Renaissance der Gemeinschaften

Es herrscht Aufbruchsstimmung in der «alternativen Szene», und an der grossen Baustelle einer besseren Welt wird überall kräftig gewerkelt. Viele halten Kommunen und Wohngemeinschaften für eine etwas angestaubte Idee aus Hippiezeiten. Tatsache ist aber: Im Moment ist geradezu ein Boom an Kommunengründungen zu beobachten. Wir stellen 6 interessante Projekte vor. (Roland Rottenfußer)

Anmerkung: Auf Wunsch bringen wir diesen in der Zeitpunkt-Printausgabe erschienen Artikel nun auch noch im Web, um den Gemeinschaften und Interessierten die Verlinkung mit ihren Seiten zu ermöglichen.

Schloss Weitersroda – ein Prinz und ein erfüllter Hippie-Traum



Er nennt sich «Prinz», aber seine Frisur gleicht eher der eines japanischen Samurais. Die von ihm kreierte Regierungsform heisst «Anarcho-Monarchismus». Sein Projekt: Gründung einer «Autonome Republik Südthüringen als Zielzone eines linksspirituellen Siedlungsprojektes». Zudem ist Prinz Chaos II. Dichter und Liedermacher, noch dazu ein guter. Auf youtube gibt es ein Video, auf dem er seine Vision in Kurzfassung besingt: «In Weitersroda – schlag ich Wurzeln wie ein Baum, leb den alten Hippie-Traum.» Kein Zweifel: Prinz Chaos (sein bürgerlicher Name ist der Redaktion bekannt, soll aber hier nicht genannt werden) ist ein aussergewöhnlicher Mensch. Nun ist er auch Schlossbesitzer. «Burgen und Schlösser liebe ich seit meiner Kindheit», sagt der Prinz und bezeichnet sich als «Linksromantiker». Ist das Ganze ein Kunst- und Spassprojekt? Oder doch auch Ernst?


Sicher ist, dass die Gemeinschaft Schloss Weitersroda in Südthüringen auch eine ganz nüchterne, materielle Basis hat. Der Prinz suchte anfangs gar kein Schloss, sondern nur ein erschwingliches, besonderes Objekt, in dem er seinen Kommunentraum verwirklichen konnte. Er fand sein Schloss dann in einer Immobiliensuchmaschine zwischen einer Mühle und einem Wasserturm. Derzeit leben dort nur ein halbes Dutzend ständige Bewohner: eine Familie, die schon immer dort wohnt und von dem neuen Besitzer nun «übernommen» wurde, der Prinz, sein Lebensgefährte und drei weitere Mitstreiter. Es gibt allerdings eine hohe Fluktuation – viele «durchziehende» Freunde und Übernachtungsgäste. Gegenüber im Gartenhaus wohnt ein Maler, Holzbildhauer und «Ost-Hippie», der in die Gemeinschaft voll integriert ist. Längerfristig will der Prinz die Eigentumsbasis erweitern, also mehr Leute mit ins Boot nehmen – auch was die finanzielle Verantwortung betrifft.


«Die Entscheidungsstrukturen laufen vor allem ohne Struktur», erklärt Prinz Chaos II. «Wir haben keine festen Abläufe, sondern unterhalten uns.» Seine Führungsposition als Prinz sei eher eine Inszenierung, also ein Spiel, das von anderen Mitspielern unterstützt, aber auch unterlaufen werden könne. Eine linke Künstlerkolonie zu schaffen, mit Ausstrahlungskraft weit über die Grenzen Thüringens hinaus – diese Vision hält der Prinz für realistisch. Er ist stolz darauf, dass Schloss Weitersroda im Herzzentrum Deutschlands liegt, am Schnittpunkt der wichtigsten Ost-West- und Nord-Süd-Verkehrswege. Vom «Herzen» aus könnten kulturelle und links-anarchistische Impulse in den Blutkreislauf eines erstarrten Landes eingespeist werden. Politisch fühlten sich die Kommunarden in Weitersroda von Anfang an gut aufgehoben. 52 Prozent wählen dort die Linkspartei, sogar die Behörden sind den Neuansiedlern wohl gesonnen.


Zum Dreh- und Angelpunkt des Projekts könnten sich jährlich stattfindende Liedermacherfestivals auf dem Schloss entwickeln. Weitersroda könnte eine «Hochburg des Liedermachings» werden und somit die Nachfolge der legendären Burg Waldeck antreten. Dort fanden in den späten 60ern Musikfestivals statt, auf denen Leute wie Reinhard Mey und Hannes Wader entdeckt wurden. Unmöglich ist die Erfüllung dieses Traums nicht. Schliesslich ist auch schon des Prinzen Freund Konstantin Wecker auf dem Schloss aufgetreten und will das Projekt weiter unterstützen. Der angesehene Grossliedermacher könnte weitere Szenekünstler nach Thüringen locken. Der Prinz will jedoch nichts übereilen und vertraut auf die Eigendynamik des (anstössigen) Steins, den er höchstselbst ins Rollen gebracht hat.



Ruediger Dahlke – Gemeinschaft im Wissen um die Schicksalsgesetze



Wie wird man eigentlich Kommunengründer? Am Anfang steht meist ein erlebtes Ungenügen an der (gesellschaftlichen) Realität. «Unsere augenblickliche Lage ist auf so vielen Ebenen so unbefriedigend, dass Träume von anderen Lebensweisen und Gemeinschaften sich geradezu aufdrängen.» So schreibt der bekannte Alternativmediziner und Buchautor Dr. Ruediger Dahlke in einem Artikel über Gemeinschaften. «Warum nicht gleich richtig anfangen damit?» Dabei ist die Geschichte der Kommunengründungen leider auch eine der Niederlagen. Grosse, mit Idealismus gestartete Projekte wie Findhorn und Auroville seien gemessen an ihren Ansprüchen längst gescheitert, analysiert Dahlke. Die Gründe sieht er überwiegend in einer Manifestation des Schattens, der naturgemäss gerade dort wächst, wo Ideale des Guten, Reinen und Spirituellen hoch gehalten werden. «Sektiererische Besserwisserei von Überengagierten» diagnostiziert Dahlke ebenso wie die schleichende Kapitulation vor dem anfangs auf Distanz gehaltenen Dämon Geld.


Dr. Dahlke verliert sich jedoch nicht in Resignation. «Trotz solch ziemlich deprimierender Ergebnisse darf die Idee neuer Lebenskonzepte im Zusammenhang mit spirituellem Engagement nicht scheitern.» Und er fügt hinzu: «Möglicherweise war die Zeit einfach noch nicht reif». Ist sie es jetzt? Ruediger Dahlke jedenfalls ist gerade dabei, in der Nähe von Graz eine neue Lebensgemeinschaft zu begründen. All seine Einnahmen aus Buchverkäufen und Seminaren hat er in das Projekt gesteckt. 11 Hektar Bio-Bauernland wurden gekauft. Darauf stehen vier Häuser, die derzeit renoviert werden. Auf der Habenseite stehen weiter ein grosser Saal, der zur Zen-Meditation genutzt werden soll sowie eine Grossküche, Wälder und durch die Bewirtschaftungsform nicht ausgelaugter Ackerboden.


Auch eine Philosophie zu dem Projekt existiert schon – und die ergibt sich aus den «Schicksalsgesetzen des Lebens», über die der Autor Ruediger Dahlke vielfach geschrieben hatte. «Wichtig erscheint mir vor allem, den Anspruch von Anfang an nicht zu hoch zu schrauben, um den Einbruch des Schattens nicht noch herauszufordern. Übertriebener Idealismus war noch immer ein gefundenes Fressen für den Teufel, der ja auch im Detail sitzt.» Es komme darauf an, den Schatten von Anfang an im Auge zu behalten. Ebenso auch das Gesetz der Resonanz. Denn sich selbst müsse man nun mal überall hin mitnehmen – egal ob man in der Toscana «auszusteigen» versucht oder am Ende der Welt. Natürlich sollen auch Meditation, gesunde Ernährung und gemeinsame Veranstaltungen die Gemeinschaft zusammen schweissen. Deren ökologischer Grundsatz lautet: «Wir sind Gäste auf dieser Erde und sollten uns auch so benehmen.»



