Die Seuche des 21. Jahrhunderts: Parteinahme

Konflikte werden nicht gelöst, indem man möglichst laut und theatralisch Partei ergreift, sondern indem man den Parteien diskret hilft, eine faire Lösung zu finden. Das nannte man früher Friedensdiplomatie.

Kletterer zwischen zwei Wänden
Balance halten ist nicht immer einfach. Foto: Riccardo Vespa

Das 21. Jahrhundert begann mit einer Megakrise: dem Anschlag auf das World Trade Center in New York. Das war der Auftakt für eine Serie von Megakrisen, die im aktuellen Krieg zwischen dem Westen und Russland kulminierte. Auch der Krieg im Nahen Osten hat noch erhebliches Eskalationspotenzial. Schon 2023 steht fest: Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Megakrisen.

 

Zwei Gruppen von Megakrisen

Die Megakrisen des 21. Jahrhunderts teile ich für die folgende Diskussion in zwei Gruppen ein.

Gruppe 1: Finanzkrise, Klimakrise, Migrationskrise und Corona-Pandemie. Bei diesen Krisen ist es kaum möglich, eine Person oder Personengruppe für die Ursache und den Schaden verantwortlich zu machen. Eindeutige Konfliktlinien fehlen.

Gruppe 2: War on Terror, Ukraine-Krise, Nahost-Krise: Bei diesen Krisen ist es scheinbar möglich, eine Person oder Personengruppe für die Ursache und den Schaden verantwortlich zu machen, nämlich: Osama bin Laden und Al-Qaida (War on Terror), Wladimir Putin (Ukraine-Krise) und Hamas-Chef Ismail Hanija (Nahost-Krise). Es bieten sich eindeutige Konfliktlinien an.

 

Fehlende Schuldige: Stresstest für die Gesellschaft

In einer Megakrise keinen klaren Schuldigen zu finden, ist frustrierend. Es kommen viele Menschen zu Schaden, die keinen Adressaten für Schadenersatzansprüche haben. Sie erleben die Krise im bedrückenden Zustand der Ohnmacht. Das Gefühl des Ausgeliefertseins und der obrigkeitlichen Bevormundung kann sich schnell in Wut verwandeln, und diese Wut richtet sich dann gegen alles Mögliche. Megakrisen ohne benennbare Verantwortliche sind eine enormer Stresstest für die Gesellschaft und ein idealer Nährboden für Spekulationen und Narrative. Diese spalten die Gesellschaft und triggern Gehässigkeiten bis zu blankem Hass. Speziell die Pandemie hat der kollektiven Gemütsverfassung stark zugesetzt. Auf die Rolle der Medien komme ich später zu sprechen.

Eine neutrale Position als feindlicher Akt interpretiert.

Wenn der Schuldige feststeht: Moral im Blutrausch

Kurz nach 9/11 stand der Schuldige offiziell fest: Al-Quaida. In seiner Rede vor dem Kongress vom 20. September 2001 sagte US-Präsident George W. Bush: «Jede Nation in jeder Region muss nun eine Entscheidung treffen. Entweder sind sie auf unserer Seite oder auf der Seite der Terroristen. Von diesem Tag an wird jeder Staat, der weiterhin Terroristen unterstützt oder ihnen Unterschlupf gewährt, von den USA als feindliches Regime betrachtet.»

Damit teilte Bush die Welt in zwei Lager: USA-Freunde und USA-Feinde. Etwas dazwischen wurde zur Unmöglichkeit erklärt, eine neutrale Position als feindlicher Akt interpretiert.

Die Bilanz des War on Terror ist verheerend. Zitat aus dem Bericht «Body Count» der IPPNW/PSR/PGS (2015): «Die vorliegende Untersuchung kommt zum Ergebnis, dass im Irak etwa 1 Million, in Afghanistan 220.000 und in Pakistan 80.000 Menschen durch den Krieg direkt oder indirekt getötet wurden, insgesamt also etwa 1,3 Millionen Menschen.» Zu den Opfern gehören mehrheitlich Zivilisten.

Dieselbe Konfliktlösungsstrategie wählte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nach 10/7. Wieder heisst es: Wer nicht für Israel ist, ist für die Terroristen. Wieder trifft der War on Terror vor allem Zivilisten. Das bedeutet im Klartext: Unschuldige büssen für die Taten der Schuldigen. Das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun, wohl aber mit Terror.

Die Konfliktlösungsstrategie des War on Terror lässt sich wie folgt beschreiben: Guerillaterrorismus wird mit Staatsterrorismus vergolten. Auf beiden Seiten gibt es Täter und Opfer. Auf der guerillaterroristischen Seite gibt es verhältnismässig wenige Täter und viele Opfer, auf der staatsterroristischen Seite ist es umgekehrt. Wer das verneint, ist ein Lügner.

Mit dem War on Terror mag der Guerillaterror kurzfristig eliminiert werden. Langfristig gelingt dies nicht. Wo Hass gesät wird, entsteht neuer Guerillaterrorismus. Damit rückt die Lösung des Konflikts in weite Ferne.

