Vermassung durch Vereinzelung

Es ist paradox: Je individualistischer wir werden, desto mehr transformiert sich der kollektive Organismus in eine dumpfe Masse.

Der Trend zur Individualisierung ist unverkennbar: Single-Haushalte, Ich AGs, Erosion der Familien und der kollektiven Sicherungssysteme – die wichtigen Faktoren der Vereinzelung nehmen alle zu. Gleichzeitig ermöglicht die elektronische Vernetzung, unsere Arbeitskraft und unsere Produktion in individualisierter Form zu Markte zu tragen. Man kann heute mit den verrücktesten Fähigkeiten und den absurdesten Produkten sein Auskommen finden. Es scheint sogar so, als ob Auffälligkeit und Einzigartigkeit neben dem Preis die entscheidenden Erfolgsfaktoren sind. Je individueller, desto besser.
So meinen wir, ein Leben nach individueller Wahl und eigenen Grundsätzen zu führen. Aber es ist ein Leben nach fremden Regeln, denen wir nie folgen würden und nach unsichtbaren Zwängen, die wir nicht einmal erkennen. Wer würde denn aus freien Stücken an einem Ort leben, an dem er dreimal mehr als nötig arbeiten muss und trotzdem um sein Überleben bangen muss! Doch genau so funktioniert der menschliche Austausch. Unser Geldsystem, privatisiert wie es ist, zweigt rund ein Drittel für sich selber ab. Das sind die versteckten Zins- und Kapitalkosten, die wir mit jedem Preis bezahlen.
Diese enorme Umverteilung von unten nach oben erzeugt einen ständig wachsenden Mangel, der mit lauter Unsinn bekämpft wird: Überproduktion und Verschwendung, Ausbeutung und Gewalt durch Waffen und Institutionen; wir werden gierig und krank, einige sogar kriminell; wir kompensieren, verwüsten, übertreiben – insgesamt vielleicht noch einmal ein Drittel. Zwei Drittel des Aufwandes, mit dem wir unser Leben bestreiten, sind also nicht bloss unnötig, sie zerstören es geradezu. Ohne das erste Drittel, die versteckten Kosten unseres Geldsystems, würde das zweite Drittel wegfallen und wir könnten mit einem Drittel der Arbeit denselben Wohlstand und ein viel grösseres Glück geniessen. Auf so etwas verzichtet niemand freiwillig.

Aber diese Zwänge, basierend auf dem privaten Schuldgeld der Banken, werden im Neoliberalismus nicht an der Wurzel behandelt, sondern mit mehr Freiheiten gekontert. Firmen sollen mehr Möglichkeiten im Kampf um die kleiner werdenden Ressourcen haben und das Individuum soll selber verantwortlich sein für ein gelingendes Leben. Dass wir unseres eigenen Glückes Schmid sind, ist meistens richtig, aber in entscheidenden Momenten falsch. Die Passagiere auf der Titanic waren nicht verantwortlich für ihr Schicksal, aber sie wurden hart getroffen. Die Arbeitslosenheere der Grossen Depression waren nicht schuld an den Exzessen der 20er Jahre. Trotzdem mussten sie unter ihnen leiden. Millionen von Kriegsopfer können nichts dafür, dass die Bomben ausgerechnet auf ihre Häuser fallen.
Im Normalbetrieb des Lebens sind wir unzweifelhaft verantwortlich für unser Schicksal. Ob wir unsere Pflichten ernst nehmen oder nicht, ob wir vorausschauend handeln oder rücksichtlos, fürsorglich leben oder eigenbrötlerisch, ist allein unsere Entscheidung. Und dementsprechend fällt die Quittung aus. Aber in der heute so dominanten Welt des Geldes herrscht eben nicht Normalbetrieb und die Wahrscheinlichkeit unerwarteter Ereignisse von entscheidender Bedeutung entspricht nicht der Normalverteilung der Börsenmathematiker, wie Nassim Nicholas Taleb in seinem Bestseller «Der Schwarze Schwan» überzeugend dargelegt hat. Das Elend der Erde ist nicht dem unvollkommenen Individuum geschuldet, sondern dem gestörten Kollektiv bzw. den Leuten, die seine Regeln bestimmen.
Die Freiheiten des Neoliberalismus bevorteilen ausgerechnet die Starken und setzen die Schwachen unter Druck. Und so stehen wir alle im kollektiven Einzelkampf. Die Menschengemeinschaft wird damit zu Einzelwesen zerstückelt, die ein Massenverhalten annehmen, ohne es wahrzunehmen. Die sozialen Strukturen zerfallen und machen einer neuen Ordnung Platz, in der die Freiheit an erster Stelle steht. Aber Freiheit ist paradox: Wir haben sie nur, wenn wir auf sie verzichten. Ohne den Verzicht wird sie zur Freiheit für Wenige und zum Zwang für Viele.