Ökodorf Sennrüti – Ökologie, Ökonomie, Integration



Ebenfalls noch im Aufbau ist das Ökodorf Sennrüti in Degersheim, womit wir bei unserer kleinen Gemeinschaften-Reise in der Schweiz angelangt wären. Die Gemeinschaft Sennrüti, das ist eine Gruppe von 30 Erwachsenen und 26 Kindern, die in einem erst 2009 erworbenen ehemaligen Kurhaus zusammenleben wollen. Alles ist momentan noch im Fluss, die Gemeinschaft soll «organisch wachsen». Den Begriff Ökodorf betrachten die Initiatoren dabei nur als «Arbeitstitel». «Öko» beinhaltet Ökologie wie Ökonomie. Ebenso wichtig sind den Bewohnern aber Soziales, Kultur, Spiritualität und Integration. Ein wichtiges Prinzip ist es, «von der Natur nur so viel zu nehmen, wie sie hergibt».


Vieles an der Projektbeschreibung klingt – gemessen etwa an der Vision Prinz Chaos II. – recht prosaisch. Alles an Sennrüti erscheint jedoch wohldurchdacht und ist inspiriert von einem durchaus ideellen Hintergrund. So sind alle Bauweisen und Materialien, die beim Umbau verwendet werden, umweltschonend. Geplant ist die Umwandlung des Zentralgebäudes in ein Niedrigenergiehaus. Mittelfristig will die Gemeinschaft ausschliesslich mit selbst erzeugter Energie aus Solarkollektoren arbeiten. Neben dem nachhaltigen Wirtschaften wird auch eine nachhaltige Sozialstruktur angestrebt. Sehr wichtig ist der Gemeinschaft der Austausch mit der nicht ins Projekt involvierten Dorfgemeinschaft. Gegenseitige Achtung und Toleranz stehen ganz weit oben, was wichtig ist, soll aus einer Gemeinschaft keine abgeschottete «Kaserne der Rechtgläubigen» werden. Zu einem nachbarschaftlichen Kennenlern-Treffen in der Gemeinschaft Sennrüti kamen 50 Besucher.


Die Bewohner des Ökodorfs verdienen ihren Lebensunterhalt teilweise ausserhalb, teilweise sind sie bei der hauseigenen Genossenschaft beschäftigt. Derzeit arbeiten viele noch tatkräftig beim Umbau des Hauses mit. Das richtige Mischverhältnis von Gemeinsamkeit und Privatsphäre muss erst noch in der Praxis erprobt werden. Gemeinschaftliche Unternehmungen (etwas das gemeinsame Mittagessen) werden eher als «Angebote» denn als Pflicht verstanden. «Sennrüti lebt wieder», heisst es begeistert im Newsletter. «Baulärm vermischt sich mit Musik, Singen, Lachen und Kinderstimmen.»



Longo Mai – Schafzüchter gegen den Globalisierungswahn



Während Sennrüti ein Unikat ist, gehört die Kooperative Le Montois bei Undervelier im Jura zur traditionellen Longo Mai-Bewegung. Derzeit leben im Rahmen von Longo Mai in Europa 300 Menschen in neun Gemeinschaften – die meisten davon im Gründungsland Frankreich. Haupteinnahmequelle der Gemeinschaften ist jeweils die Schafzucht. Wenn man Undervelier nahe der französischen Grenze besichtigt, findet man ein idyllisches Anwesen vor, umgeben von sanften, grünen Hügeln und Naturwiesen. Nur etwa 20 Schafe weiden dort. Die Wolle wird in einer eigenen Spinnerei in den französischen Alpen zu Wolle gesponnen und zu Kleidern und Decken verarbeitet.


