Demokratien im Vergleich: der Duft von Brotverkaufsstellen

Wie vergleicht man 29 Brotverkaufsstellen und eine Bäckerei? Vor einem Problem dieser Art standen die Autoren der Studie «Demokratiebarometer – ein neues Instrument zur Messung von Demokratiequalität», in der die Schweiz den 14. Platz unter 30 verglichenen Nationen einnimmt. Dass die einzige direkte Demokratie, das Land, in dem rund die Hälfte aller weltweiten Volksabstimmungen stattfinden, derart schlecht abschneidet, das ist nicht zu erwarten. Vor der Schweiz liegt zum Beispiel Deutschland, in dem der Staat doppelt so viel Geld ohne parlamentarische Kontrolle ausgibt (über den Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung SOFFIN), wie über den regulären Bundeshaushalt und wo Parteien über die Vergabe der Listenplätze bei Wahlen faktisch bestimmen, wer gewählt wird. Vor der Schweiz liegen die USA, wo private Milliarden in den Wahlkampf fliessen und die Wahlkreise obskure, scherenschnittartige Formen annehmen, um gewisse Schichten zu benachteilen. Vor der Schweiz liegt auch Belgien, dessen demokratische Institutionen durch den Sprachenstreit an den Rand der Handlungsunfähigkeit getrieben werden. An einem solchen Vergleich kann etwas nicht stimmen. Aber was?

Wer Demokratien miteinander vergleicht, muss davon ausgehen, was Demokratie bedeutet, nämlich Volksherrschaft. Weil dies eine delikate und auch nicht unproblematische Herrschaftsform ist, organisieren sich die meisten Staaten als repräsentative Demokratien. Das Volk tritt seine Herrschaftsrechte an von ihm gewählte Vertreterinnen und Vertreter ab und versucht, den Entscheidungsprozess über Wahlen und Beteiligung an Parteien zu beeinflussen. Das sind die 29 Brotverkaufsstellen. In der Schweiz, der Bäckerei, hat das Volk seine grundlegenden Herrschaftsrechte nicht abgetreten. So kann es über Initiativen jedes politische Thema aus eigenem Antrieb auf die Traktandenliste setzen und einem Volksentscheid unterwerfen. Zudem hat es das verfassungsmässige Recht, jedes Gesetz seiner Vertreter bei Bedarf zur Abstimmung und gegebenenfalls zu Fall zu bringen.

Anstatt die objektiv vorhandenen Volksrechte und ihre tatsächliche Nutzung zu vergleichen, haben es die Studienautoren der Universität Zürich und des Wissenschaftszentrums Berlin vorgezogen, Sekundärphänomene des demokratischen Entscheidungsprozesses zu vergleichen. Anstatt zu erheben, was gebacken wird, wurden gewissermassen Kundenfrequenzen gemessen, die Preise verglichen und die Ordnung in den Gestellen kontrolliert. Ob überhaupt Teig geknetet oder nur Bäckereiduft verbreitet wird, bzw. wieviel Volksherrschaft denn eigentlich faktisch stattfindet, das interessierte nicht.

Unter den neun, in der Studie untersuchten Faktoren der «Demokratiequalität» lässt sich dies an der Rubrik «Partizipation» am besten ablesen. Hier sollte sich die Teilhabe des Volkes an der Macht zeigen. Anstatt die Möglichkeit des Volkes, ein Referendum zu ergreifen, zum entscheidenden Faktor zu bestimmen, versinkt verliert sich die Studie in einer Pletora anderer Kriterien wie flexible Wahllokale oder der Registrierungspflicht der Wählerinnen und Wähler, welche die Partizipation sicher beeinflussen, aber bei einem Fehlen von Mitbestimmungsrechten schlicht und einfach lächerlich sind. Was nützen quartiernahe Wahllokale, wenn sie nur alle vier Jahre zur Bestimmung von Interessenvertretern benutzt werden anstatt vier Mal jährllich zur Entscheidung von Sachfragen?

Anstatt die objektiven Volksrechte und ihre faktische Nutzung zu prüfen, vergleicht die Studie die Nebengeräusche des Politbetriebs und scheitert grandios, und zwar noch aus einem anderen Grund: Wie man leider immer wieder erfahren muss, verschiebt sich die Macht zwischen Volk, Regierung und Hintergrundkräften nicht kontinuierlich und nach vorhersehbaren Gesetzmässigkeiten, sondern schubweise und aufgrund von Einzelereignissen. An solchen Erdrutschen entschiedet sich die «Demokratiequalität» viel mehr als an mess- und vergleichbaren Faktoren, die sich über die Zeit nur wenig verändern. So haben die zweifelhaften und höchst wahrscheinlich betrügerischen Wahlerfolge von Bush junior 2000 und 2004 die Machtverhältnisse in den USA weit mehr beeinflusst als all die kleinen Massnahmen zur Förderung der politischen Partizipation. Ähnliches lässt sich vom Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SOFFIN) in Deutschland sagen, der über ein Budget verfügt, das doppelt so gross ist wie der Bundeshaushalt. Zwar überwacht ein parlamentarisches Kontrollgremium seine Funktion. Aber den neun Bundestagsabgeordneten ist unter Androhung von Gefängnisstrafe verboten, ihre Kollegen, geschweige denn die Öffentlichkeit über ihre Arbeit zu informieren.

Natürlich muss man sich fragen, wie eine solch unqualifizierte Studie zustandekommen, von der öffentlichen Hand finanziert und so weit verbreitet werden kann. Und vor allem: Zu welchem Zweck? Volksherrschaft ist den Globalisierungskräften ein Dorn im Auge und ganz besonders ein konkret gelebtes und auf der ganzen Welt bewundertes Beispiel wie die Schweiz.
Die Studie, dass muss doch auch gesagt werden, legt den Finger aber auch auf einige wunde Punkte unserer direkten Demokratie: fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit, undurchsichtige Parteienfinanzierung oder eine unzureichende Kontrolle der Regierung durch das Parlament. Die eklatanten Mängel der Studie bedeuten im Umkehrschluss keineswegs, dass die direkte Demokratie nach schweizerischem Muster nicht noch erhebliches Verbesserungspotenzial hätte.

Medienmitteilung der Universität Zürich:
http://www.mediadesk.uzh.ch/articles/2011/schweizer-demokratie.html

Die Studie im Volltext
01. Februar 2011
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