Die Muse der Musse

Geistesblitze und kreative Ideen entstehen selten bei der Arbeit. Wir brauchen dafür gehirninternen Leerlauf, Müssiggang und Zeitwohlstand

Maschinen nehmen uns heute die meiste Arbeit ab, Strom und Energie ersetzen Muskelkraft, zur Herstellung notwendiger Güter bedarf es nur noch halb so viel Zeit wie 1960. Die Produktivität der Wirtschaft ist so ungeheuer gestiegen, dass sie allen Menschen ein gutes Leben ermöglichen müsste, in dem sich Tätigsein und süsses Nichtstun aufs Angenehmste abwechseln.
Bloss erleben wir nicht mehr Freizeit, sondern mehr Stress. Viele Menschen arbeiten sich tief in den Feiertag hinein; im gleichen Zeitvolumen müssen sie ein Vielfaches von früher erledigen; ihre Arbeitzeit wird wie Altpapier zusammengeknautscht und zu einem Brennbrikett verpresst. Burn, burn, Burnout.
Etwa jede dritte Person in der Schweiz und in Deutschland erlebt im Laufe ihres Lebens eine psychische Krankheit, vor allem Angst- und Stresserkrankungen sowie Depressionen. Ein Drittel der Schweizer Erwerbstätigen fühlt sich häufig oder sehr häufig gestresst und ein Viertel emotional verbraucht – vor allem im Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialwesen. Parallel zum Burnout des Planeten, zur Erschöpfung von fossilen und anderen Ressourcen, brennen auch die Menschen aus.
Eine Umfrage im Freundeskreis bestätigt das Bild. Eine Klinikärztin verbringt zwei Drittel ihrer Arbeit mit bürokratischer Dokumentation ihres Wirkes, obwohl sie damit das wirksamste Heilmittel – ihre Zuwendung zu Kranken – geradezu kriminell reduziert. Ein Anwalt erlebt «wahnwitzigen Zeitdruck», den Behörden per Mail und Mandanten per Handy ausüben. Eine Abteilungsleiterin schafft es nicht mehr, die Flut ihrer Mails zu lesen. Sie alle arbeiten an freien Tagen Liegengebliebenes auf. Und hetzen durch Kaufhäuser, um kaputte Billigwaren zu ersetzen, die ausgebeutete Billigbeschäftigte in rasender Geschwindigkeit hergestellt haben: Schuhe, die aus dem Leim gehen; Waschmaschinen mit eingebauten Sollbruchstellen; Laptops und Smartphones mit unauswechselbar ausgebrannten Akkus.


Das also ist «Fortschritt». «Rückschrittlich» lebende Aborigines in Australien sind laut ethnologischen Studien gerade mal drei bis vier Stunden am Tag mit Sammeln, Jagen und Kochen beschäftigt; der Rest des Tages besteht aus Musse: singen, tanzen, Geschichten erzählen. Die «Arbeitszeit» bei traditionell lebenden Dobe-Buschmenschen in Afrika liegt bei noch weniger, nämlich zwei Stunden pro Tag, wobei nur zwei Drittel der Bevölkerung arbeiten. «Eine Frau sammelt an einem Tag genug Nahrung, um ihre Familie drei Tage zu ernähren», schreibt der Anthropologe Richard Lee, den Rest der Zeit verbringe sie im Dorf oder besuche andere Dörfer oder unterhalte Besucher aus anderen Dörfern. Ein Mann gehe eine Woche lang jagen, die nächsten zwei bis drei Wochen verbringe er mit Besuchen, Unterhaltung und Tanz. Viele traditionell lebende Indigene gehören zu den gesündesten und besternährten Menschen der Welt, Mangel-
ernährung oder Angst vor Hunger kennen sie kaum. «Warum sollen wir pflanzen, wenn es so viele Mongo-Mongo-Nüsse in der Welt gibt?», fragt ein Dobe-Buschmann.
Wir aber kennen den Mangel und die Angst vor dem Mangel, wir arbeiten uns halb zu Tode und haben dennoch das Gefühl, immer zu wenig zu tun und ineffizient zu sein. Denn wir müssen ja auch noch dringend Lösungen für unsere Zivilisations- oder Zuvielisationsprobleme finden. Wie denn, wo denn und vor allem wann denn?



Ein Blick zurück zeigt, dass gute Ideen und Geistesblitze niemals innerhalb von Arbeitsroutinen oder im Zeitdruck entstanden sind. Georg Friedrich Händel komponierte den «Messias» 1741 nach einer Genesung, die ihn wohl selbst als Auferstehung anmutete. Folgt man Stefan Zweigs «Sternstunden der Menschheit», so waren es nur zwei Worte in einem Libretto, die Händel elektrisierten: «Comfort ye», «sei getrost». «Und schon, kaum gelesen, kaum durchfühlt, hörte Händel es als Musik, in Tönen schwebend, rufend, rauschend, singend.» Friedrich Nietzsche erlebte 1881 bei einer Wanderung im Gebirge eine Gedankenflut, aus der er sein Werk «Also sprach Zarathustra» formte: «Wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf ... ein vollkommenes Aussersichsein ... eine Glückstiefe ...» Auch Erfinder und Entdeckerinnen werden plötzlich von einer Formel, einer Form, einem Bild durchzuckt. Albert Einstein durchfuhr in einem Wartesessel im Berner Patentamt die Idee, dass ein Mensch im freien Fall seine eigene Schwere nicht mehr empfindet – der Anfang der Relativitätstheorie.
In der antiken Mythologie sind es Quellnymphen, die mit ihrem Musenkuss Dichtern Verse einhauchten. Aber sind es nicht eher Mussenküsse? «Musse» entstammt dem Althochdeutschen «muoza» und bedeutet «freie Zeit zu etwas, Bequemlichkeit, Untätigkeit». Sie gehört ausgerechnet zum Wortstamm «müssen» und bezeichnet einen Zustand, der einem die Möglichkeit bietet, etwas zu tun.
Dieses scheinbare Paradox löste die moderne Hirnforschung mit ihrer Entdeckung des hirninternen «Leerlaufs» auf. Der US-Neurologe Marcus Raichle schob 1998 Testpersonen in den Kernspintomografen und stellte fest: Wenn sie Aufgaben lösten, wurden bestimmte Hirnareale aktiviert, andere aber deaktiviert. Wenn sie aufhörten, zielgerichtet zu denken, aktivierten sich umgekehrt diese «Leerlauf-Netzwerke» (default mode networks). Dazu gehören auch Hirnregionen, die für autobiografisches Erinnern, Identität und Fantasieren zuständig sind. Sie arbeiten weiter beim Tagträumen oder im Schlaf, stellen Ordnung im Gehirn her, sortieren Wichtiges von Unwichtigem, verarbeiten Gelerntes, verbinden Gedächtnisinhalte mit neuen Eindrücken.


