Für gewöhnlich sind die Memoiren von Politikern eher langweilig und selbstgefällig, aber es gibt erfreulich selbstkritische Ausnahmen. Kolumne.

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Noch vor nicht allzu langer Zeit lebte der Grossteil unseres Volkes von der Landwirtschaft. Es gab aber auch viele gewerbliche Betriebe wie Schreinereien, Bäckereien oder Metzgereien, die die Grundbedürfnisse der Mitbürger befriedigten, und einige Fabriken, die innovative, den Menschen nützliche Produkte herstellten, die sie sogar in andere Volkswirtschaften verkaufen konnten. Im Gegenzug kauften wir von ihnen Güter, Dienstleistungen und Rohstoffe, welche diese aufgrund anderer Voraussetzungen besser herstellen oder liefern konnten.

Die gute alte Zeit versus New Economy

Die Leute hatten früher so viel zu tun, dass auch Menschen aus den angrenzenden Regionen bei uns arbeiten konnten, ohne dass dadurch die Löhne der Einheimischen sanken. Nach der Arbeit sass man oft zusammen, erzählte einander Neuigkeiten aus der Familie oder aus dem Sportverein. Man kannte und vertraute einander. Jeder wusste, sollte es einmal jemandem nicht gut gehen, würden die anderen Anteil nehmen, sich kümmern und für ihn bürgen. 

Der Wettbewerb ökonomischer Glaubenslehren führte zur Gründung einer eigenen Hochschule für Wirtschaft. Unser kleines, überschaubares und politisch neutrales Land war schnell beliebt bei renommierten Professoren und Lehrern. Sie kamen gerne zu uns. Innert weniger Jahre wuchs der Lebensstandard unseres Volkes um ein Mehrfaches. 

Immer mehr Menschen konnten die produktive Landwirtschaft, das Wert schöpfende Gewerbe und die produzierende Industrie für andere Tätigkeiten freistellen. Immer mehr Bürger mussten bald ihr Land nicht mehr bearbeiten, auf Baustellen schwere Arbeiten verrichten oder in Fabriken Maschinen oder Kleider herstellen - ohne Angst vor Hunger haben zu müssen. 

Abbau von Grenzen

Als Nächstes öffneten wir unsere Grenzen vollständig für Kapital, Arbeitskräfte, Güter und Dienstleistungen. Wir senkten die Vermögens- und Unternehmenssteuern, um ausländische Firmen bei uns anzusiedeln, und wurden stolze Betreiber von Golfclubs, hoch bezahlte Rechtsanwälte, engagierte Stiftungsräte, motivierte Banker, gut dotierte Verwaltungsbeamte, findige Steuerberater und erfolgreiche Vermögensverwalter.

Bald bezahlten wir für die Lebensmittel aus immer weiter entfernten Ländern nur noch einen Bruchteil unseres Einkommens, denn die eigene Landwirtschaft war längst zu teuer geworden. Häuser und Strassen wurden preisgünstig von Menschen gebaut, deren Sprache und Mentalität wir kaum mehr verstanden. In trendigen Restaurants wurden wir von Personal aus aller Herren Länder bedient, mit dem wir kaum privaten Kontakt pflegten. 

Ausverkauf der Heimat

Wir verkauften unser bestes Land an reiche Steuerzahler, unabhängig davon, wie diese zu ihren Vermögen gekommen waren. Die stinkenden, viel Platz benötigenden Fabriken wurden abgerissen. Es entstanden schicke Einkaufsstrassen und grosszügige Flaniermeilen. Das schmutzige Kernkraftwerk mussten wir nicht bauen, weil wir billigen Strom vom Nachbarstaat kaufen konnten.

Die Flexibilität und ihre Chancen

Nur unser Dorfbäcker verpasste seine Chance, einen höher qualifizierten Beruf zu ergreifen. Statt beispielsweise auf Product Influencing, Social Marketing oder Financial Consulting umzuschulen, wollte er weiterhin einfach nur sein Brot und seine Torten herstellen. Bald aber musste er seinen Laden schliessen, weil die Kunden seine Preise nicht mehr bezahlen konnten oder wollten, die die steigenden Mieten, Krankenkassenprämien und Lebenshaltungskosten seiner Familie und Angestellten erforderten. An die Stelle der Dorfbäckerei kam eine Tankstelle mit Supermarkt, Postschalter und Hemdenbügelservice – rund um die Uhr geöffnet. Die Brote und Torten wurden, wie bald alle Lebensmittel, täglich mit grossen Lastwagen aus Regionen angeliefert, die wir nur aus dem Fernsehen kannten. 

Privatisierungsmanie und Fusionen

Wir privatisierten unsere Strassen, verkauften unsere staatliche Telekommunikationsgesellschaft - und auch die Post - an ein Unternehmen aus einem anderen Land, wodurch die Gebühren zunächst massiv gesenkt werden konnten. Wir schwammen im Geld. Unsere staatlichen Regionalbanken wurden schnell zu klein und konnten durch Fusionen mit international operierenden Privatbanken aus einem Nachbarland gerettet werden, was uns den Zugang zu internationalen Märkten ermöglichte. Auch unsere Landeswährung hatten wir aufgegeben. Es wurde zu aufwändig, eigene Banknoten herzustellen. Wir schlossen uns der Zentralbank des Kontinents an, welche bald den elektronischen Zahlungsverkehr einführte und so das Kaufen und Verkaufen massiv vereinfachte. Selbst die Zeitung am Kiosk konnte man mit Plastikgeld bezahlen. 

