Je schneller desto mehr

Je schneller wir uns bewegen, desto stärker wirkt die Masse der Menschen und desto grösser wird der Siedlungsdruck. Diese 40 Jahre alte, bahnbrechende Erkenntnis des österreichischen Philosophen und Nationalökonomen Leopold Kohr ist leider noch nicht in die Planungsbehörden vorgedrungen. Anstatt die Quartiere mit vollem Lebenswert auszustatten, werden die Fluchtwege laufend ausgebaut und dadurch die Probleme verschärft.

Broadus Mitchell, der eine Biographie über Alexander Hamilton verfasst hat und zu den bedeutendsten Wirtschaftshistorikern Amerikas gehört, erzählt die amüsante Geschichte von einem etwas irritierten Arzt, der in einem grossen Gebiet im Süden der Vereinigten Staaten bei der Geburt ungewöhnlich vieler unehelicher Kinder dabei war.
Was den Arzt irritierte, war in erster Linie die Tatsache, dass alle Mütter als den Vater ihres Babys die gleiche Person angaben. Völlig von den Socken war er dann allerdings, als er dem Vater der Kinder zum ersten Mal begegnete und dieser sich als Mann von über achtzig Jahren erwies. «Wie um alles in der Welt haben Sie es angestellt, all diese Kinder zu zeugen?» fragte der Arzt. «Nun», antwortete der erstaunliche Achtziger mit altersgemäss krächzender Stimme, «ich gebe zu, ich hätte es nicht geschafft, wenn ich nicht ein Motorrad gehabt hätte.» Mit anderen Worten: Die Geschwindigkeit der modernen Verkehrsmittel erlaubte es dem alten Kerl, in einem beachtlichen Gebiet zu leisten, was nur im Umkreis einer Quadratmeile möglich gewesen wäre, wenn er zu Fuss unterwegs gewesen wäre. Und innerhalb einer Quadratmeile hätte es natürlich nicht so viele Frauen für eine solche Zufallsmutterschaft gegeben.

Doch die Geschwindigkeit, mit der man heute unterwegs ist, hat noch einen viel wichtigeren Effekt, als nur die Bevölkerung quantitativ zu vergrössern, indem man ihre Zahl vergrössert. Die eigentliche Sensation ist, dass die Geschwindigkeit die Bevölkerung auch qualitativ wachsen lässt, indem sie deren Masse vergrössert, so wie eine höhere Geschwindigkeit die Zahl der Atomteilchen erhöht oder eine schnellere Zirkulation die «Geldmenge» vergrössert, wie jedem Wirtschaftsstudenten beigebracht wird.
Das erklärt, warum Theater zusätzlich zu den normalen Ausgängen auch über Notausgänge verfügen müssen – für den Fall, dass das Publikum in Panik gerät und schneller als normal hinaus möchte. Denn wie jeder Theaterbesitzer weiss, hat eine schnellere Menge den gleichen materiellen Effekt wie eine grössere Menge. Die Zahl der verfügbaren Ausgänge muss deshalb nicht der numerischen, sondern der effektiven (oder Geschwindigkeits-) Grösse des Publikums entsprechen; sie ergibt sich, wenn man die numerische Grösse mit der Geschwindigkeit multipliziert.

Was für Menschen in einem Theater zutrifft, gilt natürlich auch für Bevölkerungen, die sich im geschlossenen Raum von Städten oder Nationen bewegen. Je schneller sie sich aufgrund der modernen Verkehrsmittel, vom Motorrad bis zum Düsenflugzeug, bewegen, desto stärker nimmt ihre effektive Grösse zu. Abgesehen von ein paar wenigen Ausnahmen wie Indien ist das Problem der weltweiten Überbevölkerung weniger wegen der übermässigen Zahl an Menschen so beunruhigend, sondern wegen der übermässigen Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegen.
Angesichts dessen besteht eine Möglichkeit, des Problems Herr zu werden, darin, ähnlich wie im Theater eine Art «Notraum» zu schaffen, um die Phasen zu überstehen, in denen sich die Menschen schneller als gewöhnlich bewegen, wie dies in jeder Stadt zu den Stosszeiten der Fall ist. Das tun Planer ohnehin, indem sie ständig neue Strassen bauen und die alten verbreitern.

Das Problem dabei ist nur: Anders als im feststehenden Raum des Theaters lindert die Einrichtung zusätzlichen «Notraums» innerhalb der dehnbaren Grenzen einer Stadt nichts an der Überfüllung; in Wirklichkeit verstärkt sie diese sogar noch, denn sie ermutigt die Bevölkerung, sich über die «Stadtmauern» hinaus in immer grössere Gebiete auszubreiten. Doch je weiter sich eine zusammengehörende Bevölkerung ausbreitet, desto grösser wird die Entfernung, die sie zurücklegen muss, um ihren täglichen Verrichtungen nachzukommen. Und je schneller sie sich bewegt, desto stärker nimmt ihre effektive (oder Geschwindigkeits-) Grösse zu.
Im Falle einer Stadt von der Grösse San Franciscos, Bristols oder San Juans in Puerto Rico bedeutet das, dass eine numerische Bevölkerung von – sagen wir – 600 000 Menschen zu einer effektiven Bevölkerung von vielleicht 2 000 000 Menschen aufgebläht wird, während ihr Netzwerk an Notstrassen bestenfalls für 1 000 000 Menschen ausgelegt ist. Und diese Kluft lässt sich niemals schliessen. Denn jedes Mal, wenn in einem arithmetischen Verhältnis neue Strassen hinzukommen, steigt die effektive oder geschwindigkeitsbedingte Bevölkerung einer Stadt genau deshalb in geometrischem Verhältnis an. Aus diesem Grund erreichte der 1948 eröffnete New Jersey Turnpike die für das Jahr 1975 prognostizierte Verkehrsdichte bereits eine Woche nach seiner Eröffnung; und deshalb hatte, zur Überraschung von Inspektor Martin West vom Strassenverkehrsdezernat der Polizei von Surrey, die durch seinen Distrikt führende Autobahn M 25 schon in den 1980er Jahren «eine Verkehrslast zu bewältigen, wie sie erst für die 1990er Jahre prognostiziert worden war». «Das Verkehrsaufkommen verursacht Chaos» nicht trotz, sondern wegen der neuen Autobahnen.

