei den Menschen ankommt. Alles Geld wäre eingefangen auf der Investitions- und Renditeebene der Maschinenwelt und müsste deshalb so schnell wie möglich wieder durch Sozialbeiträge oder Konsumverschuldung verteilt werden, damit sich die Produkte des Vollautomaten verkaufen lassen. Ansonsten bricht die Bilanz zusammen, denn schliesslich besteht der Wert einer Anlage aus der Rendite, und diese besteht aus den Verkäufen an die Konsumenten.


Die doppelte Buchführung ist durch die Automaten auseinandergefallen. Maschinen produzieren, Menschen konsumieren. Investitionen rentieren sich, Konsumenten sind verschuldet. Anstatt die Erträge der Maschinen in den Konsumkreislauf zu verteilen, wird versucht, aus Menschen Investitionsgüter zu machen. Jeder soll selbst auch ein bisschen eine produzierende Maschine werden, indem er Kredit aufnimmt und in seine Ausbildung investiert, um schliesslich Rendite abzuwerfen. Aber das funktioniert nicht. Der Mensch ist keine programmierbare Maschine, und im Gegensatz zur definierbaren Maschinenarbeit gibt es bei der menschlichen Arbeit eine unlösbare Frage, nämlich den Preis für ihre Leistung.


Wenn alles Determinierbare automatisiert ist, bleibt dem Menschen das Unberechenbare. Das, wovon zu Beginn der Arbeit noch nicht klar ist, was später das Produkt sein wird. Und damit lässt sich weder richtig Handel treiben noch Investitionen und Erträge planen. Wie hoch ist der Preis für eine Idee? Entspricht er den Lebenskosten des Erfinders, bis er die nächste Idee hat? Was passiert, wenn es gar keine so gute Idee gewesen ist? Oder, falls es eine sehr nützliche Idee gewesen ist: Entspricht der Preis dem Gewinn, der durch diese Idee realisiert werden kann? Wie werden bei einer Idee die Vorleistungen, also die gesamten kulturellen Voraussetzungen, welche die Idee erst ermöglichten, verrechnet? Und vor allem: Wie und an wen soll die Idee dann verkauft werden? Wie wir gesehen haben, können Ideen nicht in Flaschen gefüllt und einzeln verkauft werden, denn kaum sind sie geboren, kann sie im Prinzip jeder nutzen.


Wie hoch ist der Preis für die Landschaftspflege, für die Erziehung oder für die Therapie eines Patienten? Entspricht dieser Preis der zukünftigen Mehrleistung des Genesenen? Wer bezahlt an wen, falls er stirbt? Und wann können die Früchte der Erziehung geerntet und verrechnet werden? Wer gibt bis dahin Kredit, und an wen verkauft man die fertig erzogenen Kinder, um den Kredit zurückzuzahlen?


Es kommt mir vor, als neigte sich eine Phase, die in ihren Eigenschaften stark an die Pubertät erinnert, nach zwölftausend Jahren ihrem Ende zu. Ich will nicht sagen, dass die Kindheit davor nur paradiesisch war. Aber offensichtlich haben wir uns damals von dem Einssein mit der Natur getrennt und damit begonnen, uns selbst eine Welt zu bauen. In der Zwischenzeit sind wir enorm gewachsen (sieben Milliarden Erdenbewohner), haben grosse intellektuelle Fähigkeiten aufgebaut (Technik), Banden gebildet und herumgepöbelt (Klassen, Staaten und Kriege), haben uns immer wieder für ein neues Thema begeistert (Pyramiden, Mondflug), haben plötzlich die soziale Ader entdeckt (Demokratie, Sozialstaat) und dann wieder den Verstand verloren (Weltkriege), hatten ein stressiges Verhältnis zwischen Männern und Frauen (Gewalt) und haben unsere Umwelt bis an den Rand des Zusammenbruchs ausgereizt. Genau so wie das Pubertierende tun.


Und nun stehen wir das erste Mal in der Geschichte an dieser Umweltgrenze ohne Ausrede, ohne Erziehungsberechtigte, und ohne Fluchtmöglichkeit, denn es gibt nur diese eine Erde, die jetzt rundherum zusammenhängt. Normalerweise ist das der Moment, um erwachsen und selbstständig zu werden, Verantwortung zu übernehmen und für das Ganze zu denken.


In den vergangenen Jahrhunderten haben wir drei Gewohnheiten angenommen, deren berechtigte Zeit, wie mir scheint, nun vorbei ist. Wir glauben noch immer, dass erstens Einkommen der Ertrag aus früherer Arbeitsleistung sei, dass zweitens Geist, ähnlich wie Dinge, einen Eigentümer haben könne und dass sich drittens Kapital beständig vermehren müsse.


Hinter der ersten Gewohnheit, dass Einkommen der Ertrag aus früherer Arbeit sei, steht das Bild von fleissigen Handwerkern und Bauern, die Produkte erzeugen, die sie auf dem Marktplatz an Kunden verkaufen, um mit diesem Geld durch Tausch ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Arbeit gegen Geld für Essen. So heisst in etwa die Formel, die auch den Lohnabhängigen der Industriegesellschaft ein trügerisches Gefühl von individueller Selbstversorgung vermittelt.


Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sind die Kräfte, die Jugendliche dazu bringen, zu wachsen und von zu Hause auszuziehen. Beim Erwachsenwerden zeigt sich jedoch schnell, dass es im Äusseren keine Unabhängigkeit gibt, dass jeder Mensch von anderen und für andere lebt und arbeitet, und dies sogar umso stärker, je komplexer und spezialisierter eine Gesellschaft organisiert ist. Mehr Arbeitsteilung heisst mehr Abhängigkeit von anderen. Doch genau das bewirkt mehr Selbstbestimmung, um seine eigenartigsten Fähigkeiten auszuleben und sich zu spezialisieren. Das geht ja nur dann, wenn andere Menschen alles Übrige für einen erledigen. In der Summe geht das in etwa auf, denn gesunde Menschen lieben es, sinnvolle Sachen zu machen und sie sind so verschieden, dass nicht alle dasselbe tun wollen.


Selbstbestimmung bedingt folglich, von anderen abhängig zu sein. Oder anders gesagt: Selbstbestimmung ist etwas, was man sich gegenseitig ermöglichen muss, etwas, was man seiner Umgebung verdankt.


Das Modell des bedingungslosen Grundeinkommens ist ein konsequenter Weg, jedem Bürger diese Selbstbestimmung zu ermöglichen. Es löst den lebensnotwendigen Teil des Einkommens von jeglichen Bedingungen. (…)
Hinter der zweiten Gewohnheit, dass Ideen, ähnlich den Dingen, einen Eigentümer haben könnten, steht der Rückschluss aus der ersten Gewohnheit, dass die Früchte meiner Arbeit mir gehören und mein Einkommen bilden. Dies zu hinterfragen braucht Sorgfalt, denn natürlich ist geistige Arbeit anstrengend und ihre Produkte können äusserst wertvoll sein. Beim genaueren Hinsehen wird jedoch deutlich, dass Daten oder Ideen keine Dinge wie zum Beispiel Früchte sind. Und es wird deutlich, dass Dinge in ihrer Anzahl begrenzt sind und im Falle der Früchte aufgegessen werden. Daten, Wissen und Ideen hingegen, kann jeder gleichzeitig besitzen und benutzen, wobei sich Ideen durch ihren Gebrauch sogar vermehren.


Die Vorstellung, dass die Früchte meiner Arbeit mir gehören, wird in unserer Informationsgesellschaft problematisch, denn es sind nur noch wenige Menschen direkt mit der Produktion von echten Früchten beschäftig. Die wichtigsten Produktionsmittel bestehen heute aus Wissen, Daten und Ideen, und wenn diese der Allgemeinheit vorenthalten und künstlich zurückgehalten werden, hat die übrige Welt nicht mehr die Möglichkeit, sich mündig und selbstständig einzubringen.


Eine Alternative dazu ist die wirtschaftliche Unterscheidung von Daten und Dingen, von Wissen und Können und von Teilen und Tauschen, wie sie in der Open-Source-Bewegung praktiziert wird. Ersteres, Daten und Wissen, soll sich so frei wie Blütenstaub und allgemein wie möglich mitteilen und verbreiten, denn der Geist ist von Natur aus unbegrenzt. Zweiteres, Dinge und Können, soll so sorgsam und gezielt wie möglich getauscht und eingesetzt werden, denn Materie, Energie und Leistungen sind nur begrenzt vorhanden. Dieses Prinzip entspricht dem Leben, wie es sich überall in der Natur abspielt. Es ist verschwenderisch in der Vielfalt, möglichst grosszügig in der Weitergabe der Gene und zugleich wundersam haushälterisch im Umgang mit knappen Ressourcen. Zwischen diesen Polen bewegt sich alles Lebendige und schafft es, aus der Knappheit viel Schönes wachsen zu lassen, vorausgesetzt, jede Zelle und jedes Individuum wird von der Umwelt mit den nötigen Nährstoffen versorgt.


Durch die zwei genannten Alternativen zu den ersten beiden überholten Gewohnheiten, wird sich auch die dritte Gewohnheit, nämlich dass sich Kapital vermehren müsse, von selbst ändern. Wenn es uns gelingt, das Wissen aus der Kapitalisierung zu befreien und damit für die Zukunft zu erhalten und weiterzuentwickeln, und wenn es uns gelingt, die Erträge der Automaten ohne einschränkende Bedingungen zu verteilen, dann kann die Buchführung wieder das Gleichgewicht finden. Vielleicht könnte das gelingen, wenn Geld nicht mehr durch Kredite, sondern durch Einkommen geschöpft wird. Es könnte dadurch die Gegenwart für eine Zukunft zurückerobert werden, die befreit ist von der Hypothek veralteter Renditevorstellungen. Und in dieser Zukunft, deren neues Kapital die unbegrenzt vorhandenen Daten und Ideen sind, brauchten auch keine Raubzüge und Verteilungskriege mehr das Leben zu stören. Es könnte eine friedliche Zukunft sein, in der sich Menschen wieder frei und selbstständig aus dem Gegenwärtigen heraus bewegen können.


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Beim vorliegenden Text handelt es sich um gekürzte Ausschnitte aus dem Vorwort und den beiden letzten Kapiteln der bemerkenswerten Neuerscheinung «Blütenstaubwirtschaft – wenn Dinge zu Daten werden» von Georg Hasler (epubli, 2015, 100 S. Fr. 13.60/€ 9.90. Das Buch steht auch zum kostenlosen Download auf www.bluetenstaubwirtschaft.ch zur Verfügung, wo Sie weitere Informationen zu dieser Perle in Buchform finden. Unbedingt lesenswert.

01. Dezember 2015
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