Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.

© Nicolas Lindt

Bei einem kürzlichen Ausflug nach Zürich – nicht in die Stadt, die ich kenne, sondern ins moderne, europäische Zürich beim Hauptbahnhof – bin ich an einer Treppe vorbeigekommen, auf deren Stufen eine Reihe von Eigenschaften aufgemalt waren. Ich habe sie mir notiert, um sie hier wiederzugeben:

«Kommunikativ» stand da geschrieben, «konstruktiv», «systematisch», «kritisch», «authentisch», «informiert», «interessiert», «motiviert», «differenziert», «engagiert» und «strukturiert». Wichtige Eigenschaften zweifellos, die auch ich in meinem Leben beachten und umsetzen möchte, Eigenschaften, die sicher dazugehören, wenn man Kinder unterrichten will.

Denn bei diesem Treppenaufgang handelt es sich um die Treppe, die zur Pädagogischen Hochschule führt, von der ich den Eindruck habe, dass auch sie nicht ganz zufällig in diesem Europaquartier ihren Standort hat. Es fehlen aber andere Eigenschaften, denke ich, die genauso zum Unterrichten gehören und die genauso wichtig sind, wenn es darum geht, mit Kindern zu arbeiten:

Zum Beispiel «liebevoll», «gemütvoll», «verständnisvoll», «feinfühlig», «einfühlsam», «herzhaft», «beseelt», «besinnlich», ja sogar «sinnlich». Warum sind diese Eigenschaften auf diesem Treppenaufgang nicht vorhanden? Sind sie vergessen worden? Hatte es keinen Platz mehr? Nein, ich denke, das geschah mit Absicht. Denn die Einseitigkeit dieser Adjektive zeugt von einem Konzept, das offensichtlich vor allem kopfgesteuerte Lehrpersonen ausbilden möchte.

Was natürlich zur Folge hat, dass die frisch ausgebildeten jungen Erzieherinnen und Erzieher diese Art von akademischer Pädagogik in ihrem Schulunterricht entsprechend umsetzen weden. Das haben wir während der Pandemiezeit besonders drastisch gesehen. Im Zuge der Corona-Massnahmen hat es viele Lehrerinnen und Lehrer gegeben, denen es wichtiger war, sich sklavisch an die Direktiven der Schulbehörden zu halten, als die Kinder in jener schwierigen Zeit mit einem besonders gemütvollen Unterricht zu entlasten.

Stattdessen wurden Schülerinnen und Schüler, die ohne Maske, mit einem ärztlichen Attest in die Schule kamen, von ihren Mitschülern ferngehalten, man redete ihnen ein schlechtes Gewissen ein und hat sie sogar schikaniert. Da gab es viele ganz üble Geschichten in diesen letzten zwei Jahren. Und das hat sicher auch damit zu tun, dass an dieser Höheren Lehranstalt einseitig nur die Kopfseite des Menschen betont und gefördert wird und die Herzenseigenschaften zurückstehen müssen.

Denn wer nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen denkt, spürt, dass Kinder noch etwas anderes brauchen als nur Informationen und Wissensvermittlung. Sie brauchen auch seelische Werte. Zweifellos gab es ganz viele Lehrerinnen und Lehrer, die während dieser zwei Jahre versuchten, die Kinder so gut es ging zu schützen, und es wird auch weiterhin viele Lehrer geben, die es schaffen, trotz der Gehirnwäsche, die sie an der PH hinter sich haben, beim Unterrichten auch auf ihr Herz zu hören.

Dies wäre ganz im Sinne von Johann Heinrich Pestalozzi, dem großen Pädagogen, der vor langer Zeit schon herausfand, dass eine gute Pädagogik alle drei Dimensionen des Menschen fördert: den Kopf, das Herz und die Hand. Vielleicht müsste der gute alte Pestalozzi – wenn er noch lebte – gelegentlich einmal mit Pinsel und Farbkübel an der Europaallee vorbeigehen.

Dieser Text erschien im Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt - Gedanken, Beobachtungen, Geschichten - täglich von Montag bis Freitag auf Spotify, iTunes oder auf der Website des Autors www.dieluftpost.ch