Braucht die Schweiz mehr Gefängnisse?

Die Gefängnisse in der Schweiz sind überfüllt. In der Folge kommt vermehrt zu Gewalttaten. Ursache sind überwiegend nicht bezahlte Geldstrafen. Statt die rigide Strafpraxis in Zweifel zu ziehen, fordern Hardliner mehr Gefängnisse. (Roland Rottenfußer)

Die Nachricht:



Im Kanton Bern müssten 3000 Menschen hinter Gitter, die ihre Geldstrafe nicht bezahlen konnten oder wollten. Da aber im Gefängnis kein Platz mehr frei ist, müssen die Anwärter noch auf unbestimmte Zeit darauf warten, endlich ihre Strafe antreten zu «dürfen». In der gesamten Schweiz sind die Gefängnisse überfüllt. Zu den Ursachen zählt der «Boom» psychisch kranker Täter, die in Ermangelung von Therapieplätzen im Normalvollzug einsitzen müssen. Die Gewalt gegen Mitgefangene und Wärter hat indes drastische zugenommen. Für das letzte Jahr erfasste die Statistik 341 schwere Gewaltakte. In Aarau-Telli überwältigten Gefangene eine Wärterin. Die Kommentatorin der «Sonntagszeitung» fordert nun mehr Gefängnisse. Die Justiz habe «A» gesagt, indem sie nach einer Phase «skandalöser» Milde endlich härtere und längere Strafen verhängt. Nun müsse sie aber auch «B» sagen, sprich für mehr Vollzugsplätze sorgen.



Der Kommentar:



Gefängnis ist die Fortsetzung der Folter mit verfeinerten Mitteln. Sind Gefängnisstrafen nicht sorgfältig mit Verstössen gegen natürliches Recht begründet (z.B. dem Recht auf Leben), bedeuten sie nichts anderes als die Anwendung psychischer Folter gegen Menschen, die eine andere Entscheidung getroffen haben als es Staat verlangt. Haft ist ihrem Wesen nach immer Beugehaft, der Versuch den Willen von Menschen zu brechen. Das mag einsehbar sein, wenn dieser «Wille» darin besteht, andere beliebig zu töten, zu schlagen oder zu vergewaltigen. Es wird problematisch, wenn es sich gegen Akte eines gesunden zivilen Ungehorsams richtet – oder schlicht als Strafe für das «Verbrechen», kein Geld zu haben.



Offensichtlich ist die Überbelegung der Schweizer Gefängnis nicht auf die Zunahme schwerer Gewaltkriminalität zurückzuführen, sondern auf eine Häufung von Fällen, in denen Bürger Geldstrafen nicht mehr bezahlen können oder wollen. Dies sollte für die Politik ein Alarmsignal sein. Entweder ist es ein Symptom der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Dann sollte man die Verarmung bekämpfen, anstatt die Armen wegzusperren. Oder es deutet darauf hin, dass eine wachsende Zahl von Schweizern sich gegen Geldstrafen sträubt, weil sie diese als zu ungerecht oder zu hoch empfinden. «Na und?», werden Law-and-Order-Gläubige sagen. «Soll der Staat etwa Strafen nur dann verhängen, wenn der Bestrafte freudig zustimmt?» Ganz so einfach ist die Sache aber nicht. Schliesslich sollte in einer Demokratie der Wille des Volkes die Staatsorgane zur Anpassung zwingen, nicht umgekehrt.



