Eine Pflanze ist Viele

Pflanzen sind keine Kreaturen, die allein vor sich «hinvegetieren». Ganz im Gegenteil. Doch wie sehr sind sie von andern Lebewesen abhängig? Welche Kooperationen gehen sie zum Beispiel mit Kleinstlebewesen ein?         

In ihrem Wurzelstock kreieren Pflanzen eine nährstoffreiche Oase. Sie schwitzen eine Vielzahl von Nährstoffen aus: Zuckerverbindungen, Aminosäuren, organische Säuren, Enzyme, verschiedene Botenstoffe. Sie ernähren damit unzählige, verschiedenste Lebewesen: Pilze, Bakterien und Viren. Im Austausch helfen diese der Pflanze, Stickstoff und andere Nährstoffe aus dem Boden zu gewinnen und schützen sie zudem vor Hitze, Dürre und Krankheitserregern. Die Pflanzen lassen sich die Kooperation mit den Bodelebewesen etwas kosten: Es gibt Pflanzen, die bis zu 70 Prozent aller selbst produzierten Zuckerverbindungen an die Mitbewohner im Boden abgeben. Weizen und Gersten investieren 20 bis 30 Prozent in das unterirdische Netzwerk. Man kann also sagen, dass Pflanzen diese Kleinstlebewesen im Wurzelbereich regelrecht füttern.
Viel ist noch nicht bekannt über die unsichtbaren, hochdynamischen Netzsysteme im Wurzelbereich. So sind überhaupt erst zwei Prozent aller Bodenmikroorganismen bekannt. Der Wurzelbereich ist terra incognita. «Über die Bewegung himmlischer Körper wissen wir mehr als über den Boden unter unsern Füssen» schrieb Leonardo da Vinci vor rund 500 Jahren. Das hat sich seither kaum geändert.
Eine Pflanze besteht aus einer Gemeinschaft mit Abermillionen Pilzen, Bakterien, Viren und anderen Lebewesen im Wurzelbereich. Die Pflanze ist ein grosses eng vernetztes Ganzes. Man könnte sagen: Eine Pflanze ist Innenraum und Aussenraum. Eine Pflanze ist Viele.

Eine Pflanze ist Kommunikation
Pflanzen kommunizieren mit Duftstoffen über und unter dem Boden. Sie können ein grosses Repertoire verschiedenster Duftstoffe herstellen und sich mit vielen ganz unterschiedlichen Partnern unterhalten.
Ein Beispiel: Wird eine Limabohne von Frassinsekten attackiert, beginnt sie, in den Blattscheiden kleine Nektartropfen zu produzieren. Mit dem süssen Nektar zieht sie Ameisen an, die sich mit allen Angreifern anlegen. Gleichzeitig produziert die Pflanze einen Duftstoff, der ihre Nachbarinnen vor der Gefahr warnt. Die Nachbarinnen erkennen das Duftsignal und beginnen ebenfalls, Nektar herzustellen.
Etwas später sendet die Limabohne SOS-Duftstoffe aus, um Nützlinge anzulocken. Interessant ist, dass die Limabohne nicht nur weiss, dass sie angegriffen wird, sondern auch von wem. Wird sie von Spinnmilben angegriffen, lockt sie mit Duftstoffen Raubmilben an, welche die Spinnmilben vertilgen. Frisst hingegen eine Raupe an ihr, produziert sie einen etwas anderen Duftstoff-Cocktail, um Schlupfwespen anzuziehen, welche die Raupen parasitieren. Die Pflanze schmeckt am Speichel, wer sie gerade attackiert und holt sich dann den geeigneten «Bodyguard» – diese raffinierten Kommunikationskünste der Limabohne untersucht eine Gruppe um Wilhelm Boland an der Universität Jena.1
Bis heute konnten bei 900 Pflanzenfamilien rund 2000 «Duftstoff-Vokabeln» identifiziert werden.2 Es gibt offenbar einen Grundstock von 5 bis 10 chemischen Duftstoffsignalen, der allen Pflanzen gemein ist. Jede Pflanze kann zusätzlich eine grosse Zahl von verschiedenen Duftstoffmixturen herstellen. Es scheint eine pflanzliche Grundsprache zu geben und dazu kommen viele «Dialekte», die für jede Pflanzenart charakteristisch sind. Die «Dialekte» ergeben sich aus der leicht unterschiedlichen Rezeptur der chemischen Duftmoleküle. Auch unterirdisch kommunizieren Pflanzen rege miteinander, mit Hilfe von in Wasser gelösten Signalstoffen oder auch über gemeinsame Netze.
Wir wissen erst sehr wenig über die Kommunikation von Pflanzen. Welche zusätzlichen Botschaften eine Pflanze mit ihrer Umgebung austauscht ist uns (noch) verborgen.Man kann sagen, eine Pflanze ist Kommunikation. Sie tauscht sich immer, überall, mit unendlich vielen unterschiedlichen Partnern und Partnerinnen aus. Es ist für uns kaum vorstellbar, wie eine Pflanze (ohne Gehirn und ohne Nerven) so rege kommunizieren, Fragen stellen, auf Signale gezielt antworten und Entscheidungen treffen kann. Tatsache ist aber, dass Pflanzen zu hoch differenzierten Auseinandersetzungen mit ihren Partnern und der Umwelt fähig sind.3 Das bedingt, dass die Beteiligten sich einen Grundstock an Vokabeln (Zeichen, Signalen) teilen, welche alle anzuwenden und zu deuten wissen. Sie teilen auch einen Grundstock an Regeln, mit deren Hilfe sie die Vokabeln entziffern können.
Pflanzen sind wahre Kommunikationsmeisterinnen. Das erklärt vielleicht auch, weshalb sie in der Evolution derart erfolgreich waren, und sich immer wieder schnell an drastische Umweltveränderungen anpassen konnten. Kein anderes Lebewesen war so erfolgreich: Pflanzen machen etwa 90 Prozent der weltweiten Biomasse aus.
Wenn Sie also draussen spazieren gehen, so ist da ein ständiges Gemurmel, immer und überall: ein Gemurmel aus Duftstoffen.

