Der Terror von Paris und die globale Gewaltspirale

99 Prozent der Menschen wollen keine Gewalt. Trotzdem steckt die Welt in einer bedrohlichen Spirale. Was sind die Hintergründe und wie können wir uns daraus befreien? Antworten vom Friedensforscher.

Jens Wernicke: Herr Ganser, nun wurde auch Europa durch einen terroristischen Anschlag erschüttert – das wirft Fragen auf. Die womöglich erste und wichtigste: Sind wir jetzt alle durch radikale Islamisten bedroht?


Daniele Ganser: Wir wissen noch nicht, was in Paris tatsächlich passiert ist. Die Massenmedien halten es für erwiesen, dass der Anschlag durch radikale Islamisten durchgeführt wurde. Das stimmt aber nicht. Erwiesen ist nichts. Einen Terroranschlag kann man nicht in einem Tag aufklären; das braucht Zeit, Ruhe, Erfahrung – und Scharfsinn.


Die französische Polizei hatte bereits am Tag des Anschlages erklärt, das Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo sei durch zwei radikale Islamisten durchgeführt worden. Die Killer haben angeblich gerufen «Gott ist gross!» und «Wir haben den Propheten gerächt!». Sind diese Ausrufe tatsächlich Beweise? Dann hat einer der Killer im Fluchtauto seinen Personalausweisliegen gelassen. Das gilt nun allerdings als der durchschlagende Beweis. Dabei ist es eine sehr merkwürdige Geschichte. Ich hab mich sofort gefragt: Wie oft habe ich meinen eigenen Personalausweis in den letzten 40 Jahren verloren? Noch nie! Warum nimmt ein Killer seinen Ausweis mit, wenn er einen Massenmord plant? Wie konnte man mit einem Personalausweis sofort zwei Täter identifizieren?


All diese Fragen sind ungeklärt, die ganze «Beweis»-Pyramide steht auf dieser Spitze. Wenn die bricht, kracht die Geschichte in sich zusammen. Meine Fazit ist klar: Erstens ist der Anschlag nicht geklärt, das braucht mehr Zeit. Vielleicht waren es radikale Islamisten. Vielleicht aber auch nicht. Zweitens muss man bei jedem Terroranschlag immer auch untersuchen, ob es nicht eine False-Flag-Operation war, die man in diesem Fall den Muslimen in die Schuhe schiebt, um in Europa und den USA Angst und Hass zu schüren, den Überwachungsstaat weiter auszubauen und Kriege gegen muslimische Länder besser legitimieren zu können.


Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?


Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit dem Thema Terror. Nach jedem Anschlag ist die Öffentlichkeit zuerst schockiert und aufgewühlt. Das ist auch genau das Ziel: Den Menschen vor dem Fernseher soll die Angst in Mark und Bein fahren. Nicht nur die direkten Opfer, sondern vor allem die Beobachter der Geschehnisse sind das Ziel des Terrors.


Oft werden unmittelbar nach dem Anschlag falsche Beweise präsentiert und erfundene Geschichten erzählt, die die Menschen bereitwillig schlucken, weil sie in einem emotionalen Ausnahmezustand sind und nicht mehr in Ruhe nachdenken können.


Das passierte zum Beispiel in Italien. Dort starben 1972 in Peteano bei einem Terroranschlag drei Polizisten. Der Anschlag wurde sofort den extremen Linken in die Schuhe geschoben. Doch die Beweise waren gefälscht. Der Sprengstoffexperte der italienischen Polizei, Marco Morin, hatte bewusst eine falsche Expertise erstellt und behauptet, der Peteano-Sprengstoff sei jener, den auch die linke Terrorgruppe Brigate Rosse verwende. Die Massenmedien folgten dieser Expertise blind, und dadurch wurden nicht nur die Brigate Rosse, sondern auch die italienischen Kommunisten und Sozialisten diskreditiert.


Das ist wichtig, weil auch heute nicht nur die militanten Islamisten am Pranger stehen, sondern faktisch alle Muslime. In Italien dauerte es schliesslich zwölf Jahre, bis Untersuchungsrichter Felice Casson die Lüge aufdeckte. Darum nochmals: Es braucht Ruhe, Scharfsinn und Zeit, um einen Terroranschlag aufzuklären.


Casson fand nämlich heraus, dass nicht die Linke, sondern der Rechtsextremist Vincenzo Vinciguerra den Anschlag verübt hatte, und dass zudem innerhalb des italienischen Geheimdienstes eine Geheimarmee mit dem Namen «Gladio» existierte, die vom US-Geheimdienst CIA aufgebaut worden war und durch geheime Ausschüsse der NATO koordiniert wurde. Vinciguerra gestand die Tat und erklärte die «Strategie der Spannung», die Angst zu schüren und so den Ausbau des Überwachungsstaates zu legitimieren: «Man musste Zivilisten angreifen, Männer, Frauen, Kinder, unschuldige Menschen, unbekannte Menschen. Der Grund dafür war einfach: Die Anschläge sollten die Menschen, das italienische Volk, dazu bringen, den Staat um grössere Sicherheit zu bitten.»


