Das Geben und Nehmen von Nähe und Ferne

Geschichten von Leserinnen und Lesern

Fernsehen geht mir zu nahe

«Seit ich aus der DDR weggegangen bin, habe ich aufgehört mit Fernsehen. Denn wirklich fern sehen – auch das Unerreichbare – konnte man nur hinter der Mauer. Natürlich waren die Westsender strikt verboten. Aber trotz Störsendern und nötigen Zusatzantennen konnte ich es (wie die meisten Ossis) nicht lassen, heimlich durch die Löcher im Informationszaun zu spähen.Das lag freilich auch an den vielfältigen und mit vergleichsweise gigantischem Aufwand produzierten West-Programmen. Daneben wirkten die zwei ärmlichen Ostsender wie das Nachtprogramm vom BürgerTV Hinterfultigen. Aber weit wichtiger: Wer wollte sich schon in seiner Freizeit mit den Parolen und Planzielen bombardieren lassen, die einen sowieso schon den ganzen kafkaesken Alltag lang um die Ohren gehauen wurden? Und weil zudem ein nicht geringer Teil der Informationen meiner selbst erlebten Wahrheit widersprach, ging mir dieses Ostfernsehn eindeutig zu nah.Das Westprogramm wiederum lockte in eine traumhaft unwirkliche Ferne, die es im «real existierenden Sozialismus» nirgends gab. Dort war man frei, reiste in exotische Länder, fuhr die tollsten Sportwagen, lebte in Palästen und wählte aus tausendundeiner Joghurtsorte. Weil das menschliche Gehirn alles, was es sieht, unbewusst als Wirklichkeit registriert, war es klar, dass sich die meisten Einwohner der DDR bei der erstbesten Gelegenheit vom «Arbeiter- und Bauernstaat» verabschieden und dem «kapitalistischen Klassenfeind» den Vorzug geben würden. Ich dachte immerhin noch an die Möglichkeit einer Illusion, wollte mir vor Ort ein Bild machen – und landete daher 1984 wegen versuchter Republikflucht im Gefängnis: Fertig Fernsehen. Warum ich im Westen auf die Flimmerkiste verzichte? Es geht mir zu nah.»                
Jörg Schmidt (*1964), Bern, ehemaliger IT-Fachmann





Im Stall statt im Stau

«Bis zu meinem Rückenunfall fuhr ich jeweils morgens und abends zum Stall, um dort meine sechs Islandpferde zu füttern und zu pflegen. Zusätzliche Reisen zwischen Zuhause und Stall gab es, wenn eines der Tiere ernsthaft krank wurde. Hinzu kam das berufliche Unterwegssein. Ich organisiere und gestalte Seminare und Workshops zur Persönlichkeitsentwicklung mit Pferden. Die Outdoorkurse und Beratungen führten je nach Veranstaltung zu einem grossen logistischen Aufwand: Bücherkisten einpacken, Toiletten und Verpflegung organisieren, Tipizelt aufstellen – Seminare mit Pferden sind zeitlich und kräftemässig sehr intensiv. Zum Glück ergab sich vor acht Jahren die Möglichkeit Arbeits- und Privatleben zusammenzulegen. Seither hat sich nicht nur mein Alltag geändert, sondern auch mein Zielpub­likum. Es kommen immer mehr vom Stress geplagte Menschen aus grösseren Städten, die, wenn sie auf unserem Hof sind, sagen: Ach, hier kann man endlich einmal ausschnaufen. Sie finden zurück ins Hier und Jetzt. Und die Pferde, Meister aller Sinne, helfen ihnen, Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen. Denn Pferde reagieren nicht auf das, was wir sagen, sondern auf das, was wir meinen. Ich habe hier meine kleine Oase aufgebaut und fahre nur noch etwa einmal im Jahr für ein paar Tage nach Island. Das fühlt sich dann an wie vier Wochen. Pendeln muss ich zum Glück nicht mehr. Und so stehe ich heute öfters im Stall statt im Stau.»
Claudia Sidler (*1964), Reisiswil/AG, Reitpädagogin und Supervisorin