Eine Pflanze ist Beziehung
Ein Wald besteht oberirdisch gesehen aus einzelnen Bäumen, Buchen, Eichen, Fichten oder Erlen. Unterirdisch ist der Wald zu einem einzigen, hochdynamischen und komplexen Ganzen verbunden. Dieses Netzsystem aus Baumwurzeln und Pilzfäden nennt man Mykorrhiza, was auf Griechisch Pilz-Wurzel heisst. Alle Waldbäume und viele Pilze, auch unsere bekannten Speisepilze wie Steinpilze, Pfifferlinge oder Röhrlinge, sind Teil dieses Netzes. Das Netz von Pilzfäden ist viel grösser als die für uns sichtbaren Pilze über dem Boden. In der wissenschaftlichen Literatur wird das unterirdische Netzwerk aus Pflanzenwurzeln und Pilzfäden WWW genannt: Wood Wide Web.4
Die meisten Krautpflanzen, aber auch Sträucher und Bäume tropischer Wäldern, bilden ebenfalls unterirdische Mykorrhiza-Netze mit einer anderen, stammesgeschichtlich sehr ursprünglichen Gruppe von Pilzen, die nicht über dem Boden erscheinen. Bei den Mykorrhiza-Symbiosen profitieren im Allgemeinen beide Symbiose-Partner, die Pflanze und der Pilz. Die Pilzfäden führen den Pflanzen Wasser und Nährstoffe zu. Die Pflanzen beliefern die Pilze mit Kohlenhydraten, wie zum Beispiel Zucker.
Interessant ist nun, dass Pflanzen das gemeinsam gehegte Netz von Mykorrhizapilzen unter dem Boden auch dazu nutzen, um Nährstoffe und Informationen auszutauschen. Eine Pflanze knüpft mit diesem Netz rege Beziehungen zu ihren Nachbarinnen. (…)
In geeigneten Mischkulturen, wie sie früher in Landwirtschaft und Gartenbau gang und gäbe waren, bilden die Pflanzen unter dem Boden mit dem Mykorrhiza-Geflecht eine Art dynamischen Marktplatz, wo jede Pflanze je nach ihren speziellen Fähigkeiten und dem Entwicklungsstand vorübergehend überschüssige Nährstoffe abgeben und gegen Nährstoffe eintauschen kann, die sie gerade dringend benötigt.
Erste Versuche zeigen, dass Pflanzen mit diesem unterirdischen Netz auch Informationen untereinander austauschen, und sich zum Beispiel vor einer kommenden Gefahr warnen. Das Mykorrhiza-Netz funktioniert also wie ein Internet der Pflanzengemeinschaften, in noch ungeahntem Ausmass. Man kann sagen: Eine Pflanze ist Beziehung.5,6      

