Was Kinder wirklich brauchen

Die aktuellen Veränderungen sind einmalig in der Geschichte der Volksschule. Kein Stein bleibt auf dem anderen: Harmos, der komplexe Lehrplan 21, Frühfremdsprachen und integrative Beschulung um jeden Preis. Warum sind viele Eltern, Lehrkräfte und Kinder überfordert und verunsichert? Antworten

E in zentraler Aspekt fehlt allen Reformen: Die Bedeutung der Lehrkräfte für einen gelingenden Unterricht! Lehrer, die nur wenige Lektionen in einer Klasse unterrichten, kennen das Phänomen: Die fehlende Beziehung zu den Schülern erschwert das Unterrichten erheblich, besonders in Klassen mit herausfordernden Kindern und Jugendlichen.

Verheerend ist, dass man nun bereits auch auf der Primarstufe vom bewährten Klassenlehrersystem abrückt. Die Kinder werden immer öfter von Fachlehrern unterrichtet. Dies erschwert einen Bindungsaufbau auf beiden Seiten. Anstatt Schüler werden Fächer unterrichtet. Wir Lehrkräfte verkommen immer mehr zu Vollzugsbeamten eines Regelwerkes mit 3500 Kompetenzen (LP21)!
Gemäss dem britischen Kinderpsychiater Sir John Bowlby (1907 bis 1990), dem Pionier der Bindungsforschung, kommen Kinder mit einem ausgeprägten Bindungsinstinkt zur Welt, einem Drang, sich an jenen Menschen zu orientieren, von denen sie versorgt werden, im Normalfall die Eltern.

Die Kinder übernehmen zunächst die Werte ihrer Eltern und reifen erst auf dem Boden dieser Geborgenheit zu echter Eigenständigkeit. So funktioniert seit Menschengedenken das Heranreifen von Menschen und die Übermittlung kultureller Errungenschaften von Generation zu Generation.
Seit dem Beginn der Industrialisierung vor etwa 200 Jahren und noch stärker seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Lebens­umstände in den Industrieländern so grundlegend verändert, dass die natürlichen Bindungshierarchien durcheinander geraten sind.
Wenn die verantwortlichen Erwachsenen, was heute immer öfter der Fall ist, die Rolle der primären Bindungsperson nicht mehr wahrnehmen (können), überträgt das Kind seinen Bindungsinstinkt woandershin – so wie das frisch geschlüpfte Entenküken. Fehlt die Entenmutter, läuft es vertrauensvoll der Bäuerin, dem Hofhund oder einem Spielzeugauto hinterher. Es fühlt sich in Gegenwart seines Bindungsobjektes beruhigt und sicher, auch wenn es auf diese Weise weder schwimmen noch fliegen lernt.
So beobachten wir seit geraumer Zeit, wie diese vertikale Übermittlung von den Erfahrenen zu den Neulingen im Leben durch eine horizontale Orientierung und Wertevermittlung ersetzt wird. Die Kinder und Jugendlichen orientieren sich an ihresgleichen (Musik, Kleidung, Sprache) und die Werte der Erwachsenen verlieren zunehmend an Bedeutung.
Der kanadische Entwicklungspsychologe und Bindungsforscher Gordon Neufeld hat aus den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und Verhaltensforschung die grundlegenden Gesetzmässigkeiten von Bindung extrahiert. Nach ihm haben wir vergessen, wie wichtig es ist, den Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass wir wissen, wo es lang geht. Dass wir diejenigen sind, die sie beschützen und versorgen. Wenn wir diese Rolle nicht wahrnehmen, fällt das Kind in eine Bindungslücke. Leider orientieren sich immer mehr Kinder in ihrer Not an Gleichaltrigen oder an elektronischen Bindungstechnologien (Handy, Computerspiele, Facebook oder Whatsapp). Die Bindungslücke ist vorübergehend überbrückt, eine innere Entspannung tritt ein.

Das ist genau der Moment, wo es anfängt schiefzulaufen! Laut Gordon Neufeld haben Verzerrungen und Störungen im Verhalten, Fühlen und Denken des Kindes ihren Ursprung fast immer in Störungen der Bindungsentwicklung. Die Resilienzforschung1 hat untersucht, welcher Einzelfaktor Jugendliche am stärksten davon abhält, verhaltensauffällig zu werden, exzessiv Drogen zu konsumieren, kriminell und gewalttätig zu werden. Es ist dies mindestens eine tiefe Bindung zu einem Anteil nehmenden, reifen Erwachsenen, (einem Elternteil, einem Lehrer oder der Grossmutter). Eine reife Person also, die dem Jugendlichen das Gefühl vermittelt: Ich sorge mich um dich, du kannst dich auf mich verlassen, du darfst dich bei mir weich und verletzlich zeigen.

Für primäre Bindungspersonen bedeutet dies, dass sie nicht mit Trennung drohen sollten, um ein bestimmtes Verhalten zu unterbinden oder zu fördern. Leider sind Erziehungsmethoden, in denen Trennung zur Disziplinierung eingesetzt werden (auf's Zimmer schicken, Auszeit, Gesprächsverweigerung etc.), weit verbreitet. Im emotional geladenen Konflikt ist eine Klärung oft nicht möglich. Besser ist es, den Vorfall erst wieder aufzugreifen, wenn sich die Lage entspannt hat.
Trennungserfahrungen, die Wurzel der häufigsten Probleme von uns Menschen, wollen wir doch nicht unnötig verschlimmern, indem wir noch mehr Trennung hinzufügen!     
--------------------------------
1 Die Resillienzforschung untersucht jene Faktoren, welche die Widerstandskraft von Individuen oder Systemen fördern.
-------------------------------

Michael Miedaner (*1961) ist verheiratet, Vater zweier Kinder und arbeitet seit 20 Jahren als Sekundarschullehrer in Oberwil (BL). Seit über zehn Jahren bildet er  Lehrkräfte in Gewalt- und Mobbingprävention an päd. Fachhochschulen weiter. Er studiert seit sechs Jahren am Neufeldinstitut  (Vancouver, Kanada), das sich mit der Entwicklung der Kinder aus bindungsorientierter Sicht befasst und hält regelmässig Vorträge. www.roots-of-life.ch

Gordon Neufeld (*1946), Autor des Buches «Unsere Kinder brauchen uns» (Genius Verlag 2006), findet am 8. Okt. 2016 in Zürich ein Tagesseminar statt zum Thema «Trauma, Resilienz und Beziehungen». Ein Forum am nächsten Tag befasst sich mit «Heilung und Linderung von Traumata» (mit Gordon Neufeld, Martin Miller, Dagmar Neubronner). Infos: www.neufeldinstitute.de

---------------------------

 

Mehr zum Thema allein - zusammen finden Sie im Zeitpunkt 145 "allein - zusammen"
03. Oktober 2016
von: