Reisebericht aus dem Land des Lauchs

Der Zufall wollte es, dass ich in Travnik Maiann S. kennengelernt habe. Sie ist Biologin aus der Schweiz und kam mit dem Fahrrad nach Bosnien. Auf ihrer Reise machte sie Zwischenstopp im kleinen Kärntner Ort Lepena, wo sie den Theaterregisseur Zdravko Haderlap traf, einen alten Freund von mir. Er schlug ihr vor, in Bosnien unbedingt Travnik zu besuchen, und mich als geeignete Person, um ihr die Stadt zu zeigen. Gerne nahm ich  an und bemühte mich, ein guter Gastgeber zu sein. Ich zeigte ihr die Burg, die Dörfer Bukovica und Vilenica, den Berg Vlašić, und wir gingen auf den Spuren der Bahntrasse der Schmalspurbahn „Ćiro“, ich gab ihr alte Speisen der bosnischen Küche zu kosten, die meine Mutter für sie zubereitet hatte, erzählte ihr von der Geschichte, den Bräuchen, der Tradition und Kultur. Maiann ist vielsprachig, und ihre Tschechischkenntnisse halfen dabei, dass sie sich nach kurzer Zeit in Bosnien gut verständigen konnte. Ihr Interesse für die balkanische Kultur ist wirklich beachtlich. Im Nu konnte sie Teile des Prologs von Andrićs „Travniker Chronik“ (deutsch: „Wesire und Konsuln“) auswendig, und am Uhrturm auf der Musalla rezitierte sie das Gedicht „Wintermorgen“ von Vojislav Ilić... Ich sagte ihr, dass viele Bosnier es nicht einmal gelesen haben...

Maiann wollte sich für die Gastfreundschaft revanchieren und mich „entlang sauberer Wege, reicher Städte und sorgloser Gegenden“ führen. Zuallererst dachte ich an den Beg aus Trebinje: „Mein Herr, es gibt kein größeres Gebirge als die eigene Türschwelle“. Und dann kam mir als Kontrapunkt der Gedanke von Danilo Kiš, dass es neben unseren unseligen Käffern auch schönere und bessere Welten gibt. Und ich brach auf in die Schweiz, ohne einen Gedanken daran zu verlieren, einen Reisebericht darüber zu verfassen. Die Absicht, die Eindrücke und Erlebnisse niederzuschreiben, stellte sich spontan ein, nach einigen Tagen in diesem schönen Land.
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Vor Tagesanbruch holt mich der Organisator meiner Reise mit dem Auto ab, Herr Mešinović, den ich seit meiner Kindheit unter dem Beinamen Alijica kenne. Er meint, wir hätten noch genug Zeit, irgendwo einen Kaffee zu trinken und zur neuen Tankstelle an der Westeinfahrt der Stadt zu fahren. Dann bringt er mich zum Busbahnhof und taucht ab. Mit einer Handvoll Reisender besteige ich den modernen, erst drei Monate alten Bus des Travniker Unternehmens BIH Tours. Bei der Abfahrt erscheint Alijica mit einer Papiertüte voll heißen Gebäck aus der ältesten Bäckerei Travniks und bietet sie den Mitreisenden an. Dies ist meine erste Fahrt mit einem bosnischen Busunternehmen, bei dem ich nicht wie ein Gepäckstück behandelt werde oder mich fühle wie ein Kriegsgefangener, bestimmt für das Lager Manjača. Meine Dankbarkeit für die Obsorge und Aufmerksamkeit gilt dem ganzen Team der Fahrer und Begleiter, und insbesondere Alijica Mešinović. In diesem komfortablen Bus ist auch die zwanzigstündige Reise überhaupt nicht anstrengend, und der Reisegenuss kann selbst nicht davon dadurch getrübt werden, dass mir das Übliche widerfährt, auf das ich mich bei meinen Fahrten in westeuropäische Länder schon gewöhnt habe. An der kroatischen Grenze werde ich als einziger von allen Reisenden hinausgebeten. Ich öffne die Taschen, zeige das Gepäck, zücke die Geldbörse, erkläre, wie viel Geld ich bei mir habe, wohin und zu wem ich reise, wie viele Tage ich bleiben würde und zu welchem Zweck... Das Standardrepertoire an Fragen, die ich mir schon oftmals angehört habe an verschiedenen Grenzübergängen und Zollstationen.

In Neuchâtel
Wir sind in einem Wohnblock untergebracht, in einer Wohnung mit wunderbarem Ausblick auf den Neuenburgersee und die Alpen in der Ferne. Wir begeben uns auf einen ersten Spaziergang durch die Stadt. In nächster Nachbarschaft ist ein Quartier – Maiann sagt: Mahala – mit Villen, in denen gar nicht so Begüterte wohnen. Alles wirkt vornehm, und architektonisch ohne jede Spur von dem, was Andrić folgendermaßen bezeichnete: „den naiven Dünkel reich gewordener Bauern und Kleinkrämer, die sich in Selbstzufriedenheit sichtbar brüsten und lautstark angeben.“ Weiters sehen wir uns den kleinen Garten bei der Universität an, wo Studierende Gemüse hochziehen, das sie zur Erntezeit an Interessierte verschenken. Es ist schön, durch die stillen Gassen zu wandeln, doch – wie einer aus der Gegend von Višegrad gesagt hat – mich ruft das Wasser, und ich sehne mich danach, ich berühre klares Wasser. Wer die Adria gesehen hat, wird in der Farbe und der Klarheit des Neuenburgersees eine frappante Ähnlichkeit finden, unterstrichen durch die Boote, Yachten und Möwen. Als Kontrast zum Blau des Wassers sind auf der anderen Seite des Sees die weißen Alpengipfel aufgereiht wie geschnittener Travniker Käse. Wir gehen den Kai entlang bis zu einem der größten Gebäude der Stadt, der Post. An der Front stehen mit riesigen Lettern Ländernamen, unter anderem Serbien, Montenegro, Ägypten, Großbritannien... Neugierig geworden, treten wir ein, und neben den Postschaltern gibt es auch ein Fremdenverkehrsbüro. Wir erfahren, dass es sich um die Namen jener Länder handelt, die als erste dem in der Schweiz gegründeten Weltpostverein beigetreten waren. Dann suchen wir die städtische und universitäre Bibliothek auf. In den weitläufigen Gängen ist eine interessante Ausstellung mit Silhouetten von Mitte des 19. Jahrhundert ausgestellt, L' Homme Épinglé. Auf einer Bank gibt es unterschiedliche Bücher zur freien Entnahme. Wir sehen uns die Comic-Abteilung an, mit Ausgaben zu Kunst und Bildung und mit Inhalten, die für die Verhältnisse in unseren Bibliotheken, für unsere Kultur nicht vorstellbar sind. Maiann und ich schmökern in Comics zu historischen Themen und sprechen in „unserer“ Sprache, und ein junger Mann, der über einem Comic sitzt, lächelt, als würde er verstehen, worüber wir reden. Wir schauen zum Lesesaal, die Atmosphäre ist weihevoll wie in allen solchen Sälen. Hier gibt es große Portraits von Künstlern und Wissenschaftlern, von Schirmherren und Mäzenen, und wir treffen Anna-Laure, die uns zum Abendessen bei sich und ihrer Mitbewohnerin einlädt.