Die Botschaft macht keine Gefangenen: «Entweder unterstützt du mich, oder du verdienst den Tod.» 

Inakzeptable Drohungen

Bezeichnend für beide Kriege ist der moralische Druck, der auf die Weltöffentlichkeit ausgeübt wurde/wird: Sowohl die USA als auch Israel forderten/fordern bedingungslose Loyalität. Wer sich dieser monströsen Beistandsforderung aus welchen Gründen auch immer widersetzt, wird mit den Terroristen kurzerhand in denselben Topf geworfen. 

Die Botschaft macht keine Gefangenen: «Entweder unterstützt du mich, oder du verdienst den Tod.» Aus der Sicht eines kriegführenden Präsidenten mag diese Rhetorik zweckmässig sein. Aus der Sicht eines zivilisierten Menschen, der mit dem Konflikt nichts zu tun hat, ist sie eine inakzeptable Drohung und eine Beleidigung der Intelligenz.

Haben wir solche Drohbotschaften nicht schon reichlich aus dem Mund von Wolodymyr Selenskyj vernommen? Wie oft haben wir schon gehört, dass der «Terrorstaat» Russland ganz Europa, ja die ganze freie Welt zerstören werde, falls sich nicht ausnahmslos alle vorbehaltlos hinter die Ukraine stellen? 

Ins gleiche Horn bläst auch Netanjahu: Wenn Israel den Krieg nicht gewinne, werde sich der islamistische Terror auf der ganzen Welt ausbreiten, drohte er vor kurzem. Bush, Selenskyj, Netanjahu: Meister der Drohung und der Einschüchterung. Keine Rhetorik ist ihnen zu billig, um die Welt auf ihre Seite zu manipulieren. Das Kalkül: Wer die Welt hinter sich schart, muss sich für nichts mehr rechtfertigen. Auch nicht für Verbrechen.

Konflikte, die zu Kriegen führen, sind auf lästige Weise komplex.

Wer Partei ergreift, ist Teil des Problems

In Konflikten, in denen der Schuldige feststeht, ist die Versuchung gross, Partei zu ergreifen. Wir folgen hier einem moralischen Imperativ. Das Opfer bedarf unserer Solidarität, der Täter muss verurteilt und bestraft werden. Dem Opfer muss Gerechtigkeit widerfahren. Wer Partei ergreift, ist Teil der Lösung.

Gegen diesen moralischen Imperativ und seine Entsprechung im geltenden Recht ist selbstredend nichts einzuwenden – sofern der Schuldige zweifelsfrei feststeht. In Rechtsstaaten befassen sich mit solchen Fragen die Gerichte.

Diese Voraussetzung, die ein faires moralisches Urteil erlaubt, ist aber in vielen politischen, ethnischen, religiösen und kulturellen Konflikten nicht erfüllt, schon gar nicht, wenn die Konflikte alle vier Dimensionen enthalten. Konflikte, die zu Kriegen führen, sind auf lästige Weise komplex. Sie haben komplexe Vorgeschichten und Kontexte. In solchen Gemengelagen ist der moralische Imperativ des Durchschnittsbürgers überfordert.

Der Versuch, ein singuläres Ereignis dazu zu benutzen, die Schuld für einen komplexen Konflikt einer einzelnen Person oder Personengruppe zuzuschreiben, ist zum Scheitern verurteilt. Einzelne Personen mögen zwar verantwortlich für singuläre Ereignisse sein, aber sie können unmöglich verantwortlich für den gesamten Konflikt sein. Wie auch? 

An komplexen Konflikten sind immer viele verantwortliche Akteure auf beiden Seiten beteiligt. Wenn es viele verantwortliche Akteure auf beiden Seiten gibt und sich die Anwendung des moralischen Imperativs verbietet, wird jeder, der Partei ergreift, Teil des Problems. 

Partei ergreifen bedeutet, ein moralisches Urteil zu fällen. Wie kann man guten Gewissens ein moralisches Urteil fällen, wenn die Gemengelage keinen eindeutigen Schuldigen hergibt? Egal, für welche Seite man sich in so einem Konflikt entscheidet, man ist im Recht und immer auch im Unrecht.

Wer sich an einem singulären Ereignis festkrallt, um die Komplexität des Konflikts auf ein Mass zu reduzieren, das ein vermeintlich faires moralisches Urteil erlaubt, mag sich für schlau halten. Er ist aber a priori im Unrecht. Er leugnet nämlich die Komplexität des Ganzen.

Unrecht eignet sich nicht zur Konfliktbeilegung. Es provoziert vielmehr die Eskalation. Es ist in unserer Gesellschaft leider zur Unsitte geworden, die Komplexität des Ganzen zu leugnen, um sicher zu sein, auf der moralisch «richtigen» Seite zu stehen. Der Reflex ist verhängnisvoll. Indem wir quer durch die gesellschaftliche Hierarchie spontan Partei ergreifen und Solidarität demonstrieren, tragen wir massgeblich zur Eskalation von Konflikten bei.

Friedensprozess bedeutet Kommunikationsprozess. Kommunikationsprozess bedeutet Denkprozess.

