Nicht schiessen! Brief eines ukrainischen Kriegsdienstverweigerers aus Gewissensgründen

Über diesen Ukrainer wird nicht gerne gesprochen: Yurii Sheliazhenko. Er ist ein überzeugter gewaltfreier Pazifist, der den Einsatz von Waffen und Krieg als Mittel zur Konfliktlösung ablehnt, ein Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen.

Yurii Sheliazhenko, ukrainischer Pazifist

Yurii Sheliazhenko ist Vertreter des EBCO (Europäisches Büro für Kriegsdienstverweigerung) und der War Resisters‘ International sowie Vorstandsmitglied des internationalen pazifistischen Netzwerks World Beyond War, Exekutivsekretär der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung. Wegen seiner Positionen wurde er wiederholt verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt, weil er Kriegsdienstverweigerer und «Deserteur» ist.

Am 25. Februar 2023 wurde sein Brief vor der Präfektur von Lodi während einer Veranstaltung der Friedenskoordination öffentlich verlesen. Hier ist der Text:

Wir müssen Versöhnung anstreben, nicht den totalen Sieg, nicht die Vernichtung des Feindes.

«Liebe Freunde,
ich überbringe Ihnen Grüsse aus Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, und danke euch, dass ihr euch gegen diesen Krieg, der das Blutvergiessen fortsetzt, auf die Strasse gegangen seid.

Vor ein paar Tagen ist ein Jahr des Krieges zu Ende gegangen. Ein Jahr, in dem meine Stadt, meine schöne Stadt Kiew, mehrmals bombardiert wurde: Mein Haus wurde von den nahegelegenen Explosionen erschüttert. Ein schreckliches Gefühl.

Jetzt weiss ich, was die Menschen in Donezk und Luhansk in den letzten Jahren durchgemacht haben: Die ukrainische Armee hat ihre Städte seit 2014 unter Beschuss genommen.

Und nicht nur das: Die Zwangsmobilisierung – dieser eiserne Vorhang, der mich daran hindert, an Ihrer Demonstration teilzunehmen, da alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen können, weil sie gezwungen sind, am Krieg teilzunehmen – und ähnliche Einschränkungen der individuellen Freiheiten erleben die Menschen in der Ostukraine schon seit gut neun Jahren.

Ich denke, Menschen, die es gewohnt sind, in demokratischen Ländern zu leben, können sich gar nicht vorstellen, wie es ist, unter diesen schrecklichen Bedingungen zu leben; aber heute erleben wir diesen Krieg, angeheizt von unseren kriegstreiberischen Politikern, die von Politikern in westlichen Ländern unterstützt werden, so wie die kriegstreiberischen russischen Politiker von Politikern in anderen Ländern unterstützt werden. Das ist einfach falsch.

Wir sollten den Krieg jetzt beenden.
Wir sollten uns für den Frieden einsetzen und verstehen, dass Krieg ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, und gemeinsam handeln, um die Wurzeln zu beseitigen, die zu Kriegen führen. Dies erfordert die Umsetzung des Rechts auf Verweigerung des Tötens und der Wehrpflicht, wie es in Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte garantiert ist; ausserdem ist es notwendig, einen sofortigen Waffenstillstand und anschliessende Friedensverhandlungen zu fordern.

Wir müssen eine Kultur des Friedens kultivieren, durch Friedensjournalismus, Bildung, Kunst und kreative Arbeit, die unsere Zukunft besser macht. Denn es geht nicht um etwas so Archaisches wie die staatliche Souveränität, sondern um das, was die menschliche Zivilisation ausmacht: unsere Fähigkeit, Konflikte gewaltfrei zu lösen, die Fähigkeit, die Menschenwürde zu bewahren; [die Fähigkeit], friedliche Menschen zu sein und keine wilden Bestien.

Wir müssen Versöhnung anstreben, nicht den totalen Sieg, nicht die Vernichtung des Feindes – dieser Begriff des Feindes ist ein falscher Begriff, der geschaffen wurde, um die Realität zu verzerren und [einen] Sündenbock zu schaffen.

Wir müssen den Frieden suchen, den Frieden aufbauen.

Ich danke Ihnen für Ihr Engagement im Namen aller vernünftigen Ukrainer.
Ich liebe euch, ich unterstütze euch: die gesamte ukrainische Friedensbewegung unterstützt euch.

Grüsse nach Italien: Ich wünsche euch Frieden und Glück.»


Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Alina Kulik vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!