Damit bleibt als die einzig praktikable Lösung nur die zweite Methode, mit der die Theater der massenvergrössernden Wirkung der Geschwindigkeit zu begegnen versuchen, wenn sie ihr Publikum dazu ermahnen: «Im Falle eines Brandes gehen, nicht rennen.» Denn ebenso wie erhöhte Geschwindigkeit den Druck und die Masse einer Menschenmenge erhöht, verringert eine reduzierte Geschwindigkeit Druck und Masse. Doch wie jeder Theaterbesitzer ebenfalls weiss, lässt sich die effektive oder geschwindigkeitsbedingte Grösse eines Publikums nicht reduzieren, indem man es vor den verheerenden Folgen des Rennens warnt, sondern einzig und allein, indem man ihm den Anlass nimmt, überhaupt zu rennen – das heisst, indem man sicherstellt, dass es zu keinem Brand kommt. Die wahre Antwort auf das Problem, das durch die vergrössernde Wirkung beschleunigten Schrittes entsteht, besteht somit weniger in Notausgängen, sondern in einer feuersicheren Struktur.
Gleiches gilt für die Antwort auf unsere urbanen und nationalen Probleme (…). Deshalb müssen unsere Planer für eine Situation sorgen, die den Menschen nicht die Mittel für eine Fortbewegung mit hoher Geschwindigkeit nimmt, sondern das Motiv, das sie dazu zwingt, sich überhaupt immer schneller zu bewegen. Oder anders ausgedrückt: Womit sie sich befassen müssen, ist nicht die Lokomotion (Fortbewegung), sondern die Motivation; sind nicht Fahrzeug- und Strassentypen, die Hans Müller rasen lassen, sondern der Grund, warum Hans Müller rast – und dann müssen sie ihm diesen Grund nehmen. (…)
Auf kommunaler Ebene lässt sich das erreichen durch ein hohes Mass an städtischer Dezentralisierung oder, wie man es besser nennen sollte, an multizentrischer Umgestaltung. Das bedeutet: Statt die zentralen Behörden einer Stadtregion über die verschiedenen Bezirke zu verstreuen, gilt es, die Stadtteile wieder zu autonomen, eigenständigen Gemeinwesen zu machen, in denen der Bürger alles, was er fürs tägliche Leben braucht, an Örtlichkeiten findet, die zentral, aber klein und in der Nähe sind. Die Antwort ist deshalb keine Dezentralisierung im eigentlichen Sinne, sondern eine Zentralisierung im kleinen Massstab.
Das ist die einzige Möglichkeit, wie sich der steigende Verkehrsdruck unserer motorisierten geschwindigkeitsbedingten Überbevölkerung reduzieren lässt, ohne dass man zu handfesteren Methoden Zuflucht nehmen muss: nicht indem man zentrale Einrichtungen regionalisiert, sondern indem man die Regionen zentralisiert und ihnen zu diesem Zweck ein hohes Mass an Autonomie gewährt; und in den Städten, nicht indem man die Slums suburbanisiert, sondern indem man die Vorstädte urbanisiert; nicht indem man die Viertel der Armen in Viertel für Yuppies verwandelt, die beide 15 Meilen entfernt arbeiten, sondern indem man jedes Quartier in eine kleine, alle Schichten umfassende Stadt verwandelt, die über eine so spezifische Identität, eine so gesellige Eigenständigkeit und einen ästhetischen Charme verfügt, dass kaum jemand sie verlassen muss oder will.
Vor dem Ende des 20. Jahrhunderts, wenn das schreckliche Gespenst der numerischen Überbevölkerung umgehen wird, ist das alles, was man braucht, um die geschwindigkeitsbedingte Überbevölkerung von Städten bis zu zwei Millionen auf eine zu bewältigende Grössenordnung von 600 000 zurückzufahren. Und warum nicht, wie im Falle Londons, den überwiegenden Teil am Ende des Jahrhunderts in eine Föderation von Dörfern verwandeln, wie es der fröhliche Anarchist William Morris für die britische Hauptstadt vorgeschlagen hat? Oder die Stadt abschreiben.

Der vorliegende, leicht gekürzte Aufsatz erschien unter dem Titel «Velocity Population» erstmals 1973 in der Tageszeitung «El Mundo» in Puerto Rico, wo Leopold Kohr als Professor für Nationalökonomie lehrte. Der Text wurde allen MitarbeiterInnen der puertoricanischen Planungsbehörden als Pflichtlektüre verordnet und hat bis heute nichts von seiner Aktualität verloren.

Auf deutsch ist «geschwindig­keits­bedingte Bevölkerung» in der Sammlung «Probleme der Stadt – Gedanken zur Stadt- und Verkehrsplanung» von Leopold Kohr erschienen (Otto Müller Verlag, 2008. 162 S. Geb. Fr. 27.– .

Auf Leopold Kohr, den grossen Philosophen der kleinen Dimension und Lehrer von E.F. Schumacher («Small is beautiful») weisen wir immer gerne hin. Was er in seinem Hauptwerk «The Breakdown of Nations» in den 50er Jahren geschrieben hat, können wir heute am Kontrollverlust der Grossmächte erkennen.

Weitere spannenden Geschichten, Beispiele und interessante Essays zum Thema «Nachbarschaft» im Zeitpunkt 113 (Mai/Juni 2011)

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02. Mai 2011
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