Blick in die Röhre

Feierabend. Da landen doch die meisten von uns irgendwann vor dem Fernseher, um abzuschalten und sich unterhalten zu lassen. So frönen wir unserer Musse. Das Abschalten funktioniert ganz gut – zu gut sogar. Unser beliebtestes Werkzeug zur Entspannung ist in Wirklichkeit ein bestens getarnter Energieräuber, der in seiner Effizienz nur vom Surfen im Internet, Chatten auf sozialen Plattformen und Computerspielen übertroffen wird. Seltsam eigentlich: Da hat die Gesellschaft mühsam ihre Arbeitsweise optimiert, um ihren Mitgliedern mehr Freizeit zu ermöglichen – und wir als NutzniesserInnen dieser Entwicklung bezahlen die neuen Medien, damit sie unsere Mussezeit mit Inhalten füllen, weil uns selbst nichts einfällt. Wir glauben, wir bekämen Erholung – doch tatsächlich füttern wir ein Monster, das uns das Mark aus den Knochen saugt.

«Das Fernsehen ist keine ‹Einstiegsdroge› in die Welt der Mediensucht», sagt Daniel Süss, Professor für Medienpsychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Er betont, dass sich Verhaltenssucht im Umgang mit Medien nur unter sehr besonderen Bedingungen entwickelt: «Fernsehen kann dann suchtartigen Charakter bekommen, wenn man sich täglich ausgestrahlten Fortsetzungsserien zuwendet und so stark darin mitlebt, dass das eigene Leben daneben blass und bedeutungslos erscheint. Das passiert nur dann, wenn man im eigenen Alltag unglücklich ist und über wenig Impulskontrolle verfügt.»


Dem Fernsehen komme eine zentrale Rolle zu, meint Dr. Sabine Schiffer, Leiterin des deutschen Instituts für Medienverantwortung, weshalb es vor allem im Bezug auf Mediensucht viel ernster genommen werden müsse. Die Reduktion auf zweidimensionale, visuelle Medien beschneidet die Fantasie, weckt Konsumentenwünsche und vermittelt ungefilterte Werte, so Dr. Schiffer. Bei Erwachsenen ist die Passivität das Problem, und auch die Illusion, am Leben teilzunehmen, während man doch nur auf dem Sofa sitzt. Bei kleinen Kindern, die ihre Sinne ausbilden, Räumlichkeit erfahren und Synapsen aufbauen müssen, ist es dagegen wesentlich schlimmer: Fernsehkonsum in jungen Jahren verhindert die Entwicklung des Gehirns und führt zu nachhaltigen Schäden.

«Wahnsinn», sagt Christoph Hirte, Gründer des Vereins «Aktiv gegen Mediensucht» zur rasanten Entwicklung der Mediensucht, die nicht die gebührende Aufmerksamkeit bekomme. Er kennt die Verzweiflung der Angehörigen, die nirgends kompetente Hilfe erhalten, aus eigener Erfahrung. Und er verzweifelt daran, dass sich niemand kritisch mit den Folgen auseinandersetzen will, die in drei, vier Jahren durch die Mediensucht auf uns zukommen werden. Für ihn sind die Medien ein Werkzeug, dessen Missbrauch propagiert wird und an dem viele Menschen kaputt gehen. «Aber wer das anspricht, wird dargestellt, als sei er von gestern und fortschrittsfeindlich.»

Wer gewinnt? Die Industrie fördert die Suchtbildung, um Menschen in virtuellen Konsumwelten festzuhalten. Sie finanziert Studien, deren Ziel es ist, die Mediensucht zu verharmlosen, so Dr. Schiffer. Sucht Schweiz bestätigt: «Es ist wohl so, dass die Kommunikationsindustrie ein grosses Interesse hat, Kommunikationstechnologien zu fördern und marktfähig zu machen. [...] Fachleuten der Suchtprävention und Medienerziehung stellt sich nicht die Frage, wie diese Entwicklung gestoppt werden könnte, sondern wie eine angemessene Mediennutzung erreicht werden kann. Medienkompetenz ist daher seit einigen Jahren das Schlagwort.» Dazu Prof. Dr. Süss: «Man kann nicht anstreben, ‹medienfrei› zu leben, sondern man müsste prüfen, welche Angebote man meiden muss, weil sie für einen persönlich ein zu hohes Suchtpotenzial haben.»
Kontrollierter Umgang statt verordnete Abstinenz – das scheint der goldene Weg zu sein. Doch wer vermittelt diese Medienkompetenz? Da wird erwartet, dass der Lahme den Blinden vor den Fernseher führt und sich von ihm den richtigen Gebrauch erklären lässt.

10. Januar 2015
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