Deutschland sucht den Super-Rechtspopulisten

In den deutschen Medien wird eine «Rechtspartei» und ein Rechtsruck des Zeitgeists geradezu herbei geschrieben. Einzig eine charismatische Führungsfigur «fehlt» in dem Szenario. Wem dient der Hype um talkshowtauglichen Islamophobiker? Und was hätten wir zu erwarten, käme es zu einem politischen Rechsschwenk? (Roland Rottenfußer)

Österreich hatte einen: Jörg Haider. Die Schweiz hat einen: Christoph Blocher. Frankreich und Holland haben schon lange einen, und in Italien ist sogar einer an der Regierung. Rechtspopulisten gehören überall zu einem «gesunden» Meinungsspektrum. Nur in Deutschland bleibt die erfolgreiche rechtspopulistische Partei bislang aus. Von einer kurzlebigen Episode namens Franz Schönhuber einmal abgesehen.



Derzeit scheint es, als ob die deutsche Presselandschaft eine «Rechtspartei» (wie es in Anlehnung an «Linkspartei» heisst) geradezu herbei schreiben wollte. Jeder Fünfte würde Sarrazin wählen, schreibt Bild. Jenen Bundesbankvorstand, der mit Parolen über Ausländer mit mangelndem IQ, ererbte Minderwertigkeit, Judengene u.a. «ganz Deutschland spaltet». Andere Namen werden im Zusammenhang mit einer «Rechtspartei» ins Rennen geworfen. Friedrich Merz z.B., einer der in Deutschland keine Marktlücke füllen, sondern eher (neoliberale) Eulen nach Athen tragen würde. Sarrazin gab zur Enttäuschung von Millionen seiner Devotees an, keine eigene Partei gründen zu wollen. Wer sonst, wenn nicht er? Wo bleibt er endlich, der Erlöser, der ausspricht, was «man» angeblich in Deutschland nicht sagen darf? Der die dumpf gefühlte Stimmungen in Stimmen ummünzen kann? Deutschland sucht den Super-Rechtspopulisten.



Wem dient dieses absurde Spiel? Vernünftig wäre es eigentlich gewesen, den Fall Sarrazin nicht zu hoch zu hängen, möchte man nicht seine Thesen immer noch populärer machen. (Aus eben diesem Grund wiederhole ich sie hier nicht ausführlich). Sicher, der Bundesbank-Vorstand war auch vorher kein No-Name. Aber er ist auch kein Gottschalk, Schweinsteiger oder Grönemeyer. Will sagen: Prominent wurde er durch den Zeitungshype erst gemacht. Hätten die Medien gewollt, hätte man das Thema auch ein bisschen unter dem Deckel halten können. Den Migranten im Land hätte es jedenfalls geholfen, von einer erneuten diskriminierenden «Integrationsdebatte» verschont zu werden. Ebenso jenen Themen, die es wirklich verdient hätten, ganz oben auf der Tagesordnung zu stehen: Das Sparpaket der Regierung etwa, Abzocke bei den Krankenkassen, das Jubiläum des Massakers von Kundus, das Leiden der Menschen in Niger und Pakistan – von «utopischen» Themen wie Regionalgeld und Grundeinkommen zu schweigen. Sie alle werden von Sarrazin überdeckt und unter die Wahrnehmungsschwelle gedrückt. Es soll mir keiner erzählen, dass das Zufall ist.



Sarrazin wurde von den Medien zu einem Ereignis aufgebläht. Jeder Artikel über ihn (leider auch dieser) vermittelt als Sekundärbotschaft «Ob Sarrazin Recht oder Unrecht hat, ist die wichtigste Frage unserer Epoche.» Mittlerweile, das ist das Perfide an dieser rechten Angriffswelle, können sich auch linke Journalisten dem Thema nicht verschliessen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, tatenlos der Morgendämmerung einer neuen rechten Bewegung zuzuschauen. Wir müssen reden, ja. Aber nicht, indem wie Entrüstungsfloskeln wiederholen, wie sie im Fernsehen täglich von Sigmar Gabriel oder Michel Friedmann zu hören sind.