Reichtum und Wohlergehen für alle

Mit dem vielen Geld konnten wir uns an Fabriken und Unternehmen im preisgünstigen Ausland beteiligen. Wir profitierten vom Wachstum in China und Indien. Unser Land - und Teile unseres Volkes - wurden sehr reich. Die Zahlen auf unseren Bankcomputern wuchsen Monat für Monat automatisch an. Keiner aus meinem Volk musste noch richtig arbeiten – Wert schöpfen - wie der Bäcker, Gärtner oder Landwirt. 

Man verbrachte seine Zeit beim Golfen, in klimatisierten Büros, an Empfängen, war oft auf Geschäftsreise in ferne Länder und fremde Kulturen und zu den Kolonien unseres Kapitals. Man vergnügte sich im Spielcasino, beim Töpferseminar, auf der Segeljacht oder beim Therapeuten, um sich vermehrt mit der eigenartigerweise wachsenden Unzufriedenheit zu beschäftigen. Dennoch fühlten wir uns frei und konnten uns durch die wachsenden Zahlen auf dem Computerkonto die Welt zusammenkaufen: Autos aus Deutschland, Milch aus Polen, Kleider aus China, Kühlschränke aus Taiwan, Gemüse aus Spanien und Frauen aus der Karibik. Wir lebten in Saus und Braus. Selbst das Regierungsgebäude verkauften wir an einen Konzern, der sich fortan um den aufwändigen Erhalt des alten Gemäuers kümmerte. Wir brauchten nur noch das Leasing zu bezahlen, was uns leichtfiel.

Der schwarze Freitag

Als ich an jenem legendären Morgen den Computer hochfuhr, um wie immer als Erstes meinen Kontostand zu prüfen, starrte ich in einen schwarzen Bildschirm. Auch der meiner Sekretärin zeigte keine Zahlen. Ihr Bildschirm war ebenfalls schwarz. Immer mehr Anrufe aus dem ganzen Land wurden in mein Ministerium durchgestellt. Im ganzen Land blieben die Computer tot. Es war der schwarze Freitag im Jahr 2024.

Noch am Nachmittag versammelten wir uns im Nationalrat des Bundeshauses. Der Vorplatz war zugeparkt mit protzigen Geländewagen und roten Sportwagen. Schnell wurde es uns in dem überfüllten Raum zu heiss. Wir entledigten uns der massgeschneiderten Sakkos aus Thailand und seidenen Krawatten aus Singapur. Schon in den nächsten Tagen wurden unsere Läden nicht mehr beliefert, der Strom wurde abgestellt und die privatisierten Strassen konnten von uns nicht mehr benutzt werden, weil unsere Kreditkarten gesperrt waren. An den Bankschaltern begegnete man uns mit einem mitleidigen Kopfschütteln. Die Strassenkehrer und Bauarbeiter gingen in ihre Heimat zurück.

Marktchancen, Verschuldung und Auswanderung

Der Chef der Armee löste das Heer auf. Es gab ohnehin nichts mehr zu verteidigen, weil mittlerweile alles vom anonymen Kapital aufgekauft worden war. Der Polizeiapparat, welcher durch die extremen Einkommensunterschiede und - die dadurch zunehmenden - sozialen Spannungen im Land nötig geworden war, löste sich in Luft auf. Auch die restlichen Staatsdiener (Beamte gab es seit 2002 nicht mehr) konnten nicht mehr bezahlt werden. 

Wir hatten unser ganzes Land, unser Volk und unsere Herzen gegen ein (digitales) blosses Zahlungsversprechen - denn nichts anderes ist das Geld - eingetauscht. Das viele Geld, die grossen Zahlen auf dem Computer hatten unsere Sinne vernebelt. Wir hatten vergessen, was Heimat und echte Werte sind. Wir hatten vergessen, welches Glück die direkte Demokratie war, in der wir nicht nur unsere politischen Vertreter gewählt haben, sondern auch aktiv die Verteilung des gemeinsam produzierten Wohlstands mitbestimmen konnten. Wir hatten die Verteilung des materiellen Wohlstands einem heimatlosen, diffusen Markt überlassen, der schliesslich die direkte Demokratie - die Wurzel unseres seelischen Wohlstands - mit Haut und Haaren verschlang. 

Das fehlende Wirtschaftswachstum verführte uns Politiker zu immer grösseren Schuldenabenteuern. Als die Refinanzierung als Folge der Verlagerung auf kreditgestütztes Vermögenswachstum verunmöglicht war, folgte die eigentumsrechtliche Übernahme durch die Eigentümer der Kredite. Der privatisierten Infrastruktur folgte die komplette Annektierung unseres Staatsterritoriums und eine neue feudalistische Abhängigkeit. Da keine Abgaben mehr geleistet werden konnten, verarmte die breite Masse. Die volkswirtschaftliche Ruine konnte nur noch zwei Millionen Menschen ernähren. Der Rest der uns anvertrauten Bürger musste auswandern.

Die Ansichtskarte des ausgewanderten Bäckers hängt heute noch als Erinnerung an diese verrückte Zeit über dem Brotkasten in meiner Küche. Ich habe den Geruch seines Leinsamenbrotes noch immer in der Nase.

Februar 2026, aus dem Buch «Erinnerungen eines Volkswirtschaftsministers».

Über

Thomas Brändle

Submitted by admin2 on Do, 08/18/2022 - 14:51

Thomas Brändle lebt im zugerischen Ägerital, ist Familienvater, Bäcker-Konditor-Confiseur, gewerblicher Kleinunternehmer, www.cafe-braendle.ch, Autor (Mitglied ISSV, AdS, PEN), alt Kantonsrat, Mitinitiant der www.vollgeld-initiative.ch. In seinem Romanerstling «Das Geheimnis von Montreux» thematisierte er Kellers Prophezeiung durch den Protagonisten Marco Keller, Nationalrat und Nachfahre des Schriftstellers Gottfried Keller.

Die Bücher von Thomas Brändle.