In Ruhezeiten beschäftigt sich unser Denkorgan mit sich selbst – und ist dabei erstaunlicherweise sogar messbar aktiver als in Phasen rationaler Konzentration. «Das Gehirn geht in sich selbst spazieren», sagt der Forscher Wolf Singer. «In den Ruhenetzwerken generieren wir die Fähigkeit, über uns selbst und das Verhalten anderer zu reflektieren», ergänzt der Neurophysiologe Bernd Hufnagl. «Hier entsteht Empathie. Und wir entwickeln Neues: Wir verarbeiten die Erlebnisse des Tages und stellen sie in den Kontext unserer Erfahrungen.» Wir tauchen in Erinnerungen und Unterbewusstes herab und bergen Schätze von halbvergessenem Wissen. Da bei Alzheimerkranken, Autisten und Traumatisierten diese Leerlaufnetzwerke beschädigt sind, darf man schlussfolgern: Sie sind existenziell wichtig für Identität, Sozialverhalten, intuitives Wissen und geistiges Schaffen. Wir brauchen sie wie die Luft zum Atmen.
Deshalb sollte man vor wichtigen Entscheidungen «nochmal drüber schlafen». Bewegung, Naturerlebnisse, Meditation und andere Formen von Ruhe und Auszeit leisten die gleichen Dienste. Nach einer Phase intensiven Nachdenkens übergibt die Ratio die Sache vertrauensvoll an die Leerlaufnetzwerke. Und plötzlich rufen wir aus: «Heureka, ich hab's gefunden! Warum bin ich bloss nicht früher darauf gekommen?» Weil Musse und Leerlauf fehlten. Kreativität ist nichts anderes als das Verknüpfen neuer neuronaler Verbindungen zwischen altbekannten Gedächtnisinhalten.


Je stärker wir äussere Sinnesreize vermindern, desto intensiver ist der produktive «Leerlauf». Hirnforscher verglichen Testpersonen, die entweder durch eine City oder einen Park gegangen waren, und fanden heraus, dass Letztere deutlich kreativer waren. Offenbar macht dem Hirn das urbane Bombardement an Lärm und Reizüberflutung zu schaffen. Es blockiert die Leerlaufregionen, das Gehirn muss dauernd hin- und herschalten. Dieser enorme neurophysiologische Energieverlust macht sich subjektiv als Stress bemerkbar. Umgekehrt verhilft die reduzierte Reizdichte der Natur unserem Denken zu mehr Kraft und Konzentration.
Die grössten Werke und besten Ideen verdanken wir also dem Nichtstun. Kreative Menschen wissen, dass sie ihren Geist treiben lassen müssen wie ein tanzendes Blatt auf einem Fluss. Sie ziehen sich gerne aufs Land zurück, um zu malen oder zu denken. «Ich brauche die Stille, selbst Musik stört mich», sagt ein Komponist, der in seinem 16-Seelen-Dorf fast nur Vögel jammern oder jubilieren hört.
Mein eigenes Rezept für süsse Musse au chocolat besteht aus Bewegung. Im Wald, im Duft nach Laub und Moos, kann ich sehr gut nachdenken. Anfangs bin ich noch doof wie Brot, meine Gedanken wirr und ungeordnet, doch je länger ich laufe, desto besser rütteln sie sich zusammen, und nach ein paar Kilometern beginnen neue Ideen aufzublitzen.


Musse und Zeitwohlstand sind heute die wahren Privilegien. Auch und gerade die bestbezahlten Effizienzbewirtschafter besitzen sie nicht mehr, Quantitäter hetzen von Termin zu Termin, Manager verlieren mit ihrem Effizienzdenken die Fähigkeit zu hirneigenem Leerlauf, deshalb sind viele auch so vernagelt dumm. Arbeitsverdichtung im Namen der Effizienz fördert vor allem eins: Ineffizienz. Eine 25-Stunden-Woche für alle, mit humanen Arbeitsbedingungen und vielen Pausen, würde uns hingegen ein glückliches Leben mit vielen Mussenküssen bescheren.

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Mehr zu diesen Thema finden Sie im Heft 135 «Muse und Müssen»





Bei der Musse soll nicht etwa träges Nichtstun locken, sondern das Erforschen und Auffinden der Wahrheit. Augustinus




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24. Februar 2015
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