Zurückhaltung statt Verurteilung

Wer in einem komplexen Konflikt Teil der Lösung sein will, muss der Versuchung widerstehen, Partei zu ergreifen. Abstand und Zurückhaltung sind geboten. Was man der chinesischen Regierung und dem Globalen Süden inbesondere im Zusammenhang mit dem Ukraine-Russland-Konflikt vorwirft – nämlich ihre Weigerung, zu verurteilen und Partei zu ergreifen –, ist tatsächlich die angemessene Haltung, um einen Friedensprozess zu ermöglichen. 

Dem Dialog Raum zu lassen, ist in jedem Konflikt ein guter Anfang. Friedensprozess bedeutet Kommunikationsprozess. Kommunikationsprozess bedeutet Denkprozess. Gegenstand des Denkens in komplexen Konfliktsituationen sollten Ursachenforschung und die Würdigung des Ganzen sein. Wo es keine gemeinsame Moral gibt, gibt es immer noch gemeinsame Interessen. Sie allein sind der Schlüssel zur Konfliktlösung.

Wer erkennt, dass die Beschuldigung von Personen oder Personengruppen nichts zum Frieden, aber viel zur Eskalation beiträgt, wirbt stattdessen für Verständnis, Vergebung, Versöhnung, Vertrauen, Vereinbarungen und Verhaltensänderungen. Das heisst, er wirbt für Waffenruhe und Gespräche. Wer Partei ergreift, hat nicht Einigung zum Ziel, sondern mehr Wut, mehr Hass und mehr Terror. Wer gegen Waffenruhe votiert, hat nicht den Frieden zum Ziel, sondern Tod und Zerstörung. Die Welt braucht mehr Menschen, die im Interesse des Friedens keine Partei ergreifen, sondern zum Dialog aufrufen und diesem eine Plattform bieten.

Je schriller der Content, desto fetter die Beute.

Die Rolle der Medien

Die Rolle der Medien ist auch im 21. Jahrhundert durch ihr Geschäftsmodell definiert. Geld verdient, wer Aufmerksamkeit bekommt. Mehr Geld verdient, wer mit wenig Aufwand viel 

Aufmerksamkeit bekommt. Am meisten Geld verdient, wer mit null Aufwand alle Aufmerksamkeit bekommt. 

Was generiert viel Aufmerksamkeit? Leider nicht die Art von Content, den Sie gerade konsumieren. Emotionen – vorzugsweise negative – füllen die Kassen: Angst, Empörung, Wut, Hass. Das Beste, was den Medien passieren kann, sind Megakrisen. 

Erwarten Sie von den Medien keinen Abstand und keinen Anstand. Erwarten Sie stattdessen Parteinahme, Halbinformation, Gesinnung, Provokation und Hetze. Je schriller der Content, desto fetter die Beute.

Ist die Rolle der Medien in Zeiten zunehmender Konflikte und Polarisierung hilfreich für die Gesellschaft? Das Gegenteil ist der Fall. Sie tragen entscheidend dazu bei, dass Konflikte eskalieren und die Polarisierung der Gesellschaft fortschreitet. Sie sind Teil des Problems.

Über

Guido Biland

Submitted by cld on Mi, 11/22/2023 - 18:33
Guido Biland

Guido Biland, 58, ist freischaffender Schweizer Journalist. Seit 22 Jahren ist er Inhaber und Geschäftsführer der Firma alphatext.com, die Auftragstexte für Schweizer Unternehmen produziert. 

Kommentare

Megakrisen - Kapitalismus

von MS
Obschon wir aus eigenen Konflikten oder aus Schulhofstreitereien wissen, dass es sich bezüglich Parteinahme und Frieden genauso wie oben beschrieben verhält, fällt es vielen von uns schwer, darauf zu verzichten, doch noch schnell bei einem klassischen Medienportal reinzuschauen um zu wissen, was läuft auf der Welt und sich ein bisschen aufwiegeln lassen. Es ist ein langer innerer Weg nicht sofort Partei zu nehmen, die Gefühle die da hockommen bewusst wahrzunehmen, seine moralischen Urteile zu hinterfragen... Mir ist beim Lesen noch etwas anderes durch den Kopf: Für mich gibt es einen Zusammenhang der genannten Krisen: Unser Schuldgeld basiertes Wirtschaftssystem. Dieses funktioniert bis anhin nur mit Zusammenbrüchen. Es gibt schlicht zu viel Geld bzw. zu viel Schulden. Das ist ein Systemproblem, weil Schulden immer nur mit neuen Schulden getilgt werden können. Ob's dann hier oder dort knallt hängt sicher auch mit lokalen Geschehnissen zusammen, aber die Tatsache, dass es ca. alle 70 Jahre knallen muss, hat der Club of Rome schon in den 70ern herausgearbeitet (Grenzen des Wachstums). Die menschliche Gier....Huhn oder Ei Frage? Wie kommen wir da raus? Schönes Buch diesbezüglich: https://neunheit.de/products/globaler-reichtum und wegen dem Geld natürlich: https://edition.zeitpunkt.ch/wp-content/uploads/2017/12/Geld-verstehen_web.pdf