Wie soll nun dieser Verzicht organisiert werden? Denn wer ihn regelt, kann sich bevorteilen. Es braucht also Unabhängigkeit, Weisheit und vorausschauendes Handeln. Seit Beginn der Geschichtsschreibung werden Freiheit und Ordnung vor allem von Königen verwaltet – manchmal von Priestern, gelegentlich von Tyrannen –, mit zwei bemerkenswerten demokratischen Ausnahmen in der griechischen und römischen Antike. Seit der «Glorious Revolution» von 1689 ist die repräsentative Demokratie das massgebende Herrschaftsmodell. Wir wählen die Vertreter, welche die Freiheit in unserem Interesse einschränken und sichern sollen. Diese 300 Jahre haben uns neben enormen Fortschritte auch an die Grenzen gebracht. Die Freiheiten sind so gross wie noch nie, aber sie sind einseitig verteilt. Ein Prozent der Weltbevölkerung – wenn wir «occupy Wallstreet» folgen – verfügt über so grosse Freiheiten, dass sie gar nicht mehr zu geniessen sind; 99 Prozent stehen im Kampf gegen die Unfreiheit des Elends oder sind auf dem Weg dazu. Dreissig Jahre Neoliberalismus und wir haben buchstäblich «no alternative» – so ziemlich das Gegenteil von Freiheit. Wir haben keine Alternative, als Schulden mit Schulden zu bekämpfen, zu wachsen und zu schrumpfen, die Grenzen gleichzeitig zu öffnen und zu schliessen und die Freiheit simultan zu erweitern und einzuschränken. Alles scheint falsch und richtig zugleich.

In der Verwirrung über richtig und falsch kann keine gemeinsame Realität entstehen. Wenn «anything goes», geht am Schluss gar nichts mehr und die Welt wird unwirklich. Das ist, was viele Menschen heute empfinden. Als Reaktion darauf ziehen sie sich dorthin zurück, wo es noch ein bisschen Wirklichkeit zu geben scheint: in ihre eigene kleine Welt, in den Genuss, in den Formalismus (die Vorgaben sind erfüllt!) und in die virtuelle Sphäre, wo das Unwirkliche Realität spielen darf. Allesamt halbe Wirklichkeiten.
In dieser unwirklichen Welt kämpfen und leiden wir allein, gewinnen vielleicht für uns, verlieren gegen die Andern und leben unsere eigene kleine Existenz. Obwohl zur Individualität gezwungen, reagieren wir auf diesen Zwang nicht individuell, sondern alle gleich: mit Kampf, bzw. seinem Gegenstück, mit Resignation. So wird die Menschengemeinschaft zu Einzelwesen zerstückelt, die ein Massenverhalten annehmen ohne es wahrzunehmen – eine perfekte Falle.