Kann man von einer Radikalisierung einer ganzen Anzahl von Milieus ausgehen und damit auch von einer zunehmenden Terrorgefahr?


Natürlich gibt es eine Radikalisierung, wir stecken mitten in einer riesigen Gewaltspirale, und das ist alles andere als gut. In den nächsten zehn oder zwanzig Jahren müssen wir mit Nachdruck versuchen, aus dieser Gewaltspirale herauszukommen, die sich bereits jetzt immer schneller dreht. Das können wir nur, wenn wir Konflikte, die es immer geben wird, ohne Gewalt lösen.


Wir kommen nicht aus der Gewaltspirale heraus, indem wir noch mehr muslimische Länder angreifen oder bombardieren oder in den NATO-Ländern den Überwachungsstaat ausbauen. Wenn wir die Gewaltspirale genau betrachten, besteht sie aus vielen verschiedenen Elementen. Wir haben in der Tat radikale gewalttätige Muslime. Das ist ein Problem. Im Nordsudan hat der muslimische Präsident Bashir alle «Nicht-Muslime» als «giftiges Ungeziefer» bezeichnet, Christen werden brutal vertrieben und auch getötet. Das ist ein Element der Gewaltspirale.


Ein anderes Element dieser Spirale ist aber auch die Folter der CIA, die kürzlich aufgedeckt worden ist. Auch das ist ein ernstes Problem, da die CIA ausser Kontrolle geraten zu sein scheint. Da gibt es aber auch noch den Krieg von Frankreich und anderen NATO-Ländern gegen Libyen 2011, der 30 000 Tote forderte, die meisten davon Muslime. Und den illegalen Angriffskrieg von Grossbritannien und den USA gegen den Irak 2003, der mehr als 100 000 Tote forderte, auch hier die meisten davon Muslime. Das sind schwere Verbrechen gegen die Menschheit und untolerierbare Verstösse gegen das Völkerrecht.


Derzeit stehen nun die Kämpfe in Syrien und in der Ukraine im Fokus. Jede daran beteiligte Gruppe – die Christen, die Muslime, die Juden, die Hindus, die Buddhisten, die Atheisten – sollte dabei über den eigenen Beitrag zur Gewaltspirale kritisch nachdenken. Erst dann erkennt man, dass wir alle zusammen den Kessel einheizen. Es braucht daher auch und vor allem Selbstkritik, denn man muss den Balken im eigenen Auge sehen – und nicht nur den Splitter in dem des Fremden.


Derlei Selbstkritik ist sicher wünschenswert, scheint aber kaum vorhanden zu sein.


Das stimmt nicht. Es gibt diese Selbstkritik, nur hört man viel zu wenig davon in den Massenmedien. Der US-Drohnenpilot Brandon Bryant beispielsweise hat kürzlich eine sehr bewegende Selbstreflexion durchgemacht. Er hat 1626 Menschen getötet, nicht von Hand oder mit dem Gewehr, sondern vor seinem Monitor. In einem Fall sah er, wie ein Opfer wegen einer offenen Beinarterie verblutete. Auch Kinder und Frauen sterben in Afghanistan und Pakistan bei Drohnenangriffen, die meisten davon sind Muslime. Diesen Teil der Gewaltspirale wollen viele in Europa nicht sehen. Bryant hinterfragte sein Tun und kündigte schliesslich beim Pentagon. Darüber gab es einige Beiträge in den Medien, leider aber viel zu wenige. Daher kennen viele nun zwar den Begriff «Charlie Hebdo», nicht aber den Namen Brandon Bryant.


Bei aller Selbstkritik: Der Angriff auf die Pressefreiheit, den die Morde in Paris offenbar intendierten, ist unentschuldbar!


Natürlich, die Pressefreiheit ist sehr wichtig und wird immer wieder angegriffen, zum Beispiel in Russland. Doch manchmal greift auch die NATO die Presse an, das blenden wir dann gerne aus. Am 23. April 1999 bombardierte die NATO die Redaktion des Radio- und TV-Senders von Serbien. Es gab zehn tote Journalisten, zwanzig Vermisste, die meisten davon verschüttet. Das kritische Medienzentrum war damit ausgeschaltet. Damals gab es weder in Frankreich, noch in Deutschland oder den USA jemanden, der gesagt hätte, es handle es sich dabei um Terror gegen Journalisten. Man fand das stattdessen sogar normal und korrekt – der NATO-Sprecher erklärte, man habe erfolgreich einen Propagandasender ausgeschaltet. Diesen Balken im eigenen Auge will die NATO nicht sehen.