In der Abenddämmerung spazieren wir durch die Altstadt und machen dann einen Zwischenstopp im Café L'Aubier. Wir sitzen da zu Apfelkuchen und Kaffee. Mich überrascht die große Auswahl an Natursäften, wie sie in der bosnischen Gastronomie nur selten zu finden ist. Maiann will für das Abendessen ein typisches Schweizer Gericht mit Lauch und Würsten zubereiten, Papé Vaudois. Statt der üblichen Schweinswürste kauft sie in der Fleischerei, nach einem langen Gespräch mit zwei Verkäufern, die betonen, dass sie damit vom traditionellen Rezept abweiche, eine Wurst aus Pferdefleisch, die – was auch immer Vegetarier oder Tierliebhaber davon halten mögen – sehr gut schmeckt. Wir bereiten das Abendessen in der Neuchâteler Wohnung gemeinsam mit Geoffrey vor, einem jungen Franzosen, der an der hiesigen Universität an seiner Dissertation über den Klimawandel in den Schweizer Alpen und seinem Einfluss auf die Vegetation vorbereitet.

In welchem Irrtum und schwerem Unwissen habe ich gelebt? Ich dachte, dass die Schweiz das Land des Käses und der Schokolade sei, und dann sah ich schön langsam ein, dass sie eigentlich als Land des Lauchs bekannt sein sollte. Von diesem Abendessen an und in den gesamten zwölf Tagen Schweiz wurde jeden Tag Lauch serviert – „auf 100 Arten”. Ich habe mich gefragt, ob er eingesäuert, getrocknet, als Gewürz oder Dessert serviert werden würde? Meine Gastgeber erzählen mir, dass das Gemüse, für das ich nie einen Faible hatte, das im Winter gebräuchlichste war. Doch die Art und Weise, wie es hier zubereitet wird, eröffnete mir gänzlich neue Geschmackserlebnisse, und ich begann es zu mögen. Ich habe sogar, ausgestattet mit einer Küchenschürze und den Instruktionen von Maiann folgend, auch selbst Lauch à la Neuchâtel zubereitet.

Nach dem wirklich ausgezeichneten Abendessen süffeln wir Wein, reden über das Wetter und erfreuen uns an Travniker Süßigkeiten wie Baklava, Hurmašice und Kadaif.
Samstagmorgen ist die Zeit, um auf den Markt zu gehen, wo sich traditionellerweise Freunde treffen, um nach dem Einkauf einen Kaffee zu trinken, dazu Holundersirup und Crêpes. In einem vollen Café am Platz, wo sich auch der Markt befindet, treffen wir Frederick Blanvican und seine Frau Marie. Frederick spielt Ziehharmonika und ist Direktor eines ungewöhnlichen Museums, des Sensorium. Er lädt uns dazu ein, am Mittwoch zur Eröffnung einer neuen Ausstellung zu kommen. Marie arbeitet als Bibliothekarin und erzählt uns, dass sie manchmal nicht die Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien versteht, die verlangen, dass die Bücher in der Bibliothek nach ihren Muttersprachen aufgeteilt werden. Sie laden uns zu Kaffee und Tee ein, wir verabschieden uns, da sie noch in die Buchhandlung wollen, und sie entschieden sich nun, ein Werk von Ivo Andrić zu kaufen. Der Markt schließt bereits um 13 Uhr und wir treffen auf Verkäufer, die geschickt ihre mobilen Stände zerlegen. Wir können noch den erlauchten Lauch kaufen und getrocknete Schnittbohnen, wie sie ich bisher noch nicht gesehen habe. Wir reden mit dem jungen Bauern aus der Umgebung von Neuchâtel und verabschieden uns von seiner polnischen Mutter mit „do viđenja!“, sie antwortet uns im gleichen Wortlaut. Ein älterer Verkäufer mit einem Backenbart nach Art von Schweizer Bauern sieht aus, als wäre er einer Werbetafel entstiegen, die ich am Weg zum Markt gesehen habe. Wir fragen ihn aus wegen des Hutes, den er trägt, in der Annahme, es gehöre zur Tracht der Bauern. Ausführlich erzählt er uns mit einem Lächeln über den Jodlerhut, woraus er gemacht wird und wer ihn wann trägt... In einem kleinen Bioladen besorgen wir Öl, Essig und Räucherforelle. Die grauhaarige Dame an der Kassa erkundigt sich freundlich, welche Sprache wir sprechen, und verabschiedet sich mit einem „do viđenja!“ Noch mehrmals erkundigen sich unterschiedliche Leute auf der Straße und in Cafés bezüglich unserer Sprache, die in Neuchâtel nicht so häufig zu hören ist. Diese gleiche Frage, wie die Sprache heißt, die ich spreche, stellten zahlreiche Schweizer, die ich getroffen und kennengelernt habe, und sie ist so schwierig und anspruchsvoll, dass ich keine einfache Antwort geben konnte, und diese geriet oftmals zu einem Kurzvortrag über die Herkunft und Geschichte jener Sprache, die in Bosnien-Herzegowina gesprochen wird. Wir spazieren zum Seeufer und genießen auf der Parkbank die eingelegten Oliven und getrockneten Tomaten zu frischem Brot von der kleinen, mobilen Bäckerei, die an den Markttagen auf den Marktplatz gekarrt wird.