Die Entrüstung in Zeitungen, Fernsehen und Politik ist heuchlerisch, und wir müssen dies deutlich sagen. Medien bieten sich freiwillig als Plattform für Sarrazins wüste Thesen an. Sie wiederholen sie wieder und wieder, bis sie sich in die Köpfe empfänglicher Bürger eingebrannt haben. Dann fügen sie in einem Nachsatz hinzu, dass diese Äusserungen selbstverständlich auf breite Empörung gestossen sind. Sie selbst, die Zeitschriftenmacher und Autoren, waschen ihre Hände in Unschuld, indem sie hier und da halbherzige Ironie- oder Distanzsignale einflechten. Der Empörungs-Hype biete vielfach nur einen Vorwand, um die Thesen auch dem letzten, dem sie vielleicht noch entgangen sind, aufzudrängen.



Und das Gift entfaltet seine Wirkung. Bild schreibt mit dem Aufmacher Sarrazin einen Rechtsruck in der deutschen Politik geradezu herbei. Ein «Vakuum» sei das bisherige Fehlen sarrazinesker Thesen im öffentlichen Diskurs, heisst es in rechten CDU-Kreisen. Und die Presse greift das Schlagwort gern auf. Da entsteht eine Sogwirkung, die geradezu einem «Casting» für die Rolle des deutschen Haider oder Le Pen gleichkommt. Deutschland hat mehr Glück als Verstand, dass es eine solche Figur nicht schon längst gibt. Vielleicht ist es wirklich einem gnädigen Schicksal zu verdanken, dass ein «Lafontaine der Rechten» bis jetzt nirgendwo aufgetaucht ist. Denn weder hatte Schönhuber noch hat Sarrazin das nötige Charisma dazu. An der Immunstärke der Bevölkerung gegen rechte Parolen liegt es jedenfalls nicht, dass das Sechs-Parteien-System bisher ausbleibt, dass wir von Debatten um schwarz-gelb-braune Koalitionen verschont geblieben sind. Der politischen Kultur in Deutschland hat es sehr gut getan, dass – von Roland Koch abgesehen – bisher kaum einer mit Ausländerfeindlichkeit Wahlkampf gemacht hat.



Aber die goldene Zeit des «Vakuums» am rechten Rand könnte bald vorbei sein. Schon springen etablierte Politiker wie Klaus von Dohnanyi und Karl-Theodor zu Guttenberg auf den fahrenden Zug ins rechte Nirgendwo auf. Sarrazin habe eine «richtige Debatte» angestossen, sagt Guttenberg. Und Dohnanyi stilisiert Sarrazin zum Märtyrer der Meinungsfreiheit, bevor er auch nur aus einem seiner Ämter entlassen wurde. Überhaupt ist die ganze «Man wird doch wohl noch sagen dürfen»-Debatte von einer nicht zu überbietenden Wehleidigkeit durchtränkt. Bedenkt man, dass es ja gerade die angeblichen Opfer sind, die Migranten unablässig kränken und ausgrenzen. Die traurige Wahrheit ist: Man kann sich in Deutschland allzu leicht diskriminierend über Minderheiten äußern und dafür mit billigem Beifall rechnen. Woran es mangelt ist ernst gemeinter Widerspruch. Also Widerspruch, der weder nach Auflagenzahlen schielt noch klammheimlich an einer Popularisierung rechter Thesen interessiert ist.



Der Entrüstungs-Hype von Sarrazin ist ein Ablenkungsmanöver. Zugleich leistet er einem von massgeblichen Kreisen gewollten Rechtsruck in der Politik Vorschub. Der Zorn des braven (latent fremdenfeindlichen) Bürgers wird durch die Debatte auf die Migranten gelenkt («zu wenig integrationswillig, kriminell, Sozialschmarotzer»). Der Zorn der braven Linken wird indes auf Sarrazin gelenkt. In beiden Fällen wird die Energie der Zornigen absorbiert und vom eigentlichen Krankheitserreger in unser Gesellschaft abgelenkt: dem Kapitalismus und seiner institutionellen Gier, die zu drastischer Umverteilung von unten nach oben führt.



Was könnte ein Rechtsruck noch für unsere Gesellschaft bedeuten? Er könnte neue Mehrheiten rechts von Rot-Rot-Grün schaffen, zumal Umfragen eine Wählerwanderung von ganz links nach ganz rechts prophezeien. Die Wut auf «die da oben» kann sich bei nicht gefestigten Bürgern prinzipiell in beide Richtungen entladen. Eine Dominanz rechter Themen im öffentlichen Diskurs würde einen Druck auf andere Parteien ausüben, ebenfalls rechts zu blinken. «Wenn ihr nicht auf Volkes Stimme hört, die nach mehr Härte gegen Ausländer verlangt, seid ihr selbst schuld an der Entstehung einer Rechtspartei. Und die kostet euch Wählerstimmen.» Eine solche erpresserische Argumentation ist schon heute gängig. Derzeit versucht jede Partei in ihrem Programm auch ein bisschen grün zu sein. Umweltschutz ist eben in der Bevölkerung populär. Künftig könnte sich das «Ein bisschen grün» in «Ein bisschen braun» wandeln. Hier mal härtere Strafen fordern, dort ein bisschen auf Muslimen herumhacken – das könnte zum üblichen Umgangston auch in gemässigten Parteien werden.



