Nicht da, nicht dort

Wer kein Zuhause hat, macht es am besten wie die Schnecken: Er trägt es mit sich mit. Ein Erfahrungsbericht eines Ausgewanderten, für den nah und fern eine ganz andere ­Bedeutung erlangt hat.

Wenn mich Leute fragen, wo meine Heimat liegt, dann sage ich: wo ich gerade bin. Bei meinen Grosseltern, im Zug, beim Zähne putzen, beim Lehmwände verputzen, in Zürich, Buenos Aires, am Südpol – oder wie jetzt beim Schreiben. Mein Zuhause ist dieser Planet, vor allem aber mein Körper. Schliesslich bewohne ich ihn von Geburt bis zum Tode. Das kann man von den Wohnorten nicht sagen.
Mein Nomadenleben begann bereits in der Kindheit, aber so richtig Fahrt nahm es 2009 auf. Damals wurde mir zum dritten Mal innert vier Jahren gekündigt und ich entschied mich auf Grund fehlender Perspektiven, die Schweiz erstmal hinter mir zu lassen. Ich war müde vom Insistieren und von den sozialen Zwängen, müde vom Gerede um Geld und Grenzen, kurz: Ich war müde von Europa und musste deshalb schleunigst weg, am besten auf die andere Seite des Antlantiks.
Ich entschied mich für Buenos Aires und lag damit genau richtig. Denn die argentinische Hauptstadt ist wie ein kochender Kübel randvoll mit Realitäten – Realitäten, von denen ich zwar wusste, von denen ich aber in der gated comunity Schweiz wenig zu spüren bekam. 14 Millionen Einwohner auf einer Fläche so gross wie der Kanton St. Gallen, hoffnungslos überfüllte U-Bahnen, Busse, Züge, Strassen, Wechselstuben, Läden, Märkte und Köpfe; Schlägereien und Überfälle am helllichten Tag, Stromausfälle und damit auch kein fliessend Wasser und Menschen, die ich jede Nacht beim Durchwühlen der Mülltonnen sah. Dazu wabert über der Stadt ein konstanter Lärm, den man einfach akzeptieren muss, wenn man nicht überschnappen will. Und obwohl mir die über 10 000 Kilometer zwischen hier und dort ein Gefühl von Abstand gaben und ich diesen brauchte, um wieder einmal bei mir in der Nähe zu sein, war nach sechs Wochen klar: Auch hier würde ich nicht bleiben können.


Der Intuition folgen
Es ist bezeichnend für meine Generation, dass sie sich dort, wo sie ist und bei dem was sie macht, wohl fühlen muss. Wenn das Gefühl nicht stimmt, dann sucht sie eben weiter: eine(n) andereN PartnerIn, ein anderes Studium, einen anderen Job oder eben ein anderes Land. Allerdings werde ich den Verdacht nicht los, dass wir im Wald der Möglichkeiten zuweilen verkennen, dass es nicht um den Fünfer und das Weggli geht. Zwar hat die Generation der Babyboomer uns vorgelebt (oder besser: vorgespielt), dass man alles haben kann, wenn man sich nur anstrengt, aber alles ist erstens verdammt viel und zweitens gilt es zu unterscheiden. Denn es ist zweierlei, den Fünfer und das Weggli zu besitzen oder sich die Freiheit offen zu halten, bei Bedarf davon Gebrauch zu machen. Dies bedingt jedoch die Fähigkeit, Distanz zum äusseren Leben zu wahren und unser Inneres soweit zu kultivieren, dass man im Strom des Lebens auszuwählen vermag. Was löst das, was ich hier mache und konsumiere, anderswo aus? Man holt sich so die Ferne quasi in die Nähe und wird sich bewusst, dass sich die Spezies Mensch trotz geographischer Distanz erstaunlich nahe ist.
Ich verstand dies so richtig, als ich in Richtung Chile aufbrach, wo zwei Monate zuvor Erdbeben und Tsunamis ganze Dörfer zerstört und weggespült hatten. Ich war auf der Suche nach Antworten auf die Frage, wie indigene Völker Naturphänomenen begegnen. Und ich folgte nach Jahren der Abstinenz endlich wieder einmal meiner Intuition. Diese führte mich nach Futrono, einem Bergdorf in der Nähe der chilenisch-argentinischen Grenze, wo verschiedene comunidades indígenas leben. Ich fühlte mich Jahrhunderte zurückversetzt. Nicht wegen der Lebensform der Menschen – diese ist inzwischen oft ähnlich wie im Westen –, sondern wegen der anhaltenden Ausbeutung durch Europa, etwa durch vom norwegischen Staat mitfinanzierte Staudämme. Ich begegnete also Leuten von «meinem» Kontinent, die ans andere Ende der Welt reisten, um dort die lokale Bevölkerung zu entwurzeln. Man ist also physisch fern des Ortes, wo man aufgewachsen ist (Europa), aber ihm und seinen Ansprüchen weiterhin unheimlich nahe.
Immerhin kam ich beim Treffen mit der lokalen Bevölkerung mit etwas in Kontakt, was das koloniale Gebaren der Europäer in den Hintergrund treten liess. Ich spürte, dass es den comunidades um mehr geht, als um ihr eigenes Fortbestehen. Und auch wenn ich pachamama (Quechua: «Mutter Welt») zunächst nicht verstand, merkte ich, dass ich in Südamerika Antworten finden würde, die ich in Europa vergeblich suchte – als ob ich meiner eigenen Wahrheit einen Schritt näher kommen könnte. Ich zerriss mein Rückflugticket und entschied trotz aller Widrigkeiten, mich in Buenos Aires niederzulassen.