Es ist nicht ganz auszuschliessen, dass eine solche Entwicklung gewollt ist. Divide et impera ist ein ziemlich alter Grundsatz. Wer die Menschen beherrschen will, muss sie teilen, am besten gleich in Einzelwesen. Es gibt eine ganze Reihe von Technologien, die eine Individualisierung förmlich erzwingen. Das Geld zum Beispiel erzeugt, wie erwähnt, einen kontinuierlich wachsenden Mangel, der den Menschen vom Wettbewerb um die bessere Leistung in den reinen Überlebenskampf drängt, wo die Individualisierung ihre absolute Spitze erreicht. Wer um sein Leben kämpft, darf fast alles.
Die Digitalisierung ist eine weitere Technologie mit Individualisierungseffekt, die kompromisslos gefördert wird. Je mehr Daten erhoben werden, desto unverwechselbarer wird der Mensch und desto individualisierter kann er angesprochen werden. Wer sich heute im Internet bewegt, befindet sich ohne Verschlüsselung schon bald in einer auf ihn zugeschnittenen virtuellen Realität, der sog. Filter-Blase. Die gemeinsame Wirklichkeit, die Basis des menschlichen Austauschs, macht einer Realität Platz, die uns nicht mehr herausfordert, sondern bestätigt. Während das Internet in den Jahren seiner Entstehung noch für einen globalen Erkenntnisgewinn sorgte, wird die Lernkurve gewaltig abflachen, je mehr Kommerz und Propaganda die Inhalte bestimmen, denn gerade diese werden mit schwerem Kapitaleinsatz und ausgeklügelter Technologie verbreitet.
Ein starker Treiber der Individualisierung ist auch die Digitalisierung der Arbeit. Je mehr Aufgaben am Bildschirm gelöst werden, der sich irgendwo befindet, desto mehr lösen sich die Arbeitsverhältnisse auf. Wir arbeiten nicht mehr gemeinsam in einer Firma, sondern als Individuen in einer Crowd, zum maximalen Tiefpreis und mit einem Minimum an Rechten.

Noch grössere Wirkung hat der Terrorismus, die «Technologie» zur Verbreitung von Angst und damit einer besonderen Form der Individualisierung und Vermassung. Angst trennt uns von der Umgebung und bereitet uns durch Hormonausschüttungen (Adrenalin und Kortisol) auf eine instinktive Kampf- oder Fluchtreaktion vor. Eine solche ist freilich nur sinnvoll, wenn reale Ursachen dafür bestehen, aber diese sind beim Terrorismus nicht gegeben. Die Gefahr, Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden, ist etliche hundert Mal kleiner als die Wahrscheinlichkeit, in einen Verkehrsunfall verwickelt zu werden. Terrorangst ist also vergleichsweise unbegründet, aber weil sie ansteckend ist, lässt sich viel politisches Kapital daraus schlagen. Der Krieg gegen den Terrorismus ist denn auch derart kontraproduktiv, dass man meinen könnte, er sei vor ziemlich genau 15 Jahren erklärt worden, um ihn zu fördern, nicht zu besiegen. Tatsächlich hat der Terrorismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen, von den Selbstmordattentätern bis zu den Kriegsplanern, an allen Fronten grosse Geländegewinne gemacht und ist bis in unser Innerstes vorgedrungen. Der Tag beginnt mit einem mulmigen Gefühl – dem Weg zur Arbeit – und er endet mit dem Beweis, dass die Angst, die einem den ganzen Tag unsichtbar umzingelte, begründet war: mit den Abendnachrichten und den Bildern der neusten Blutlachen im globalen Dorf.
Bedeutende Kräfte wirken also darauf hin, dass wir zu einer amorphen, von unreflektierten Gefühlen gesteuerten Masse von Einzelmenschen werden. Je nach Standpunkt hat das auch «Vorteile»: Denn um das Chaos der erzwungenen Massenfreiheit zu bezwingen, müssen die Freiheiten massiv eingeschränkt werden: die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Handlungsfreiheit bis hin zur Freiheit der Gedanken. Das ist der Weg von der Individualisierung in die Vermassung.