Das ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man sich vor Augen hält, welche weiten Wege Wolle in einer globalisierten Bekleidungsindustrie normalerweise zurücklegt. Kunstfasern haben der Wolle auf den europäischen Märkten den Rang abgelaufen. Wenn Wolle doch noch nachgefragt wird, kommt sie heute meist aus Australien oder aus den ehemaligen Ostblockstaaten. So haben sich Hersteller und Konsumenten völlig voneinander entfremdet. Schweizer Schafzüchter können auf dem Weltmarkt längst nicht mehr mithalten. Früher unterstützte die Schweiz die Wollproduzenten mit Subventionen. Die wurden zwischenzeitlich alle gestrichen. Longo Mai startete aber eine Unterschriftenaktion, die von über 20 000 Menschen unterstützt wurde. Tatsächlich wurden daraufhin 2007 wieder Bundesmittel bewilligt. Durch die Vorlage für die Agrarpolitik 2011 ist auch dieser Fortschritt jedoch schon wieder gefährdet.


Gemeinschaftsmitglied Raymond Gétaz findet diese Politik kurzsichtig: «Alles geht in Richtung Grossgrundbesitz. Je weniger Leute das Land besitzen, desto weniger Chancen gibt es, selber ein Stück zu bekommen. Es geht darum, das Wissen zu behalten, die Produktionsmittel zu behalten für das, was es zum Leben braucht. Dazu gehört auch Kleidung, und darum ist die Wolle so wichtig.» Sind die Schafzüchter von Longo Mai etwa Aussteiger? «Den Begriff hören wir nicht so gern», sagt Claude Braun. «Aussteigen würde heissen, dass man sich abkoppelt von der Gesellschaft, und das wollen wir nicht. Wir verstehen uns als Versuch, eine Gegenkraft zu sein: gegen den Trend zur Vereinzelung der Leute, den ungebremsten Verbrauch von Energie und Konsumgütern.»



Binz bleibt Binz – die besetzte Fabrik



Gemeinschaften zeigen meist eine auffällige Vorliebe für ländliche Regionen, da hier ja meist günstige Grundstücke zu finden sind. Gibt es auch Projekte mitten im Dickicht einer Stadtlandschaft? In Binz bei Zürich hat eine Gruppe von Aktivisten 2006 eine leer stehende Fabrik besetzt: die Üetlibergstr. 111/111a. Schon auf den ersten Blick zeigen sich die Unterschiede – etwa zur Schaftzüchter-Idylle von Longo Mai. Ein lang gezogenes Gebäude nahe den Bahngleisen, in eher «uneinheitlichem» Rohbaustil, aussen mit Graffiti besprüht. Innen zeigen sich hallenartige Räume, die nicht durch Zimmerwände gegliedert sind. Hier befinden sich Kunstinstallationen, Werkstätten, Sporträume, eine Bühne als Proberaum für Bands und Theaterprojekte, Betten, Essplätze, Fahrräder und ganze Autos. Etwa 40 Menschen leben und arbeiten hier. Da es in einem solch großen Raum nicht leicht ist, sich zurückzuziehen, besteht umso mehr die Notwendigkeit, alles gemeinsam zu entscheiden. Das birgt – positiv ausgedrückt – beträchtliches Wachstumspotenzial.