Wer nicht von der Anglerleidenschaft ergriffen ist, dem kann ich nicht erklären, wie sie mich an klaren Seen, alpinen Flüssen und Karstbächen unausweichlich packt und die vergebliche Versuchung weckt, gleich die Angel in das saubere Wasser zu werfen. In allen westeuropäischen Städten unternahm ich in den letzten Jahren eine Wallfahrt zu Anglergeschäften. In Neuchâtel erklärt mir der Verkäufer im „Au Pecheur“ ausführlich die Auflagen für den Fischfang in den umliegenden Gewässern... Maiann kauft mir als Souvenir goldene Wolframkugeln für die Fliegenfischerei, und das zu einem erstaunlich niedrigeren Preis, als ich ihn in Bosnien-Herzegowina zahlen würde, sollte ich überhaupt die entsprechende Größe finden. Ich zeige ihr eine Schachtel mit künstlichen Fliegen, auf der der Name Marc Petitjean abgedruckt ist. Dieser Schweizer aus dem benachbarten Fribourg ist einer der bekanntesten Fliegenfischer der Welt. Einige meiner Travniker Freunde hatten die Gelegenheit, mit ihm am Fluss Neretva zu fischen, erzähle ich ihr.

Nach einem Stadtspaziergang beschließen wir, den Botanischen Garten zu besuchen. Wir besteigen die Standseilbahn und schreiten nach einer kurzen Fahrt auf steilen Straßen mit wunderbaren Einfamilienhäusern samt bemerkenswerten Gärten. Im Gebäude des Botanischen Gartens treffen wir auf den Direktor, Blaise Mulhauser, dem es offensichtlich eine Ehre und Freude ist, einen Besucher aus Bosnien zu empfangen. Hier gibt es eine interessante Ausstellung über alte Gartengeräte. Unter anderem berichten die Exponate über Absinth. Die freundliche Bontanikerin Elodie kredenzt uns in der Cafeteria des Gartens Kaffee, und ich sehe mir die Produkte kleiner lokaler Landwirte an. Im Besucherbuch notiere ich Worte der Begeisterung. Maiann erzählt mir, dass dieses Konzept, das die Leute für ihre Umwelt sensibilisieren soll, vor allem dem visionären Handeln des Direktors zu verdanken sei. In kleinen hölzernen Unterständen finden sich Reproduktionen von Gemälden und Gartengeräte, die zusammen mit weiteren Ausstellungsstücken auf anschauliche Weise eine ursprüngliche Verbindung des Menschen mit der Natur aufzeigen. Der runde Pavillon, erbaut von Studierenden, war geschlossen, und ich wünschte mir, hierher einmal zurückzukehren, um den Naturkalender am Plafond anzuschauen.

Die Schweiz, das sind nicht nur Städte und Dörfer, sondern auch wunderschöne Natur. Eine solche Landschaft besuchen wir, an der Station La Coudre startend. Funiculaire nennt sich die Standseilbahn, die steil auf den Berg Chaumont führt. Maianne versucht mir vergeblich die technische Funktionsweise des Fortbewegungsmittels zu erklären – als jemandem, dem physikalische Prinzipien und allgemeines technisches Verständnis hoffnungslos schleierhaft bleiben. Ich habe mir einzig gemerkt, dass sie Wassertanks erwähnt hat, die in der Vergangenheit genutzt worden sind. Bei der Talstation möchten wir eine Fahrkarte am Automaten kaufen, da tritt eine ältere Dame an uns heran und bietet uns eine überzählige Karte zum Verkauf an. Auch in dieser Geste sehe ich den Ausdruck eines rationellen Umgangs mit materiellen Gütern. Wir fahren durch einen Wald, durchzogen von Spazierwegen, und bald schon bin ich am Gipfel, in 1.171 Metern Seehöhe. Wir begegnen Schnee und Spaziergängern. Da ist auch eine kleine Schule, ein Restaurant und ein Turm. Am Turm ist eine Aussichtsplattform mit Fernglas und einer Landkarte der Seenlandschaft im Tal, über die man den Blick schweifen lassen kann.

Wir wollten eigentlich das nahegelegene Friedrich-Dürrenmatt-Museum besuchen, doch der moderne Bau, entworfen von einem der bekanntesten Schweizer Architekten, Mario Botta, ist schon für Besucher geschlossen. Unser Weg wird nochmals zu dem Museum führen, doch auch dann ist es zu spät, die Schau über den Autor des Theaterstücks Die Physiker zu besichtigen, das auch am Repertoire des Travniker Theaters stand.

Der Besuch des Museums und des archäologischen Parks Latenium bedeutet für einen Museumsarbeiter einen Professionalitäts- und Kulturschock. Am Weg zum Museum passieren wir ein spezielles Schiff, das für die archäologische Forschung und die Rekonstruktion des Pfahlbaudorfes benötigt wird. In einer Fischerhütte betrachten wir die Konstruktionsweise der Wände und sind gleich erinnert an ein baufälliges Haus im Travniker Stadtviertel Osoje, dessen Wände auf dieselbe Weise gebaut sind. Da gibt es eine geheime Verbindung... An der Kasse zeige ich meinen ICOM-Mitgliedsausweis, der es mir ermöglicht, kostenlos alle Museen der Welt zu besuchen, die zum Conseul International des Musées gehören. Wir verweilen im Foyer, bei einer ausgezeichneten Auswahl von Populär- und Fachliteratur zu dieser archäologischen Fundstätte gibt, sowie interessante Souvenirs mit Motiven der Museumsexponate; hier könnte ich den ganzen Tag verbringen. Es würde auch mindestens drei Tage benötigen, die Dauerausstellung dieses größten archäologischen Museums der Schweiz ganz zu besichtigen. Unter dem Motto Wissen und Träume werden 50.000 Jahre Geschichte der Menschheit präsentiert, insbesondere das Zeitalter der Expansion keltischer Kultur. Es verwundert nicht, dass Latenium vom Europarat ausgezeichnet wurde.  

