Altes bringt die Welt voran

Neue Technologien werden überschätzt,

Die neuste App fürs Handy wird die Welt verändern. Fliegende Drohnen werden den Postboten ersetzen, der Kühlschrank bestellt künftig direkt beim Bauern und die Revolution kommt aus dem 3D-Drucker. Übermorgen, spätestens, wird die Welt eine völlig andere sein. Das glauben Sie nicht? Sie haben recht.

Der Effekt von Hightech wird nämlich überschätzt. Um Neues wird viel Lärm gemacht, während das Bewährte kaum Beachtung findet. Dabei sind es oft recht alte Dinge, die unser Leben prägen.

Der Frachtcontainer ist so ein typischer Fall. Wenn von der Globalisierung gesprochen wird, ist «das Internet» oft das nächste Stichwort. Aber dieses hat nur die Kommunikation vereinfacht. Was den Welthandel wirklich explodieren liess, war der Container. 40 Fuss lang, 8 Fuss breit, 8,6 Fuss hoch, erfunden 1951. Heute gondeln wohl über 100 Millionen Stück um den Globus, aber so genau weiss das niemand. Die Container haben die Transportkosten derart implodieren lassen, dass bei einer Flasche chilenischen Weins gerade mal 0,02 Rappen dafür aufgewendet werden müssen, um sie von Südamerika hierherzubringen. Man darf sich das auf der Zunge zergehen lassen: Der wichtigste Treiber der Globalisierung ist eine Blechkiste.

Weitere Beispiele? Bei der Energie wird gerne über Sonne und Wind berichtet. Kohle gilt als das schmutzige Zeug aus dem 19. Jahrhundert ... und wurde noch nie in grösseren Mengen gefördert als heute. In der Kommunikation sind E-Mails, SMS und Co. heute überall. Und trotzdem nimmt die beförderte Briefmenge kaum ab. Auch das Buch wurde durchs E-Book bloss ergänzt und nicht ersetzt. Wenn Neues auftaucht, wird gerne der Tod des Alten verkündet. Aber genau der tritt oft nicht ein, im Gegenteil: das Alte bleibt.
Diese These vertritt auch David Edgerton in «The Shock of the Old» (ungefähr: «Die Macht des Bewährten»). Er hat sich unter anderem einen Ort angeschaut, wo besonders viel Lärm um Neues gemacht wird: das Militär. Dabei spielen auch dort althergebrachte Dinge eine oft unterschätzte Rolle. So zog die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg mit mehr Pferden als Panzern gegen Russland und verfügte 1945 über beeindruckende 1,2 Millionen Tiere.

Gerade die Prestige-Projekte erwiesen sich dagegen als ineffizient. Deutschland produzierte zum Preis von 24 000 Flugzeugen gerade mal 6000 V-2-Raketen. Die Produktion kostete mehr Menschenleben als der Einsatz. Die Amerikaner wiederum setzten auf die Atombombe und verlängerten damit den Krieg. Hätten sie ihr Geld nämlich in herkömmliche Bomber gesteckt, so hätten diese viel früher viel grösseren Schaden angerichtet. Selbst heute, im Zeitalter der Kampfroboter und Drohnen, ist die mit Abstand  tödlichste Waffe die Kalaschnikow, ein russisches Gewehr von 1947.

Überhaupt widerspricht Edgerton der Mär vom «Krieg als Vater aller Dinge». Er sieht in ihm eher den unanständigen Onkel mit dem schlechten Einfluss. Armeen sind weder wirtschaftlich noch ökologisch. Hätten sie zum Beispiel auf die Entwicklung der Flugzeuge keinen so grossen Einfluss gehabt, so flögen wir heute ziemlich sicher sauberer und effizienter.
Apropos Flugzeuge: Alte Technik hat manchmal unerwartete Effekte. 1960 kauften die grossen Fluggesellschaften für viel Geld Maschinen mit Düsenantrieb. Um die Jets zu finanzieren, erhöhten sie die Preise und verkauften die veralteten Propellermaschinen an kleine Airlines. Diese flogen dann aber zu Tiefpreisen Touristen an die Sonnenstrände, entwickelten sich zur ernsthaften Konkurrenz und zwangen die grossen Fluggesellschaften, ihre Preise zu senken. Die neue Technik machte das Reisen schnell. Aber die alte machte es billig.

Edgerton lenkt den Blick immer wieder auf die einfachsten, banalsten Dinge. Der Hammer ist seit Jahrtausenden im Gebrauch. Die Nähmaschine sieht immer noch aus wie im
19. Jahrhundert Das Kondom spielt weltweit eine grössere Rolle als die Pille. Wellblech, Bambus und Backstein sind erfolgreicher als Glas und Sichtbeton. Natürlich verändern auch neue Dinge unser Leben und natürlich wird die Welt von morgen eine andere sein. Aber auch nicht nur.     



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David Edgerton: The Shock of the Old – Technology and Global History since 1900. Oxford University Press, 2006.
S. 288 Fr. 21.– / € 13.20

Das Beispiel der alten Flugzeuge stammt aus: Benedikt Meyer: Im Flug – Schweizer Airlines und ihre Passagiere 1919-2002. Chronos Verlag, 2014. S. 370, Fr. 64.90