Warum das Ganze? Im Gegensatz zu den meisten anderen Gemeinschaften entspringt die Motivation hier eher aus der Not und der Gelegenheit. Als Sprecher/in der Fabrik in der Üetlibergstrasse tritt ein Kollektiv auf, die Familie Schoch, die die gemeinsam Vision so beschreibt: «Raum schaffen für ein selbstbestimmtes, gemeinschaftliches Leben. Die Möglichkeit herstellen, eigene Ideen in der Gegenwart umsetzen zu können.» Das Projekt versteht sich auch als Protest gegen den Umgang einer gewinnorientierten Ökonomie mit Wohnraum. Gegen «spekulativen Leerstand, Zentrifizierung und hohe Mieten.» Wem gehört der städtische Raum? Diese grundlegende Frage scheint der Fabrikbesetzung zugrunde zu liegen. Und: Warum eigentlich nicht uns, den Bürgern, die Wohnraum brauchen und ihn kreativ zu nutzen wissen?


Eine einheitliche Ideologie teilen die Binzer nicht. Ebenso wenig gibt es klare Vorstellungen, wohin man will. Man ist «prozess-, nicht zielorientiert». Die Grösse des Areals lädt eben gerade zum bunten Nebeneinander des Verschiedenartigen ein. Es repräsentiert geistig wie räumlich den Ausbruch aus der erzwungenen Enge der bürgerlichen Wohnblockzellen. Gemeinsam ist den Bewohnern auf jeden Fall eines: die Auseinandersetzung mit den Kantonsbehörden, die das Experiment lieber heute als morgen beenden würden. «Die Tatsache dass die Binz besetzt ist und sich damit in einer legalen Grauzone befindet, bedeutet jeden Tag, dass morgen alles anders sein kann.» Nach jahrelanger Duldung durch die Behörden, kam 2009 der Bescheid, das Gebäude solle im Juli abgerissen werden. Zweck der Aktion sollte ein «Altlasten-Sondierung» sein, für die aber, wie sich herausstellte, der Abriss des Gebäudes gar nicht notwendig wäre. Das Hickhack zieht sich nun schon bis März 2010 hin, ohne dass sich die Situation geklärt hätte.


Die Bewohner stellen sich durchaus darauf ein, eines Tages weichen zu müssen, wenn die Fläche anderweitig sinnvoll genutzt wird. Sie weigern sich jedoch, das Gelände präventiv, also ohne akute Notwendigkeit zu räumen. Die Besetzer betonen: «Wir sind nicht zufällig hier. Wir investieren Zeit und Energie, setzen auf Respekt und Eigenverantwortung. Das Potential, das dadurch entsteht ist innovativ und nachhaltig. Seine Wirkung geht weit über die Binz hinaus und wird sich in unzähligen Formen wiederfinden. Sei es in Politik, Forschung, Kunst und Kultur, Sport, Handwerk, Familie etc.»



Eilhardshof – die Erben des grossen Anarchisten



Gemeinschaften ermöglichen es ihren Mitgliedern, sich den Zwängen einer als unmenschlich empfundenen Gesellschaft zu entziehen. Können sie darüber hinaus die Welt der «Uneingeweihten» mit fortschrittlichen Gedanken infizieren und so helfen, die Welt zu verändern? Mit solchen Gedanken beschäftigen sich auch die Gründer der Wohngemeinschaft Eilhardshofs in Rheinland-Pfalz, die 2008 startete. Zunächst handelt es sich um ein Mehr-Generationen-Wohnprojekt, in das sich auch sozial Schwächere einmieten können. Der allgegenwärtigen Isolation in «normalen» Wohnblöcken soll durch Gemeinschaftsräume entgegen gewirkt werden. Ausserdem durch mehr Solidarität (z.B. gemeinsame Kinderbetreuung und Fürsorge für Ältere). Mit Veranstaltungen zu kulturellen, politischen und sozialen Themen will das Projekt zudem eine rege Aussenwirkung entfalten und eine wichtige Rolle im kulturellen Leben von Neustadt an der Weinstrasse spielen.