Nach Latenium und einer Atempause am Seeufer setzen wir am frühen Abend unseren Spaziergang fort. Meine Angler-Intuition führt mich zu den Räumlichkeiten der Fischereigesellschaft. Drinnen treffen wir drei alte Fischer. Ich bemerke, dass zwei von ihnen silberne Ohrringe tragen. Sie zeigen uns die ausgestopften Köpfe riesiger, scharfzahniger Hechte, und wir reden genüsslich über den See, über Fische und das Angeln. Hier findet sich auch eine Werkstatt zur Reparatur der Boote, mit denen sie auf den 150 Meter tiefen See hinausfahren, um ihre Angeln auszuwerfen.

In Neuchâtel haben wir auch das Musée d'Histoire Naturelle besucht, wo unlängst die Sonderausstellung Manger, la mécanique de ventre eröffnet wurde. Über zwölf Ausstellungsebenen mit vielen interaktiven und konkreten Exponaten ist das Thema Nahrung für Menschen und Tiere ausführlich und vielschichtig interpretiert worden. In einigen Teilen der Ausstellung treten Les Petits Chanteurs à la Gueule de Bois mit Videoclips zum jeweiligen Thema als eigentümliche Kustoden auf, wie Drillinge wirkende hervorragende und sympathische, bärtige Musiker. Auch diese museale Ausstellung zeugt von Opulenz und Seriosität, nicht nur in materieller und technischer Hinsicht, wie sie in einer wohlhabenden Gesellschaft machbar ist, sondern auch in einer gedanklichen Verspieltheit bei der Konzeption und Ausführung eines Themas. Meine Aufmerksamkeit gilt den Ausstellungsstücken, doch kann ich nicht umhin, mit der gleichen Neugierde die Museumsbesucher zu beobachten. Der Herr mit Zylinder, schwarzen Ohrringen und Brillen scheint soeben von einer Theaterbühne geschritten zu sein, wie auch das Mädchen mit dem Zylinder, wohl seine Tochter. Ein mittelalter Mann mit bodenlangen Dreadlocks. Die Dame mit den runden Brillen erinnert an Figuren bei Hercule Poirot... Alle sind vertieft, sichtlich interessiert und entzückt vom Gesehenen.

Wir essen mit Maiannes Freunden in einer minimalistisch eingerichteten Mansardenwohnung. Valeria ist unlängst von einer Reise nach Südamerika zurückgekehrt, sie hat sich als Biologin auf Schmetterlinge und Blumen spezialisiert. Anna-Laure ist Botanikerin, und ihr Freund Michael hat Soziologie studiert und danach eine Ausbildung als Gärtner absolviert, heute züchtet er Gemüse im Garten des größten Gefängnisses der Schweiz. Vor der Hauptspeise wird Apéro serviert. Als dieser erwähnt wurde, dachte ich an einen Drink, doch so etwas ist in der Schweiz nicht üblich. Apéro wird nicht getrunken, sondern gegessen. Serviert wurden frische Karotten, die man in eine Sauce aus Hefe, Essig und Gewürzen taucht. Wir aßen ausgezeichnete Lasagne, ohne Käse, mit dem unvermeidlichen Lauch und weiterem Gemüse, Salat, und als Dessert Baklava und Kadaifi. Sie fragen mich aus über das „vielleidende“ Bosnien und das Leben nach dem Krieg. Michael ist mit dem Fahrrad dort gewesen und sagt, Mostar hätte ihn am meisten beeindruckt. Ich würde noch mehrere Schweizer kennenlernen, die mit dem Fahrrad am Balkan unterwegs waren. Zum Rotwein starte ich ein kleines Quiz über Schweizer Popmusik, erwähne Andreas Vollenweider und die Band Yello, und nur der Gärtner hat von dem Duo gehört, das aus Boris Blank und Dieter Meier besteht. Auch von den anderen Schweizern, die ich dazu befragt habe, ist praktisch niemand mit der Popularmusik der Landsleute vertraut, da sie in einer ganz anderen Tradition des Hörens erzogen sind, basierend auf klassischer und geistlicher Musik. Diese Leute sind einfach nicht interessiert an kommerzieller und Mainstream-Musik, und so hat beispielsweise Maiann, die seit ihrer Kindheit Querflöte spielt und nach Noten singt, noch nie etwas von Sting gehört.