Stecken denn alle Menschen in dieser globalen Gewaltspirale?


Nein. Wir sind derzeit 7 Milliarden Menschen in 200 Ländern. Nur ein Prozent, 70 Millionen, töten und foltern oder geben Untergebenen den Befehl, zu töten oder zu foltern. Das ist also eine kleine Minderheit. Die anderen 99 Prozent möchten in Ruhe leben, sich verlieben, etwas Geld verdienen, in die Ferien fahren, Freunde treffen, eine Familie gründen, Musik hören, die normalen Dinge des Lebens eben. Leider kann man diese 99 Prozent aber sehr gut an der Nase herumführen. Man erzählt ihnen etwa, ihre Freiheit müsse jetzt am Hindukusch verteidigt werden. Und obschon sie zuvor noch nie von diesem Berggebiet gehört haben, ziehen sie womöglich mit in den Krieg.


Ist bei den 70 Millionen Gewalttätern weltweit das Merkmal Religion wirklich das entscheidende Moment?


Nein. Diese 70 Millionen kommen aus verschiedenen Ländern und gehören verschiedenen Religionen an. Es sind aber meistens Männer. Oft geht es im Kern um den Zugriff auf Ressourcen wie Erdöl oder Erdgas, die Religionen werden benutzt, um die Gruppen in die Gewaltspirale hineinzuführen, als «Begründungserklärung» sozusagen, um die es überhaupt nicht geht. Sie sind nicht ausschlaggebend für territoriale oder Ressourcenkriege.


Diese gewalttätigen Männer haben ganz verschiedene Weltbilder. Sie sitzen etwa in den USA und steuern – wie sie denken, im Kampf für Freiheit, Menschenrecht und Demokratie – eine Drohne im Auftrag des Pentagons. Oder sie sind Präsident im Sudan und töten die Christen – vermeintlich im Auftrag Gottes oder der Religion. Oder sie arbeiten beim Geheimdienst in Italien und manipulieren einen Terroranschlag, um die Bevölkerung zu täuschen und den Herren, denen sie damit dienen, die Chancen auf Wiederwahl zu erhöhen, die Möglichkeiten sozialer Revolten im Keim zu ersticken oder anderes …


In jedem Fall aber behaupten sie, dass sie durch Gewalt das Böse ausrotten. Doch die Friedensforschung, in der ich aktiv bin, beweist klar, dass das so nicht geht. Das ist ein Irrtum. Das Böse kann niemals durch Gewalt ausgelöscht werden. Im Gegenteil, Gewalt bewirkt immer mehr und neues Böses, daher sollten wir, wo immer möglich, unsere Konflikte ohne Gewalt lösen.


Wenn dem so ist: Was könnte und sollte man aktuell tun?


Man muss sich erinnern, dass man zu den 99 Prozent gehört, die keine Gewaltspirale wollen. Man sollte mit Mut und Ehrlichkeit für gewaltfreie Konfliktlösung und für Toleranz gegenüber anderen Religionen einstehen. Auch wenn das derzeit nicht sehr populär ist. In einer Zeit voller Angst und Misstrauen muss man Brücken bauen.
Für mich bleibt die Haltung von Sophie Scholl, die sich im Zweiten Weltkrieg mutig gegen den Nationalsozialismus zur Wehr setzte und dafür mit dem Leben bezahlte, hier richtungsweisend:  «Wir haben alle unsere Massstäbe in uns selbst, nur werden sie zu wenig gesucht. Vielleicht auch, weil es die härtesten Massstäbe sind.»


Ich bedanke mich für das Gespräch.


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Dr. phil. Daniele Ganser ist Historiker mit Forschungsschwerpunkten in der Friedensforschung, Geostrategie, verdeckten Kriegsführung, Ressourcenkämpfen und der Wirtschaftspolitik. Er unterrichtet an der Universität St. Gallen (HSG) zur Geschichte und Zukunft von Energiesystemen und an der Universität Basel im Nachdiplomstudium Konfliktanalysen zum globalen Kampf ums Erdöl. Er ist Gründer und Leiter des Swiss Institute for Peace and Energy Research in Basel.
Mehr Informationen: www.siper.ch.


Zuletzt sind von ihm erschienen:
Europa im Erdölrausch – die Folgen einer gefährlichen Abhängigkeit. 5. Aufl., 2014, Orell Füssli. 414 S., Fr. 34.90/ € 24.95


Nato-Geheimarmeen in Europa – inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung. 9. Aufl., 2014.Orell Füssli.
446 S., Sfr. 34.90/€ 24.95