Blöterele: Das Ende aller Laster

Ich liebe Äpfel. Doch die Arbeit an diesem Zeitpunkt-Beitrag hat die immerhin ein halbes Jahrhundert währende Liaison beinahe beendet.

Im Gegensatz zu allen richtig guten Journalisten fröne ich einer Leidenschaft, die noch grösser ist als die Neugier: der Lust, auf dem Sofa zu liegen und meiner zauberhaften Gattin beim Teetrinken zuzuschauen. Oder beim Rauchen und im «Gala» blättern. Oder beim Telefonieren. Das mache ich auch, wenn meine Frau gar nicht zu Hause ist. Das stört mich überhaupt nicht. Dann schaue ich halt die leere Teetasse an. Oder den Aschenbecher. Oder das Telefon. Wobei: Das nimmt sie meistens mit, wenn sie weggeht. Aber das stört mich eigentlich auch nicht. Dann schaue ich manchmal einfach dorthin, wo ihr Telefon meistens liegt. Manchmal liegt es auch woanders. Stört mich übrigens auch nicht.
Selten, sehr selten kommt es vor, dass es an der Türe klingelt. Das stört mich gar nicht, denn dann kann ich mir darüber den Kopf zerbrechen, wer das sein könnte. Wobei, richtig zerbrechen muss auch nicht sein, eher ein Werweissen. Interessieren tut es mich nicht, dann könnte ich ja grad so gut öffnen!


Letzthin habe ich mir überlegt, wie unsere Wohnung ausschauen würde, wenn ich mich vielleicht einmal andersrum auf das Sofa legen würde. Unser Sofa ist sehr gross, und unsere Wohnung besteht nur aus einem einzigen Raum. Der Nutzen dieser neuen Perspektive erschloss sich mir allerdings nicht, jedenfalls nicht schnell genug, als dass ich darob nicht eingedöst wäre. Und als ich wieder erwachte, war meine Frau zurück. Wo sie gewesen war, weiss ich nicht mehr, aber schön, dass sie wieder da war. Obschon: Vermisst hatte ich sie eigentlich nicht.
Beim Betrachten meiner schönen Gattin kam mir wieder ein Satz in den Sinn. Er begegnete mir in mehreren Schriften: im witzigen Essay «Faulheit: eine schwierige Disziplin», im Klassiker der Zeitlichkeits-Literatur «Beschleunigung und Entfremdung» und bei den Aphorismen zum Thema Musse. Er lautet: «Müssiggang ist aller Laster Anfang» – ein saublöder Satz. Ausser dass er eine verkorkste, leicht trübe Moralinsäure über alle Menschen sprüht, die «Glückseligkeit» nicht in pawlowscher Manier mit «Arbeit» assoziieren, ist der Satz wenig präzise und frei von jeglichem praktischen Erkenntniswert. Wenn Müssiggang der Anfang ist von allem Laster, wie sieht dann dessen Ende aus? OMG.

Und wann beginnt der Müssiggang? Wann ist Erholung Musse, wann Müssiggang und wie unterscheidet sich dieser von Faulheit? Nach protestantischer Ethik ist Musse nur als Erholung von der Arbeit zulässig. Und wenn die Arbeit weniger wird oder ganz wegfällt – immer noch ein offenes Versprechen der Moderne – , soll das paradiesische Nichtstun plötzlich zur Belastung, ja zur Sünde werden?


Ob all dieser Beckmessereien über Faulheit, Musse, Müssen, Müssiggang und Laster, die mein auf einem wohligen Kissen ruhendes Haupt durchkreuzten, wäre ums Haar so etwas wie Verdrossenheit aufgekommen. Nur weil irgendwann vor 250 Jahren die Subsistenzökonomie von der Maximierungsökonomie konsumiert worden war, sollten nun alle Formen von Nichtarbeit plötzlich verdächtig sein und als Verweigerung des gesellschaftlich Geforderten diskreditiert werden. Ist das im Grunde genommen die Geburtsstunde der neuen Faulheit? Bis anhin konnte, wer nicht arbeitete, vielerlei sein: ein Edelmann, der von Geburt an das Anrecht auf einen respektablen Müssiggang zugesprochen bekam, er konnte Mönch sein, er konnte Bettler sein oder Hof-Narr. Nun wurde plötzlich das Nichtstun in all seinen Facetten als Faulheit missbilligt. Und schaffte es sogar in die Charts der sieben Todsünden. Nicht von ungefähr, dachte ich vergnügt, bin ich doch seit Kindesbeinen ein Freund der Subsistenzökonomie geblieben: Ich trug der Nachbarin den Einkaufskorb die Treppe hoch und bekam dafür einen Apfel.


«Mir ist kalt, mein Herz, ich nehme ein Bad», rief meine Gattin quer durch unser schönes Loft, und begann, sich aus ihren Kleidern zu schälen. Jetzt kam mir auch meine vermieste Liebe zu Äpfeln wieder in den Sinn: Eva! Erst als Exilierte aus dem Garten Gottes begann für Adam und Eva – und damit für uns alle – die Zeit der Arbeit «im Schweisse des Angesichtes». Bis dahin hatten sie sich des süssen Nichtstuns erfreut. Triezte doch einer der Apostel alle emsig rackernden Menschen mit den Worten «Sehet nur die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in den Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.» Sagte ich doch: Subsistenzökonomie! Äpfel der Erkenntnis essen!

Mehr zum Thema finden Sie im Heft 135 Musse und Müssen
17. Januar 2015
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