Zwischen Latenium und dem hochpreisigen Hotel Palaffite, das in seinem Aussehen das Pfahlbaudorf am Seeufer imitiert, gibt es einige Fischhandlungen. Wir öffnen eine Tür und treffen auf einen jungen Fischer von vielleicht 20 Jahren, der mit einer nassen Schürze einen mir unbekannten Fisch filetiert. Wir möchten Fisch kaufen, und er führt uns, lächelnd und gut gelaunt, an einen anderen Platz. Offensichtlich erledigt er mit Freude seine schwere Arbeit. Wir gehen an einem etwas älteren Fischer vorbei, der uns freudig begrüßt. Wir fragen nach Zander, und der junge Mann zeigt uns ein großes Plakat, auf dem alle Fische abgebildet sind, die im Neuburgersee leben, daraufhin hebt er den Deckel eines riesigen Fasses, in dem Hechte schwimmen, die frisch mit dem Netz im See gefangen worden sind. Wir nehmen einen, nicht so großen Fisch, der vor uns ausgenommen wird, sowie sechs Filets, macht 26 Franken 35. Später haben wir im Internet herausgefunden, dass die Filets von der endemischen Fischart Bondelle (Coregonus oxyrinchus) aus der Familie der Salmoniden stammen, die nur im Neuburgersee vorkommt. Wir gehen weiter entlang des Seeufers, vorbei an einer kleinen Marina, an Cafés und an Rastplätzen für Ausflügler, zu einem Dorf, das eigentlich ein altes Städtchen ist, Saint-Blaise, voll Architektur aus dem 16. Jahrhundert. Vor der Kirche sehe ich einige schweigsame Menschen und einen Bestattungswagen. Wir möchten die Wassermühlen am rauschenden Bach besuchen und begeben uns auf den Spazierweg namens „12 Fontänen“, einem der interessantesten historischen Stätten dieses schönen, wie gesagt wird, Dorfes. Es genügt, der diskreten, jedoch gut sichtbaren Markierung für Besucher in den stillen Straßen zu folgen, und es kann nicht passieren, dass man herumirrt auf der Suche nach derart sehenswerten Orten. Alles ist markiert, und so war es an allen Plätzen, die ich besucht habe – in Städten, kleinen Siedlungen, auf Waldwegen... Unterwegs treffen wir Kinder, die hastig-fröhlich zur Schule gehen. Da ist ein kleines Keramikatelier, und davor werden Bücher zu einem symbolischen Preis feilgeboten. Der Weg führt uns durch die Weingärten von Neuchâtel auf den Hügeln über dem See. In Hauterive, einem altertümlichen Städtchen am Rand von Neuchâtel, stoßen wir auf einige Symbole und Skulpturen, die darauf hinweisen, dass wir uns in einem Weinbauort befinden. Wir würden zu Hecht und Bondelle gerne Wein aus dieser Gegend trinken. Auf der Straße sprechen wir einen älteren Herren und eine Dame mit Krückstock an und erkundigen uns nach einer örtlichen Weinhandlung. Mit feinsinniger Freundlichkeit und einem offenen Lächeln erzählen sie uns von Hauterive und verweisen auf die Weinhandlung gegenüber. Alles ist derart leger, und gleichzeitig mutet es an, als hätten sich die Leute om ihrem Leben darauf eingerichtet, mit Unbekannten auf der Straße zu reden, sodass man im Moment die Weinhandlung und den Wein vergisst im Bedürfnis, ihnen bis zum jüngsten Tag zuzuhören. Wir läuten an einer Tür, doch niemand antwortet. In dem Augenblick kommt ein eleganter junger Mann herbei, ein Bewohner, und wir erzählen ihm von unserem Begehr, nun läutet er statt uns an der Tür daneben, und am Fenster darüber zeigt sich eine dunkelhaarige Frau, und sie läutet daraufhin an einer dritten Tür... So hat sich vor unseren Augen eine regelrechte Kettenreaktion der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber Unbekannten abgespielt. Nun taucht an der Tür der Weinhandlung ein junger Mann auf, dessen Bart an Fidel Castro in frühen Tagen erinnert. Der Weinbauer aus der Familie des Produzenten Christian Rossel erzählt uns gerne über die hergestellten Weine, beschreibt deren Aromen und Eigenschaften. Wir wählen einen Gamaret, Grand vin de Neuchâtel, aus biodynamischem Anbau, 18 Franken die Flasche.

Vor dem alten Haus aus bräunlichem Stein, dem traditionellen lokalen Baumaterial namens La Pierre jaune d'Hauterive, nimmt Herr André eine Rast. Er lädt uns dazu ein, am Samstag zu einem Abend der französischen Tänze zu kommen. Wir nehmen einen Abschneider durch den Wald bis zu einem ehemaligen Kloster, das der neue Besitzer so renovieren hat lassen, dass es wie neu aussieht. Hinter dem Klosterbau sind ein Geschäft und ein Café, eigentlich ein einfach eingerichteter Laden, von niemandem betreut. Auf den Regalen Käse, Öle, Säfte und Marmeladen vom angrenzenden Bauernhof, der auch einen kleinen Streichelzoo mit Haustieren hat. Die Preise sind angeschrieben, die Kasse offen, man nimmt, was man braucht, und hinterlässt das Geld. Da ist auch eine kleine Kaffeemaschine im Gelb der lokalen Kaffeerösterei La Semelis, einem Muss für jeden Neuchâteler Lokalpatrioten. Man macht sich einen Kaffee und hinterlässt zweieinhalb Franken. Wir treten in die Sonne hinaus, nehmen uns Stühle und setzen uns neben den großen gemauerten Ziegenstall. Zum Rauschen des Wassers der steinernen Fontäne trinke ich den besten Kaffee, den ich in Schweizer Gaststätten gekostet habe. Zwei Frauen mit einem Kinderwagen nähern sich heran. Eine von ihnen war Kursbesucherin bei Floraneuch, einer privaten Botanikschule, gleitet von Maiann und Kolleginnen. Auch mich, als absolut Unbekannten, begrüßen sie auf die in diesem Teil der Schweiz typische Weise: Drei Küsse und Umarmung. Wir setzen unseren Spaziergang fort, und Maiann zeigt mir einen Streifen Wiese mit wilden Kräutern. Sie erklärt mir, dass Landwirte für diese kleinen, unbearbeiteten Parzellen staatliche Unterstützung bekommen. In der Schweiz wird alles Land bearbeitet, sofern es günstige Eigenschaften für die Landwirtschaft aufweist, und es gibt daher zu wenig nicht kultivierte Flächen, die für Bienen, Insekten und andere Lebewesen wichtig sind.