Was wäre denn die Synthese von Individualisierung und Freiheit? Den Menschen endlich selber über die Einschränkung der Freiheit entscheiden zu lassen, aber nicht als individualisierte Masse, sondern als demokratisch organisierte Gemeinschaft. 300 Jahre repräsentative Demokratie haben sie im Grunde in eine Aktiengesellschaft verwandelt. Das Geld regiert. Ohne grundlegende Reform lässt sich mit der repräsentativen Demokratie kein Staat mehr machen, sondern allenfalls ein failed state, deren Zahl ja bedrohlich zugenommen hat, auch wenn man die EU noch nicht mitrechnen darf. Ob sich die Vertretung in einer repräsentativen Demokratie anstatt durch die Anzahl Stimmen durch den Zufall oder Kriterien der Weisheit (Stichwort «Zukunftsrat») verbessern lässt, ist eine offene Frage. Aber man könnte den Bürgerinnen und Bürgern, die ihren Vertretern und Regierungen ja das Mandat erteilen, tatsächlich das letzte Wort geben, wie es sich in der direkten Demokratie bereits bewährt hat. Wenn das Kollektiv gefragt wird, ist es in der Regel für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität – oder in über 200 Jahre alten Worten: «liberté, égalité, fraternité». Es ist zudem gar nicht einfach, den Menschen in einer funktionierenden Demokratie einen gravierenden Blödsinn aufzuschwatzen. Man muss dazu schon die demokratischen Regeln ausser Kraft setzen, wie dies Despoten immer wieder tun.

Die Schweiz ist ein ziemlich gutes Beispiel dafür, wie es einem Land geht, dessen Bevölkerung das letzte Wort hat. Ich stelle dies fest als Stimmbürger, der in den meisten Fällen unterliegt. Natürlich gibt es viele dauerhafte Baustellen, beschämende Ärgernisse und einige Missbräuche der Demokratie in diesem Land. Aber insgesamt, und vor allem im Vergleich mit anderen, macht es die Schweiz nicht schlecht.
Das hat nichts damit zu tun, dass zwischen Alpen und Jura ein besonders brillanter Menschenschlag leben würde. Eher das Gegenteil ist wahr: Wir sind so gewöhnlich, dass wir das Ausserordentliche nur gemeinsam zustande bringen. Niemand, kein Individuum und keine Gruppe, darf so herausragend sein, dass er den Willen der weniger cleveren Mehrheit missachten könnte.

Eine funktionierende Gemeinschaft ist also keine strukturlose Masse von einsam kämpfenden Individuen, sondern ein Organismus, der die Wünsche der Einzelteile nach gewissen, für alle gleichen Regeln wahrnimmt und unter definierten Umständen erfüllt. Dabei gilt eine paradoxe Wechselwirkung: Das Individuum unterwirft sich der Gemeinschaft, um seine Freiheit vor der Gemeinschaft zu schützen. Man will ja keinen Staat, der einen bevormundet. Aber einen Staat hat man nur, wenn man einer gewissen Bevormundung zustimmt. Das erfordert Einsicht. Mit Einsamen, Egoisten und Herrschsüchtigen lässt sich halt kein Staat machen.
Was geschieht, wenn die Individualisierung weiter getrieben wird? Die Einsicht schrumpft, dass ein selbstbestimmtes Leben nur möglich ist, wenn man einen gewissen Teil der Freiheit an die Gemeinschaft abtritt. Der kollektive Organismus wird dadurch geschwächt, die Freiheit schwindet, ihr Preis steigt. Wer sie wahren will, muss sie erkämpfen – und das bringt sie zum Verschwinden. Ein Beispiel aus dem Alltag der westlichen Führungsnation: Je mehr Menschen Waffen tragen, desto mehr Menschen müssen Waffen tragen, um sich vor denen zu schützen, die Waffen tragen.

Wenn uns etwas von der Vermassung bewahren kann, dann ist es die direkte Demokratie. Das ist nun wirklich ohne Alternative.

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07. September 2016
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