 
Der Text stammt aus dem Buch «Jenseits der Blattränder – eine Annäherung an Pflanzen» mit Beiträgen von Florianne Koechlin, Daniel Ammann, Bastiaan Frich, Thomas Gröbly, Martin Ott, Andres Wiemken u.a. (Lenos Verlag, 2014. Fr. 28.50).
Buchvernissage: 29.4., 19.30 Uhr, Buchhandlung Bider & Tanner, Aeschenvorstadt 2, 4010 Basel

Weitere Veranstaltungen
5. Mai, 19.30: Buchhandlung sphères, Hardturmstr. 66, Zürich
8.Mai, 19.30: Blumenladen Doris Haller, Bruggerstr. 37, Baden
15. Mai, 20.00: Stadtbibliothek Aarau.
21.Juni, 13.00: Biogipfel Zofingen, Rathaus, 4800 Zofingen
Zusätzliche Veranstaltungen unter: www.blauen-institut.ch



Fussnoten:
1    Siehe: Koechlin, F. (2008): PflanzenPalaver, S. 39 ff.
2    Die Duftstoffe, die Pflanzen zur Kommunikation benutzen, lassen sich drei grossen Klassen von chemischen Verbindungen zuordnen: Terpene, Acetogenine und aromatische Verbindungen. Dabei bilden die Terpene die grösste Gruppe. In: Schulze B., Kost C., Arimura G.I. und Boland W. (2006): Duftstoffe: Die Sprache der Pflanzen. Signalrezeptoren, Biosynthese und Ökologie. Chemie in unserer Zeit, 40, S. 366-377.
3     Karban, R., Yang, L.H. und Edwards, K.F. (2014). Volatile communication between plants that affects herbivory: a meta-analsyis. Ecology letters, 17, S. 44-52.
4    Schwere Waldmaschinen sind eine Gefahr für das WWW. Ein fruchtbarer Waldboden enthält viele Luft- und Wasserführende Hohlräume, in denen sich die Mycorhizza-Netze ausbreiten und unzählige Kleinstlebewesen leben können. Doch die immer schwereren Holzerntemaschinen verdichten den Boden massiv. Hohlräume werden zusammen gepresst, die Vernetzung der Poren zerstört, der Luftaustausch weitgehend unterbunden. Mykorrhiza verschwinden dort fast ganz. An ihre Stelle kommen Fäulnisbakterien auf, die das Baumwachstum hemmen. Die grössten Schäden konnten nach sechs bis zwölf Monaten beobachtet werden. Forscher schätzen, dass es Jahrzehnte, ev. Jahrhunderte dauern kann, bis sich der Boden wieder ganz erholt hat. WSL (2013). Wie schwere Forstmaschinen das Leben im Waldboden verändern. Pressemitteilung.
5    Fruchtbare Böden zeichnen sich dadurch aus, dass sie viele Lebewesen, viel organische Substanz und viel Humus enthalten. Der Verlust von fruchtbaren Böden ist eines der grössten Probleme der weltweiten Landwirtschaft. In den letzten 150 Jahren gingen in landwirtschaftlich genutzten Böden 50 bis 80 Prozent des organisch gebundenen Kohlenstoffs in Oberböden verloren. Jedes Jahr verschwinden rund 24 Milliarden Tonnen Erde durch Erosion. Wir können es uns schlicht nicht mehr leisten, so verschwenderisch mit fruchtbaren Böden umzugehen. Wir brauchen landwirtschaftliche Praktiken, die Böden verbessern, die unterirdische Lebensgemeinschaften fördern und die Ansprüche von Mikrobiomen zu erfüllen versuchen. Auch der Ökolandbau ist in dieser Hinsicht erst am Anfang (Hülsbergen, 2012).
6    Disteln, Butterblumen und Klee sind besonders gute Networkerinnen: Die gemeinhin als «Unkraut» bezeichneten Pflanzen Disteln, Butterblumen und Klee sind besonders gut mit andern Pflanzen und mit vielen Tieren vernetzt. Mehr als andere Pflanzen spielen sie für zahlreiche Nahrungsnetzwerke eine zentrale Rolle. Der Verlust einer dieser Pflanzen hat Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem; besonders betroffen sind Schmetterlinge und Bienen.