Mit wachsender Ausländerfeindlichkeit könnten weitere obrigkeitsstaatliche «Härte-» und «Strenge»-Szenarios zur Anwendung kommen, vor denen der Staat in milderen Zeiten zurückschreckt. Es liefe darauf hinaus, den Willen von «Nicht-Integrationswilligen» durch drastische Machtdemonstration zu brechen. Der Staat würde damit wie so oft seinen Repressionsmuskel trainieren. Nach den Migranten könnten andere Gruppen auf die Abschussliste geraten. Es könnten neben den Kasernen, den Gefängnissen, den Asylantenheimen und Hartz-IV-Wartezonen weitere Bereiche eingeschränkter Menschenwürde geschaffen werden. Menschengruppen könnten zu Feindbildern stilisiert werden, für die «Feindrecht» gilt – also Rechtlosigkeit. Bürgerliche Beobachter des Geschehens könnten durch systematische Desensibilisierung daran gewöhnt werden, der zunehmenden Entrechtung und Entwürdigung dieser Minderheiten tatenlos zuzuschauen. Irgendwie kommt einem das entsetzlich bekannt vor.



Ist das die Republik, in der wir leben wollen? Und was können wir dagegen tun? Auch wenn wir es nicht vermeiden können, Leuten wie Sarrazin Aufmerksamkeit zu geben, müssen wir dabei stets den größeren Zusammenhang im Auge behalten. Und wir müssen an unseren Werten wie Toleranz, Pluralismus und sozialem Mitgefühl auch bei künstlich angefachtem Gegenwind festhalten. Das gilt auch für eine Minderheitenfreundlichkeit, die auf historischer Verantwortung und Menschlichkeit gründet. Der Durchschnittsdeutsche, um dessen Köpfe und Herzen in den Talkshows gerungen wird, hat vielleicht wirklich eine wertkonservative Grundveranlagung. Er möchte gern unter seinesgleichen bleiben, nicht mit zu viel «Fremdem» konfrontiert werden, sehnt sich nach geordneten Verhältnissen, will sich beschützt fühlen und Missetäter streng bestraft sehen. Aber er ist ebenso fähig zum Mitgefühl mit schweren Einzelschicksalen, besitzt einen ethischen Kompass und ein Gefühl für Gerechtigkeit und Ausgleich. Es kommt darauf an, welche dieser beiden «Seelen in der Brust» Nahrung bekommt. Wer – wie die Bild-Zeitung – ständig nur die niedrigsten Instinkte bedient, handelt unverantwortlich. Politik, Fernsehen und Presse haben die Bevölkerung über Jahrzehnte verdummt, um dann zu behaupten, sie müssten ihre Parolen der Dummheit des Volkes anpassen.



Wer das Spiel durchschaut hat, wird nicht dabei mitspielen. Er wird auch andere davon überzeugen können, dass sie im grossen Stil verarscht werden. Vor allem darf sich unser Aktivismus nicht in Abwehrkampf gegen Themen erschöpfen, die uns vom politischen Gegner aufgedrängt werden. Wer angreift, dominiert stets die Debatte. Er bestimmt zwar nicht darüber, was gedacht wird, wohl aber worüber nachgedacht wird. Wir können hier vom Gegner lernen, indem wir immer wieder und noch vehementer unsere Themen in die Debatte einbringen. Was ist uns wichtig? Welche Themen würden wir gern auf den Titelseiten und in den Talkshows sehen? Und wie können wir eine Gegenöffentlichkeit aufbauen, die den Leitmedien zunehmend Aufmerksamkeit entzieht? In diesem Sinne muss nachgedacht und gehandelt werden. Dann geht der rechte Spuk ebenso schnell wieder vorbei wie er gekommen ist. Oder hat einer in letzter Zeit etwas von den Republikanern gehört?


09. September 2010
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