Einen Nachmittag planen wir einen Ausflug in die Berge, an die Abhänge des Jura-Massivs. Als wir los wollen, fängt es an zu regnen, und am Bahnhof überlegen wir, zu passen. Maiann erkundigt sich beim Fahrkartenverkäufer, wie das Wetter am Nachmittag werden soll. Dienstfertig ruft er die Informationen im Netz ab und gibt sie uns freundlich weiter, so als wäre er Angestellter des Wetterdienstes. Ich beobachte das ungläubig, in Erinnerung an meine Erfahrungen an Busstationen in Bosnien, und versuche mir vorzustellen, wie unsere Fahrkartenverkäufer auf eine ähnliche Anfrage reagieren würden. Die übrigen Reisenden stehen geduldig Schlange, niemand echauffiert sich. Wir entscheiden uns, zu fahren, und mit dem Schnellzug erreichen wir bald das nahe gelegene Bôle, von wo wir nach Champ du Moulin aufbrechen. Wir kommen zu einem Haus, an dessen Tür kunstvoll die Aufforderung steht, dass man gerne eintreten kann. Und wir betreten den leeren Raum. Holzkisten sind als Regale an die Wände gestapelt, und die Bücher daraus können für eine symbolische Summe gekauft werden, die einfach in die offene Kasse gelegt wird. Des Weiteren führt uns der Weg durch die majestätische Schlucht des Flusses Areuse, mit steilen, eng aneinanderliegenden Felsen. Mein Angler-Puls, wenn auch „machtlos und scheinbar stumm“, ist in starker Versuchung ob der Schönheit des felsumsäumten Gewässers, das mich an den heimatlichen Fluss Ugar am Vlašić erinnert. Die Augen, die seit ihrer Kindheit Fische im Fluss beobachten, haben auch im klaren Areuse drei schöne Bachforellen erblickt. Der Weg ist an einem Teil eisig, wir umgehen die furchteinflößend riesigen Eisblöcke, die vom Scheitel der Schlucht hinabgestürzt sind. Neben einer kleinen Brücke, gestaltet wie der Zaun des Fischteiches, den wir als Modell im Museum Latenium gesehen haben, an einem Flussufer mit bemoosten Steinen, setzen wir uns zu einem Teferič, wie Maiann sagt, einem Picknick. Aus der bosnischen Bauerntasche, gekauft bei Fahra in Travnik, holen wir unsere Brötchen heraus, Tee und Kaffe, und bemerken, dass wir den Wein und die Schokolade vergessen haben. Danach, als wir den Gang am Waldweg entlang des Flussufers fortsetzen, taucht ein Gedicht von Wisława Szymborska auf: Auch ein Waldspaziergang ist ein politischer Fakt. Es wird schon bald finster werden, also verzichten wir darauf, die Jean Jacques Rousseau-Brücke zu besuchen und die Dorfherberge, in der es eine kleine Ausstellung zu dessen Aufenthalt dort gibt. Wir entschließen uns, die Zeit bis zur Abfahrt aus Champ du Moulin im Hotel de la Truite zu verbringen, einem schönen Altbau am Flussufer. Die Hausspezialität ist, wie der Name schon anklingen lässt, Forelle nach Müllerin-Art, doch nachdem wir uns am Anfang des Grünen Tals des Absinth befinden, widmen wir uns diesem „Erfrischungsgetränk“ (wie es der Jäger Lika aus Travnik nennen würde), dessen Produktion über Jahrzehnte verboten gewesen war. Die Kellnerin bringt das Getränk, und davon ausgehend, dass ich nicht weiß, wie es angerichtet und getrunken wird, sucht sie mit einer Geste um meine Zustimmung, dass sie es mit Wasser vermischt. Geschmacklich erinnert es an Mastika, und süffelnd versuche ich mich an die Schriftsteller zu erinnern, die ihn in ihren Werken erwähnen.

Während unseres Ausflugs haben wir einen Radfahrer getroffen und eine Dame, die uns mit dem Auto mitgenommen hat zu einem altertümlichen, harmonisch in die Landschaft eingefügten Wasserkraftwerk. Es heißt, dass es in der Schweiz regelrecht ein berichtenswertes Ereignis ist, wenn man bei einer Wanderung niemandem begegnet ist.
Den Abend verbringen wir in der Wohnung mit dem Verkosten heimischer Biere, dem Appenzeller Weizenbier und La Byonda der Brasserie du Pére Poreet. Auch wenn ich kein Biertrinker bin, so merke ich allerdings die Unterschiede in Qualität und Geschmack im Vergleich zu den Bieren, die in Bosnien-Herzegowina angeboten werden.


In Bern
Wir verlassen Neuchâtel und wechseln nach Bern. Aus dem Zug sehe ich erhebende Landschaften und auf den Feldern Anpflanzungen in Grün, sodass kein Zweifel besteht: Lauch. Während wir später der Garnison und der Militärbibliothek entlangspazieren, sind in den kleinen Vorgärten die Stängel dieser Trademark der Schweizer Winterküche zu sehen.
Wir besuchen Noemi und Emanuel in ihrer kleinen Wohnung, in der sie mit zwei kleinen Kindern leben. Ich stelle mich auf Englisch vor, und sie antworten in unserer Sprache. Beide beherrschen sie ausgezeichnet, was mich nicht wundert im Fall von Noemi, die Slawistik diplomiert hat, doch bin ich überrascht, dass sie so fließend und differenziert von einem Schweizer gesprochen wird, der von Beruf Forstingenieur ist. Emanuel erklärt, dass er früher in einer Papierfabrik mit zahlreichen Arbeitern aus dem ehemaligen Jugoslawien zu tun hatte. Dass ich in der Gesellschaft von Slawophilen bin, davon künden auch die slawischen Namen, die sie ihren Kindern gegeben haben. Zu einem feinen Abendessen, bei dem auch, Sie erraten es, Lauch serviert wird, sehe ich mir das Fotoalbum von ihrer Radreise aus der Schweiz über Bosnien bis nach Montenegro an. Sie erinnern sich, dass sie in einigen bosnisch-herzegowinischen Städten eine ungute Atmosphäre verspürt haben, eine Ahnung davon, dass hier vor nicht allzu langer Zeit Schlimmes getan worden ist.

In Bern habe ich viel Wundersames gesehen, und ich beschränke mich auf den genüsslichen Imbiss am Ufer der Aare am Fuße der Altstadt. Wir besuchten auch das Historische Museum. Eigentlich haben wir nur einen Teil der Dauerausstellung angesehen, ich hatte nicht mehr die Kraft, nicht nur physisch, alle Abteilungen sowie die Sonderausstellung zu Niklaus Manuel anzusehen, den Soldaten, Maler und Diplomaten. Aus dieser Vielzahl sinnlicher Eindrücke aus der Vergangenheit möchte ich noch die Bilder Josef Reinhards mit Portraits von Schweizer Handwerkern und Händlern mit ihren Frauen aus dem 18. Jahrhundert erwähnen, und die Ausstellung zur Schweiz im 20. Jahrhundert.