Neben praktischen Fragen ist vor allem auch der anarchistische Hintergrund des Projekts interessant. Dessen Mitbegründer war nämlich der bekannte deutsche Anarchist (und Zeitpunkt-Autor) Horst Stowasser, der leider 2009 überraschend starb. Stowasser hatte in seinem Hauptwerk «Anarchie!» das so genannte «Projekt A» lanciert, eine längerfristige Strategie zur Errichtung einer neuen (unordentlichen) Weltordnung. Beginnen sollte es mit «Kleinkollektiven», in denen libertäres, solidarisches und ökologisches Handeln in der Praxis erprobt werden kann. Aus einzelnen «Zellen» sollte sich ein Netzwerk bilden, ein «Archipel» (Inselgruppe) im Meer des Autoritarismus.


Stowasser hegte ein gesundes Misstrauen gegenüber jedem ideologischen Purismus sowie gegen Träume von «zuckersüsser Harmonie». Trotzdem «bleibt der Anspruch bestehen, dass es legitim sei, hier und heute selbst schon etwas von den schönen Utopien des Übermorgen haben zu wollen. Alle Vertröstungsideologien, die den selbstlosen, asketischen Revolutionär zum Vorbild haben, werden im Grunde als verlogen empfunden.» Hier zeigt sich auch ein strategischer Ansatz: Eine Gemeinschaft, die es sich erlaubt, lustvoll zu leben und ideologisch nicht verbohrt ist, hat den Vorteil, dass sie «nach aussen offen, erlebbar und attraktiv auftreten» kann. «Es bestünde somit die Chance, im sozialen Alltag tausende von ‚normalen’ Menschen zu erreichen und ihnen ganz simple Zugänge zum Verständnis anarchischen Lebens zu schaffen.» Langfristige hegte Stowasser die Vision einer «immer stabiler werdenden, virulente Gegengesellschaft».


Michel Bolz, der Horst Stowassers ein halbes Jahr vor dessen Tod kennen lernte, macht darauf aufmerksam, dass dieser das Projekt A schon Mitte der Neuziger für gescheitert erklärt hat. Es existierten zwar einige Projekte mit libertären Strukturen, so Bolz, diese hätten den Lauf der Welt aber nicht entscheidend beeinflusst. Als ein A-Projekt verstehe sich der Eilhardshof dennoch. «Der Eilhardshof ist kein Privatbesitz, sondern gehört der Gemeinschaft, in der es keine Herrschaft und keine Stellvertreterpolitik gibt. Die Gruppe entscheidet im Konsens und agiert per Delegation. Horst Vision lebt weiter.»



Vielleicht ist es eher das Wort «Anarchie», das noch immer provoziert und nicht mehrheitsfähig ist. Die Idee selbst als ein Bündel von miteinander verwandten Werten (Freiheit, Selbstbestimmung, Solidarität, Ganzheitlichkeit, Nachhaltigkeit) könnte durchaus die Welt bewegen. Freilich ist das Gesamtbild, das sich aus bestehenden und im Aufbau befindlichen Gemeinschaften ergibt, gelinde gesagt «uneinheitlich». Aber wie sagte Prinz Chaos II. so schön: «Letztlich setze ich auf die selbstorganisierende Kraft des kreativen Chaos.»



Webseiten:


Schloss Weitersroda: www.prinzchaos.com



Ruediger Dahlke: www.dahlke.at



Ökodorf Sennrüti: www.oekodorf.ch



Longo Mai, Undervelier: keine Webadresse



Yamagishi, Schweiz: www.yamagishi.ch/



Fabrik Binz: www.binzbleibtbinz.ch/



Eilhardshof: www.eilhardshof.de




Im Artikel erwähnte Bücher:



Ruediger Dahlke: Die Schicksalsgesetze. Goldmann Verlag, 368 S., Fr. …, Euro 19,95



Horst Stowasser: Anarchie! Nautilus Verlag, 510 S., Fr. …, Euro 24,90



Allgemein empfehlenswert:



Eurotopia – Gemeinschaften & Ökodörfer in Europa. Einfach gut leben e.V., 544 Seiten, Fr. …, Euro 19,50



28. Mai 2010
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