100 Dinge zu erledigen, man rotiert um seine Pflichten und Wünsche, die Zeit reicht hinten und vorne nicht, und man verflucht seine Zwänge und Zusagen. Stress ist symptomatisch für unsere Gesellschaft, doch wie können wir uns dem Leistungsdruck entziehen?

© Nicolas Zogg

Es ist mal wieder kurz vor Abgabe. Statt mich auf das Wochenende zu freuen, bin ich grad massiv unter Druck. Ich muss noch ein Konzept fertig stellen, ein Bericht überarbeiten, der Zeitpunkt wartet auf die Kolumne. In zwei Stunden kommt meine Tochter, was koche ich zum Abendessen? Das Wochenende meines Sohnes und das Familiengespräch nächste Woche wollen organisiert sein.

Und als ob das nebst dem Haushalt, der Feuerwehr, einem bis zwei Herzensprojekten und einer Politkampagne nicht genug wäre, ziehe ich zudem morgen noch um – mit Haushalt, Werkstatt und zwei Teilzeit-Kindern. Zum unmöglichsten Zeitpunkt! Es ist noch lange nicht alles gepackt, doch es bleibt ja noch Zeit bis die Zügelhelfer eintreffen. Und noch besser: Hab mir grad kürzlich einen Leistenbruch zugezogen. Bestmöglich schonen ist also angesagt.

Irgendwie viel zu viel, und doch irgendwie machbar. Meistens jedenfalls, und für eine Weile.

Stress rund um die Uhr. Stress ist eine Volkskrankheit der westlichen Moderne. Damit einher gehen Schlafstörungen, Substanzenmissbrauch, körperliche und seelische Selbstentfremdung und irgendwann psychische und/oder körperliche Leistungseinbrüche. Burnout, chronische Erschöpfung, Unfälle oder Brüche oder sonstige Krankheiten aufgrund der Überlastung. Sicher nicht gesund.

Zuviel leisten zu wollen, ist symptomatisch für unsere Gesellschaft. Scheinbar haben wir die Leistungs- und Verfügbarkeitsprämissen der gewinn- und wachstumsorientierten Marktwirtschaft gut verinnerlicht. Die Grundbedürfnisse sind meist gedeckt, neu dazu kommen noch die unzähligen Konsumerweiterungen. Doch auch das reicht nicht. Ein gutes, zufriedenes Leben zu führen, ist sowas von den 1990er-Jahren. Nun müssen wir auch nach Sinnhaftigkeit und Originalität streben, uns ständig optimieren, den Planeten retten, glücklich und beliebt sein. Und das auch noch auf Instagram zelebrieren.

Und Covid-19 überstehen…

Corona ist bezüglich Leistungszwang auch eine Chance, quasi. Nicht, weil für kurze Zeit der globale Ausstoss an Treibhausgasen ein wenig gesenkt wurde. Sondern, weil seit der Pandemie viel mehr Menschen als zuvor von hartnäckiger Erschöpfung betroffen sind. Die Fragen nach persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungsgrenzen und wieso es nicht besser gelingt, diese früher wahrzunehmen und zu respektieren, drängen sich auf.

Männer sind bei der Frage nach Leistungsgrenzen besonders interessant. Die meisten Männer können oder wollen sich der Anforderung, genug männlich zu sein, nicht entziehen. Und männlich zu sein, bedeutet, im Kern stark zu sein. Durch Leistung die Souveränität – bisweilen auch Dominanz – über den eigenen Körper wunderbar unter Beweis zu stellen. Ich leiste (zu)viel, also bin ich (ein Mann). Der ständige Stress gehört bei Männern zum guten Ton, all diese wahnsinnig wichtigen und inspirierenden Projekte, die man gerade stemmen muss, einfach schon sehr viel, aber das geht schon…

Bleibt also die Frage, was tun? Was hilft gegen die Gefahr oder die Erwartung, zu viel zu leisten und körperlich und seelisch oder einfach an der Lebensqualität zu leiden?

Erstens: darüber reden. Mitmenschen mit ernsthaftem Interesse fragen, wie es ihnen geht. Und nachfragen, wenn die Antwort «Jaja, es läuft», oder «Man lebt» lautet. Getraue dich, dich mitzuteilen! Und lieber jammern als prahlen. Wobei das wieder ein ganz eigenen Thema wäre.

Zweitens: Achtsamkeit üben. Immer mal wieder ganz bewusst ein- und tief ausatmen. Tägliche Rituale wie morgens wahrnehmungsorientierte Bewegungen, zum Beispiel Yoga oder Chi Gong. Abends ein emotionale Tagesbilanz (wie geht es mir? Was liegt mir auf dem Herzen? Was hat mich gefreut?). Das hilft, Momente der Ruhe auf- und auszubauen, und zu erkennen, was einem gut tut.

Drittens: verändern. Mehr von dem was gut tut, und insgesamt weniger von allem. Mehr Zeit fürs Wichtige: Atmen, Freunde, Kinder, Natur…

Entspanne dich – es gibt nichts zu tun.

 

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Nicolas Zogg (39) lebt in den Bündner Bergen, hat ein kleines Büro für Gewässerökologie (www.alluvial.ch), kocht am liebsten Gemüseeintopf, schliesst bald die Ausbildung als prozessorientierter Coach ab, ist bis Ende März beim Kantonalen Gleichstellungsbüro angestellt, pflegt nebenbei freischaffend Bäume und Gärten, betreut seine beiden Teenies hälftig getrennt, liebt Feuer und Landschaften, kandidiert im Mai für den Bündner Grossen Rat.