Entzugserscheinungen in Buenos Aires
Ich begann bei VW Argentinien und an Sprachinstituten Deutsch zu unterrichten. Je nach Unterrichtsort reiste ich bis zu vier Stunden am Tag, und abends warteten die Privatschüler. Sie zahlten am besten, und es gab Zeiten, in denen ich nicht auf sie verzichten konnte. Meine Ideale? Erst einmal über Bord geworfen. Zuerst brauchte ich etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf.
Das Leben in Buenos Aires war hart, zweifellos. Es gab Tage, an denen ich mein Studio nicht verlassen wollte, weil mir das Draussen den Atem raubte. Und es kamen angenehme Erinnerungen aus der Schweiz auf: angstfreies aus dem Haus treten, im See schwimmen gehen, ein Feuer im Wald entfachen oder eine Velotour unternehmen. Ich fühlte mich in der argentinischen Hauptstadt fern von dem, was mir gut tut. Die fehlende Natur erzeugte Entzugserscheinungen, und es war bald klar: Ich musste wieder weg. Zwei Jahre Zementwüste sind genug.


Die Konflikte wiederholen sich
«Egal wo du hingehst», bekommt man als Nomade gesagt, «du nimmst dich mit.» Und weil das so ist, tut man gut daran, irgendwann eine Art Eigenheim einzurichten. Natürlich fährt man dazu nicht zu Ikea oder diskutiert mit der Freundin, wo denn nun der Esstisch stehen solle. Das Eigenheim kultiviert man selber. Die Einen gehen dazu in die Kirche, Andere meditieren, Dritte tun jeden Tag bewusst etwas Gutes und nochmals Andere treffen sich mit Freunden. Aufgewachsen im absoluten Wohlstand kann sich meine Generation Fragen nach der Leere hinter dem Materialismus erlauben.
Um dies zu erkennen, war es für mich hilfreich, fern vom gewohnten Umfeld zu leben: keine Eltern, keine Chefs, keine Tanten oder Trainer und auch keine Jugendfreunde, die einem wortlos zu verstehen geben, was nun richtig oder falsch ist. Man entdeckt die Realität noch einmal und zwar alleine – und damit auch sich selber. Dass man sich mitnimmt, verstand ich erst, als sich Konflikte und Beziehungen, die ich bereits aus Europa kannte, wiederholten. Sie wiederholen sich solange, bis man von ihnen gelernt hat. Immerhin habe ich etwas bereits erkannt: Ob ich mich wohl fühle, liegt nicht so sehr am Ort, an dem ich wohne, sondern an der Perspektive, aus dem ich ihn betrachte.
Eine ganz andere Perspektive lernte ich in der Küstenstadt Mar del Plata kennen. Ich arbeitete dort als Gärtner und Lehmmaurer und kam mit einem Element in Kontakt, zu dem ich während meiner Zeit im sich digitalisierenden Norden den Bezug verloren hatte: Erde. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, als ich mit meinen Händen die ersten Lehmziegel verputzte und die ersten Zucchini erntete. Ich wurde mir bewusst, was mir wirklich gut tut und wo ich mich auch im Aussen Zuhause fühle. Nach jahrelanger Suche war ich endlich angekommen. Nicht an einem Ort, aber bei mir selber.


Ab in die transición
Unbekannte Worte haben seither den Weg in meinen Alltag gefunden. Buen vivir (gut leben) beispielsweise, espíritu (universeller Geist) oder sanación (Gesundung). Ich bin offen für andere Dinge, andere Weltanschauungen und andere Lebensentwürfe. Ich beginne zu verstehen, was pachamama bedeutet. Es geht um das grosse Ganze, das unabhängig von Hautfarbe, Land und Einkommen einfach da ist, und zu dem wir mit unserem Denken und Handeln etwas beitragen können. Die weltweite Krise und die damit verbundene Chance, den Zugang zur Natur und damit zu uns selber wieder zu aktivieren, ist viel grösser, als wir im Westen wahrhaben wollen.
Wo auf dem Planeten die transición stattfindet, ist nicht so wichtig. Egal ob nah oder fern. Pachamama ist überall und die Indígenas sind zahlreicher als je zuvor. Denn Indígenas – auch wenn wir dies vielleicht noch nicht erkennen – sind wir alle.       





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