An der Schwelle zum Advent eine Geschichte, die noch keine Adventgeschichte ist. Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.

Regen in Thailand. / © fotocommunity

Der jüngere Mann mit der Lederjacke, der für sich allein weiter vorne im Bus sitzt, hat den Anruf erwartet. Er hat auf dem Display gesehen, wer es ist, und sein Körper hat sich zusammengezogen, nur leicht, aber trotzdem ist für mich offensichtlich, dass der Anruf nichts Gutes verheisst.

«Ich weiss. Ich verstehe dich ja. Er hat’s mir versprochen, auf gestern bereits. Ich melde mich, sobald ich es habe.» Der Mann redet laut. Alle Fahrgäste sollen es hören, dass er die Sache erledigen will. Es muss sich um eine grössere Summe handeln. Der Anrufer am anderen Ende übt Druck aus. Offenbar hat er keine Geduld mehr.

«Du kennst mich doch», sagt der Mann mit der Lederjacke ins Handy und beugt sich vertraulich vor, während er spricht. «Ich lasse niemanden hängen. Und ich kann dir versichern: Ich wäre schon längst auf dem Flieger. Kaum hast du das Geld, bin ich weg.»

Abhauen will er nicht. Er verschiebt den Abflug, bis er die Schuld zurückzahlen kann. Ist das nicht Beweis genug? – Doch der Gläubiger will sich nicht mehr vertrösten lassen. Er meint es ernst. Vielleicht droht er sogar.

Der Mann mit der Lederjacke nimmt das Handy ans andere Ohr, wie wenn er sich damit entlasten könnte vom Stress, den der Anrufer macht. Abwehrend hebt er die freie Hand: «Ok, Ich werde bei Sevi vorbeigehen und ihm die Hölle heiss machen. Aber erst morgen. Heute geht nicht. Glaub’ mir, verdammt: Ich wäre schon lange in Thailand!»

Ein Severin oder Sevi ist mit im Spiel, das kein Spiel ist, und der Mann mit der Lederjacke hat Geld von Sevi zu gut. Damit kann er die Schuld begleichen. Behauptet er. Vielleicht glaubt er selber nicht an sein Versprechen. Er schaltet das Handy entschlossen aus. Es klingelt erneut. Er schaltet auf stumm, doch es nützt nichts. Sein Bein wippt nervös auf und ab. Der Gläubiger wird ihn finden. In die Enge getrieben, blickt er zum Fenster hinaus.

Draussen ziehen die Blöcke vorbei, die Abfallcontainer, die Kinderspielplätze. Thailand! Wenn er nur schon in Thailand wäre. Aber Ferien macht er dort keine. Er wird auch in Phuket am Handy hängen und Geld vesprechen, das er nicht hat. Und abends wird ihn ein Thaigirl massieren, und er wird sich wie ein kleiner Junge an ihrer Brust ausweinen. 

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex LibrisOrell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch

Weitere Bücher von Nicolas Lindt

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