In Gümligen
In Gümlingen, einer kleinen Ortschaft nahe Bern, wohnen wir in der Mansarde eines alten, großen Holzhauses mit Garten, die Gastfreundschaft von Helena und Martin genießend, einem jungen Paar mit drei kleinen Kindern. Helena ist Biologin und eine der Leiterinnen der botanischen Schule Floraneuch, und Martin Physiklehrer, der in seinem Garten alle Arten von Bäumen pflanzen will, die für diesen Teil der Schweiz typisch sind. Er möchte, das seine Kinder beim Großwerden miterleben, wie der Wald neben ihrem Haus wächst. Ich, der ich aus einem der ärmsten Länder Europas komme, habe von diesen wundervollen Menschen aus einem der reichsten Länder der Welt Bescheidenheit gelernt und fühlte mich richtiggehend beschämt als ich sehe, mit welcher Wertschätzung, ja Hochachtung sie mit Nahrung umgehen, die hier auch keineswegs preiswert ist. Da geht es nicht um Geiz, sondern um ein Gefühl dafür, dass das Essen am Tisch dafür da ist, bis zum letzten Bissen gegessen und nicht ohne Grund verschwendet zu werden. Ich dachte zurück an unseren Hochmut, noch 1995, als der Krieg praktisch noch nicht zu Ende war – da konnte man in Travnik in den Müllcontainern weggewrorfene Brotlaibe finden.

Sie sind im Geist und in der Praxis des polyphonen Gesangs groß geworden, und treffen sich zu fünft von Zeit zu Zeit, um sich aus reinem Vergnügen kunstvoller Musik zu widmen. Außer Helena, Martin und Maiann sind in dem Chor Donato, Mathematiklehrer und Vertreter der rätoromanischen Sprachgruppe, und Rena, eine Schauspielerin in einem Kindertheater-Zirkus. Nach einem feinen Abendessen und etwas Rotwein halten sie die Notenblätter in der Hand und singen Lieder aus dem 16. bis 20. Jahrhundert auf Französisch, Deutsch, Italienisch und Englisch. Was für Stimmen, welche Harmonie im Gesang! In der entspannten Atmosphäre ist auch die Disziplin der Ausführenden spürbar. Mit einigen zusätzlichen Proben könnte dieses Quintett auch als professioneller Chor auftreten, doch ist das nicht deren Ambition, und sie sind glücklich, auch ohne Zuhörer zu singen. In einer Pause sagt Helena, sie seien eingeladen, im Oktober des Jahres in einer Bergkapelle zum Hochzeitsjubiläum von Verwandten zu singen. Ihr Konzert, das sie einfach „Singen“ nennen, habe ich als musikalische Belohnung und ästhetische Ehrerbietung.

In Fribourg
Als Leserin in „Vesire und Konsuln“ - im Original „Travniker Chronik“ - verliebt, und voll Respekt für das Bemühen der Travniker Museumsarbeiter, Ivo Andrić im Kulturleben Bosnien-Herzegowinas Präsenz zu geben, möchte Maiann Kooperationen des Museums mit universitären Slawistik-Instituten der Schweiz initiieren. Als überzeugter Fan vereinbart sie einen Termin bei Professor Jens Herlth vom Institut für Slawistik in Fribourg. Noch einmal fühle ich mich regelrecht beschämt von der Aufmerksamkeit und Freundlichkeit der Schweizer. Wie diese Menschen ticken, zeigt allein die Nachricht des Professors, dass er uns am Bahnhof abholen und zur Universität bringen kann! Dennoch machen wir beide uns nach der Ankunft am Bahnhof selbst auf den Weg, um das Institut zu finden. Am Institut für Slawistik suchen wir nach Professor Herlth. Die Tür eines Professorenzimmers ist geöffnet, darin ein Lehrender aus Deutschland. Er sagt, er kenne den Gesuchten, der sei allerdings in einem anderen Gebäude untergebracht. Er ruft bereitwillig seinen Kollegen an, um ihn mitzuteilen, dass er uns den Weg weisen wird. Er öffnet auf seinem Smartphone den Google Navigator und erklärt uns, wohin wir gehen sollen. Wir läuten dann an einer Tür, die uns der junge, smarte Professor Jens öffnet. Wenn auch spezialisiert auf russische und polnische Sprache und Literatur, redet er mit uns einwandfrei in „unserer“ Sprache. Er zeigt uns die Bibliothek des Instituts, und in den Regalen finden wir Andrićs gesammelte Werke. Hier gibt es auch reichlich marxistische Literatur, die in der Schweiz in der Vergangenheit aufmerksam studiert wurde und die auch heute, wie überall in der klugen Welt, nicht im Mülleimer der Geschichte entsorgt worden ist. Während Professor Jens uns Kaffee und Tee zubereitet, gesellt sich seine Assistentin hinzu Eliane Fitzé, die ebenfalls ausgezeichnet unsere Sprache spricht. Sie erzühlt uns, im Rahmen eines Studienaufenthaltes einige Zeit in Zagreb verbracht zu haben. In einer herzlichen und freundschaftlichen Atmosphäre reden wir über die Möglichkeiten der Kooperation und der Präsentation von Andrićs Literatur in den akademischen Kreisen der Slawisten und der breiteren Schweizer Öffentlichkeit, des Weiteren auch über eine literarische Exkursion der Studierenden und Lehrenden aus Freiburg und Bern nach Bosnien-Herzegowina. Wir gehen mit einem Hochgefühl ob des offensichtlichen guten Willens, gemeinsam literarische Treffen zu organisieren.

Nach diesem Termin bestellen wir auf einem Platz bei einem ecuadorianisch-nepalesischen Grillstand die Erzeugnisse dieser ungewöhnlichen Fusion-Küche und genießen, zum feinen Geschmack, den Panoramablick auf die Altstadt.
Im nepalesischen Geschäft Tresor d' Himalaya kaufe ich eine Leinenjacke für 45 Franken, und an der Kasse, bei einem Verkäufer so still wie eine Statue, wohl aus dem Königreich stammend, spendet Maiann etwas Geld für einen guten Zweck. Wir besuchen die katholische Kathedrale St. Nicholas wegen der Glasfenster. Wir passieren das Musee Wassmer, mit Schweizer Maschinen und ungewöhnlichen Objekten, aus dem gerade eine Gruppe von Besuchern strömt. Maiann möchte mir die Schule zeigen, die sie besuchte, das Collège St.Michel, eines der ältesten und schönsten Gymnasien der Schweiz. In der Altstadt sitzen wir auf der Terrasse des Café du Belvedere, vor uns am Tisch ein dunkles und ein helles Bier,  Le Charbonier und Barbelansche, und dann der herrliche Blick auf das Gewirr alter Häuser auf Felsen, darunter die steinerne Brücke und der Fluss Saane, in dessen klarem und sicherlich auch kaltem Wasser zwei Kinder barfuß waten, mit ihrem Gelächter die Enten vor sich hertreibend, damit sie losfliegen. Diese Szene hat mir symbolisch am besten jene Unbekümmertheit vor Augen geführt, die ich bei den Schweizern verspürt habe. Auf der Caféterrasse gibt es keine freien Plätze, alles ist bevölkert mit jungen Leuten. Momentan sitzt niemand in der mongolischen Jurte, die hier errichtet wurde, damit Besucher in ihr Geschichten lauschen können, die dort erzählt werden.