In der Ferne Selbst­vertrauen getankt

«Ich hatte das Glück, dass meine Mutter bei der Swissair arbeitete und ich jeweils sehr günstig oder sogar nur für den Betrag von Flughafengebühr und Versicherung reisen konnte – allerdings nur bis zum 24. Lebensjahr. Denn dann laufen die Vergünstigungen aus. Und so reiste ich im Rollstuhl jung in die USA, nach Kanada, Sri Lanka und nach Indien. Bombay, wie es damals hiess, stand eigentlich gar nicht auf dem Programm. Es sollte nach Madeira gehen, allerdings mussten wir wegen eines Kälteeinbruchs umplanen. Meine Mutter wollte mir möglichst verschiedene Orte auf der Welt zeigen.Indien ist ein krasser Gegensatz zur Schweiz, geprägt von einem äusserst hierarchischen Kastensystem und entsprechendem Kastendenken. Die Hotelangestellten waren überrascht, dass ein Mensch im Rollstuhl überhaupt in einem Hotel absteigt. Wer in Indien anfangs 1980er Jahre im Rollstuhl sass, lebte normalerweise auf der Strasse und bettelte. Eines Morgens kam sogar jemand von der Rezeption zu meiner Mutter und bedankte sich, dass sie mich pflegte und bezahlte. Da antwortete sie: «Meine Tochter zahlt, ich habe gar kein Geld.»Indien ist mir in guter Erinnerung geblieben, weil ich sah, wie sich die Armen, also die vermeintlich Randständigen, nicht einfach aus der Öffentlichkeit verdrängen lassen. Das gab mir Mut und Selbstvertrauen, weiterhin und mit dem selben Drive für die Interessen der Rollstuhlfahrenden in der Schweiz einzustehen. Wir brauchen uns nicht zu verstecken.»
Cornelia Nater (*1957), Kunstmalerin, Bern






Zu Hause bei den Katzen

«Als selbstständige Gärtnerin arbeite ich von April bis Dezember und mache den Winter über Ferien. Und zwar zu Hause. Ich habe gute Nachbarn und zwei Katzen-Omas, die Betreuung brauchen. Da kann ich nicht einfach so schnell mal wegfahren. Allerdings ist es nicht so, dass ich noch nichts von der Welt gesehen hätte. Ich war in Barbados, Fuerteventura, Frankreich, Dänemark, Kanada und auch in den USA. Doch heute ist mir Reisen einfach zu stressig. Da bleibe ich lieber daheim, schaue zu meinen Katzen und stricke meinen Pullover. Lustigerweise geht mir das Schweizer Bünzlileben, das ich ja auch ein wenig habe, manchmal auf den Wecker: Pünktlichkeit, anständig sein, Anderen nicht auf die Füsse treten – alles Dinge, die ich auch an mir beobachte, aber die mich manchmal schon nerven. In solchen Momenten rufe ich dann einen meiner Freunde an und mache Katharsis. Die sagen mir dann, wie sie die Sache sehen und das holt mich dann schnell wieder auf den Boden. Auf den Boden meines Gartens, meines Zuhauses, das ich dann wieder viel mehr schätze.»   
A.B.