Die Kommentatorin der «Sonntagszeitung» fordert nun nicht (wie man annehmen könnte) Massnahmen zur Armutsbekämpfung und ein Zurückfahren der rigiden Strafpraxis, sondern mehr Gefängnisse. So schwierig das angesichts der klammen Kassenlage auch sei, dafür müsse Geld da sein. Es gehe ja um nicht weniger als die Autorität des Staates. Autorität im Sinne von Respekt kann aber ohnehin nicht durch Zwangsmassnahmen erreicht werden, sondern nur durch glaubwürdige Politik. Zuerst die Achtung vor den Volksvertretern – etwa durch Fehlentscheidungen, die Wirtschafthörigkeit der Politiker und gebrochene Wahlersprechen. Als Folge stellt sich dann Widerwille ein, sich von Organen des Staates bevormunden (z.B. bestrafen) zu lassen. Gesetze werden heute von Politikern gemacht, die wir vielfach nicht achten, und sie werden von Richtern und Beamten exekutiert, die nicht über ihren Sinn nachdenken, sondern nur Anweisungen befolgen. Nicht der Respekt vor dem Staat könnte also leiden, wenn Straftäter nicht mehr befürchten müssen, zeitnah ins Gefängnis zu kommen, sondern nur die Angst vor ihm. Wer aber Angst vor dem Schwinden der Angst hat, offenbart ein fragwürdiges Demokratieverständnis.



Die in der Sonntagszeitung offen angesprochenen Missstände in Gefängnisse – bis hin zu Misshandlung und Mord – werden lediglich der Überfüllung zugeschrieben, nicht dem Gefängnissystem selbst. Als ob es ein völlig neues Phänomen wäre, dass es im Knast zu Gewalt unter Gefangenen kommt. Es ist schon lange bekannt, dass Gefängnis nicht nur sehr oft nicht «bessert», sondern dass es Verbrechen erst hervorbringt, denn die Erfahrung von Enge und Demütigung schürt mörderische Wut. Der französische Philosoph Michel Foucault hat in «Überwachen und Strafen» dargestellt, dass die Jahrtausende andauernde Unfähigkeit des Gefängnisses, Verbrechen einzudämmen, nicht als «Versagen» zu sehen sei. Vielmehr diene das Gefängnis gezielt der «Herstellung einer Delinquenz», die es «doch angeblich zu bekämpfen hat.» Dies hat teilweise ökonomische Gründe (auch Gefängniswärter brauchen Brot und Arbeit). Teilweise hilft es der Staatsmacht (die ja zunehmend ihre demokratische Legitimation verliert), über ihre Bürger mit Angst zu regieren.



Worauf könnten also die aktuellen Ereignisse (harte Strafen, volle Gefängnisse, Gewalttaten, aufgeregte Presseberichte, Forderung nach Gefängnisneubauten) wirklich abzielen?


1. Jeder Bericht über Missstände im Gefängnis schürt Ängste und macht Bürger fügsamer gegenüber dem Staat. Folter, Unterdrückung und Vergewaltigung durch Mitgefangene wird von der Politik klammheimlich zur Verstärkung der Abschreckung in Kauf genommen. «Bloss nicht ins Gefängnis» – wer davor panische Furcht hat, wird eher geneigt sein, alles zu tun, was die Obrigkeit verlangt.


2. Neue Gefängnisse generieren nicht zuletzt auch Arbeitsplätze. Und wer einmal gesessen hat, für den sind die Aussichten gut, zum Stammkunden des «Unternehmens Gefängnis» zu werden. Wie bei der Institution der Wehrpflicht wird ein krebsartig wucherndes Gefängnissystem der Einschüchterung der Mehrheit und der Verrohung einer Minderheit Vorschub leisten. Was auf der Strecke bleibt, ist der mündige Staatsbürger, ausgestattet mit einem gesunden Widerspruchsgeist, mit einem Gefühl für seine Würde und die seiner Mitmenschen. Ein solches Menschenbild ist wohl für einen Staat, der seine Bürger zunehmend den Verwertungsinteressen der Wirtschaft ausliefert, nicht mehr up to date. Die ganze Verrohung und Degeneration, so sagte schon der grosse Lev N. Tolstoj in «Auferstehung», sei «die unausweichliche Folge des unfassbaren Irrtums, dass Menschen andere Menschen bestrafen dürfen.»

14. April 2010
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