In La Chaux-de-Fonds
Am Weg aus Bern nach La Chaux-de-Fonds machen wir Zwischenstopp in Biel, einer Stadt, so sagt man, der alternativen Lebensformen und der Kultur. Gleichzeitig befinden sich hier auch einige der bekanntesten Manufakturen und Fabriken der Schweizer Uhrenindustrie. Wir halten uns hauptsächlich in der Altstadt auf, besichtigen Plätze, Bauten und Kirchen, besuchen ein Geschäft mit einer breiten Palette unterschiedlicher, sehr günstiger Waren, machen Pause im Gastgarten eines Cafés an einem alten Stadtplatz, trinken Kaffee und essen ein kleines Biskuit für drei Franken. Wir setzen unsere Zugfahrt fort und steigen um in Neuchâtel, wo wir auf Valeria treffen.

Valeria, Maiann und ich treffen am Bahnhof von La Chaux-de-Fonds auf Julia. Die drei Freundinnen haben sich nach längerer Zeit zu einem Mittagessen verabredet. Wir gehen in das südostasiatische Restaurant „Bamboo“ und bedienen uns am Buffet mit unterschiedlichen asiatischen Spezialitäten für 19 Franken pro Person. Die Freundinnen reden Französisch, wegen mir zeitweise Englisch. Julia ist aus Italien und sieht aus wie eine Schauspielerin aus einem Film des Neorealismo. Sie arbeitet in der Schweiz erfolgreich als Architektin und hat sich nun mit ihrem Freund zu einer Reise nach China, Japan und Südamerika entschlossen. Sie sagt, sie hätte genügend Geld gespart, um ein Jahr nicht zu arbeiten. Schließlich bedanken wir uns beim Restaurantbetreiber für die ausgezeichneten und interessanten Speisen, und kurz darauf ist mein Eindruck etwas getrübt, da für eine Karaffe gewöhnlichen Leitungswassers vier Franken verrechnet wurden. Dabei wurden wir nicht hintergangen, denn der Besitzer hatte uns gesagt, dass für das Wasser bezahlt werde. Eigentlich zahlen wir hier für die eigentliche Essenz der Gastronomie, die Dienstleistung und das Ambiente, in dem man bedient wird. In einem der höchsten Gebäude der Stadt fahren wir mit dem Lift nach oben. Julia zeigt uns als Architektin die geometrisch rechtwinkelige Ausprägung der Stadt von der mir gesagt wurde, sie hätte etwas von sozialistischem Flair. Tatsächlich unterscheidet sich die Stadt ein wenig von Fribourg und Neuchâtel, doch konnte ich in den Gebäuden und dem Ambiente nichts Sozialistisches erkennen – zumindest nicht nach meinen Erfahrungen und meinem Verständnis. Wir verabschieden uns von Julie und Valeria, die uns vorschlagen, noch einige Bauten von Le Corbusier abzuklappern. Wir bewegen uns auf sie zu, hin zum hügeligen Teil der Stadt, und ich weiß nicht warum, doch in mir regt sich ein Widerstand, die Gebäude anzuschauen, die der berühmte Architekt geplant hat, und in einem davon hat er sogar gewohnt. Angezogen durch eine Aufschrift, betreten wir ein Gebäude, in dem Menschen mit gewöhnlichen Berufen leben. In diesem, für den Teil der Schweiz recht typischen Bau gibt es eine Vielzahl verfeinerter Dinge und Details – die Postkästen, Türen, Geländer, Wände... Am Spaziergang durch die Stadt stoßen wir auf das  Musée des beaux-arts. Wir treten ein, um uns über die Ausstellung „Soviet Glamour“ zu informieren, da wir bis zu unserer Rückreise mit dem Zug nach Bern nicht genug Zeit für einen Rundgang haben.

Über die Schweizer Bahnen und Züge ist wahrscheinlich schon alles gesagt und geschrieben, daher kann ich auch hier nicht mehr beitragen als einige Gemeinplätze: Pünktlich, schnell, komfortabel und für unsere Verhältnisse teuer. Die Mitreisenden sind leise und diskret, niemand drängelt beim Zu- oder Aussteigen, es gibt Platz und Zeit für alle. Der Schaffner kommt, ein älterer Herr mit einem silbernen Ohrring an einer Kette. Für mich ein ungewohnter Anblick, und Maiann erklärt mir, es handle sich um den typischen Schmuck für Männer aus den Bergen in diesem Teil der Schweiz.
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In Bern warte ich auf die Ankunft des Busses von BiH Tours. Ich gehe kurz zum Fluss, um mich mit jenen Worten zu verabschieden, mit denen ich mich von jedem Fluss verabschiede, den ich verlasse: Leb wohl, Fluss Aare, Wasser der Aare, Du bleib, ich bin jetzt weg... Es ist genug Zeit geblieben, dass wir in der winzigen Crêperie zu Kaffee und Crêpe mit Ahornsirup noch einige Ansichtskarten schreiben. Maiann übergibt mir ein unerwartetes Geschenk von Valeria, und von ihr bekomme ich zwei Zweige einer Berner Kornelkirsche mit Knospen, die erblühen sollten, wenn ich zurück in Travnik bin. Ich nehme auch ein aussagekräftiges Geschenk an mich, das Helena mir geschickt hat.
Es ist, eingebettet in gerade ausgetriebene Frühlingsblumen, ein Päckchen mit Samen vom Lauch!

Enes Skrgo stammt aus Bosnien und ist Präsident des Ivo Andric-Museums in TravnikÜbersetzung: Mario Jandroković
18. Juni 2017
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