Die Wehmut der Weltenwandlerin

«Mein Mann Stefan und ich reisten 1997 mit einem One-Way Ticket nach Südamerika. Wir landeten in Argentinien, lernten dort gleich nette Leute kennen und blieben statt einer Woche zehn Monate. Der Hofbesitzer überliess uns während eines Monats sogar die Farm – Rottweiler, Ziegen und Käseproduktion inklusive. Das war der Anfang unserer Beziehung zu Argentinien und seinen Menschen. Das Eine hat dann das Andere ergeben und heute pflegen wir auf unserem biologisch-dynamisch bewirtschafteten Grundstück in Pucará (Provinz Salta) Weinreben und bauen Quinoa und Sesam an. Im Frühling und Herbst  bin ich jeweils für drei Monate dort, weil es dann am meisten zu tun gibt. Telefon und Internethaben wir auf der Finca nicht. Wenn ich mit der Aussenwelt kommunizieren möchte, muss ich vierzig Minuten mit dem Auto fahren.Durch die Abgeschiedenheit des Ortes auf 2400 Meter über Meer lebe ich in Pucará sehr zurückgezogen und habe Raum für Introspektion. Das tut gut. Wenn ich dann wieder in die Städte zurückkomme, beobachte ich, wie müde und erschöpft die Menschen sind. Mir fällt es jedenfalls schwer, Pucará hinter mir zu lassen – die Menschen, die Tiere, das Lebensgefühl. Doch das geht mir ähnlich, wenn ich von der Schweiz weggehe. Ich pendle nun schon seit Jahren zwischen den Welten und der Abschied ist immer irgendwie mit Wehmut verbunden.»
Beatrice Moeckli-Buerge (*1964), Weinbäuerin, Dürrenroth BE/Pucará (Argentinien)






Die Liebe zu Karten

«Ich stamme aus einer Generation, die noch Karten lesen gelernt hat. Aufgewachsen auf einem Bauernhof ohne Auto und Fernsehen faltete mein Vater nach dem Abendessen jeweils die Karte auf dem Tisch aus und erklärte meiner Schwester und mir die Umgebung. Das war zunächst die Stadtkarte von Bern, dann die Schweizer Landeskarte und schliesslich suchte ich mir die Welt im Atlas zusammen. Und natürlich weckte das alles ein grosses Fernweh in mir. Durch den Hof und die Pferde war ich jedoch lange Zeit gebunden. Das änderte sich, als meine Söhne vor einigen Jahren die Pferde übernahmen und ich dadurch Raum bekam. So zog ich los: Kanada, Kalifornien, Ägypten, Sri Lanka, Thailand – auch den Kilimanjaro habe ich bestiegen. Dank der väterlichen Kartenschule kann ich mich jeweils schnell und sicher orientieren, egal wo ich bin. Ich werfe einen kurzen Blick auf die Karte und weiter geht die Reise.»
Anna Egli (*1961), Etziken SO, Personalchefin






Näher zur Familie gerückt

«Wenn ich reisen gehe, dann muss ich das genau planen. Sonst stehe ich mit dem Rollstuhl sprichwörtlich an. Bei fünf Zentimeter hohen Randsteinen gehts noch, aber bei zehn Zentimeter eben nicht. Deshalb muss ich schauen, ob die jeweilige Stadt, in die ich reise, rollstuhlfreundlich ist, ob ich bei Bus oder Bahn gut reinfahren kann und ob das Hotel genügend breite Gänge und Türrahmen hat. Zugreisen, gerade auch kurze Strecken, gehen inzwischen ganz gut. Schliesslich haben viele Züge Niederflureingänge. Früher war das schwieriger. Da musste ich, um mit dem Zug ins Spital zu kommen, Freunde oder die Familie aufbieten, die mir beim Einsteigen halfen. Ich erhielt die Diagnose Multiple Sklerose 2002, als ich bei meiner Freundin in Österreich lebte. Als die Beziehung ein paar Jahre später auseinanderging, kam ich zurück in die Schweiz – auch weil ich immer mehr auf Hilfe angewiesen war. Nach drei Schüben innert kurzer Zeit wurde mir klar: Aus der Weltreise, die ich noch machen wollte, wird nichts. Ich konnte nicht mehr Vollgas geben wie in den Jahren zuvor, sondern musste erkennen, dass ich mein Leben den neuen Umständen anzupassen hatte. Ich musste lernen, es gemütlicher zu nehmen, das war gar nicht so einfach.Reisen gehe ich trotzdem noch: Das kann ein Roadtrip durch die USA sein oder wie vorletztes Jahr die Reise mit meinem Vater durch Mecklenburg-Vorpommern. Auch dieses Jahr reise ich wieder mit ihm – etwas, dass ich vorher nicht machte. Die Krankheit hat mich jedenfalls näher zu meiner Familie rücken lassen.»
Philippe Gygax (*1977), Arth, IT-Spezialist






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08. August 2016
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