Prügelknabe Schweiz

In deutschen Medien ist derzeit das «Schweiz-Bashing» in Mode. Grenzgänger Roland Rottenfußer zeigt sich irritiert. Brauchen wir jetzt einen Nackscanner für alle Bankkonten?

Hans-Ulrich Jörges, Star-Kolumnist des «Stern» zieht mächtig gegen die Schweiz vom Leder: «Das Land masst sich ein Existenzrecht als Schwarzgeld-Safe der Diktatoren und Finsterlinge (…) an», schreibt er im neuen Stern. «Sein parasitäres Bankgeheimnis ist ihm Staatsräson, existenziell noch wertvoller offenbar als seine direkte Demokratie.» Und: «Am fettesten Batzen von 175 Milliarden laben sich die Schweizer Banken – ach was: die Schweizer.» Doris Leuthard ist für Jörges das «Oberhaupt des Beutestaates, der doch vom Geldhandel mit Kriminellen lebt.»

Solche Töne sind erschreckend. Es wäre zu hoffen gewesen, dass nach dem Abgang von Ex-Finanzminister Steinbrück, der die Schweizer als «Indianer» beschimpfte, etwas Ruhe einkehrt an der Deutsch-Schweizer Front. Gerade wenn man wie ich von Deutschland aus regelmässig beruflich in die Schweiz fährt, ist man irritiert. Bin ich etwa mit dem Überschreiten der Grenze im Herzen der Finsternis gelandet? Oder muss ich umgekehrt befürchten, von den Einheimischen als Gesandter des Erbfeinds beargwöhnt zu werden? Und ist der «Stern» die richtige Besetzung, wenn es um die Rolle des Richters über Gut und Böse geht? Jedenfalls wäre mehr Respekt und weniger pauschale Schuldzuweisung angebracht. Seit wann profitieren Normalbürger davon, dass sich Banken mit dem Geld der Reichen (Steuerhinterzieher oder nicht) mästen? Ist es nicht vielmehr so, dass auch in der Schweiz Bürger für die Spielschulden der Grosszocker in Haftung genommen wurde?

Der Zeitpunkt hat, Christoph Pfluger an der Spitze, immer den Standpunkt eingenommen, dass der Missbrauch des Finanzplatzes Schweiz zur Steuerhinterziehung zu missbilligen ist. Erst recht wünscht sich niemand, dass Diktatoren ihren geknechteten und ausgeplünderten Völkern auf Dauer Millionensummen entziehen und in der Schweiz bunkern können. Trotzdem hat jede Streitfrage natürlich mehrere Seiten. Dem derzeitigen Trend des Schweiz-Bashings muss mit einer Reihe von Gegenargumenten begegnet werden:

«Steuergerechtigkeit» ist eine Fiktion. Gerechtigkeit im banken- und wirtschaftshörigen Deutschland ist ohnehin geradezu ein Widerspruch in sich. Überspitzt ausgedrückt: Die Regierung will an das Geld heran, das Gauner in der Schweiz gebunkert haben, um es anderen Gaunern wieder in den Rachen zu schieben. Wenn man wenigstens sicher sein könnte, dass die den Räubern entrissene Beute den wirklich wichtigen humanitären und ökologischen Projekten unserer Zeit zu Gute käme! Zu befürchten ist aber, dass das Geld (auch) in den Rüstungsetat einer Kriegsnation, in Zinszahlungen und in die nächste Bankenrettung fliesst.

Etabliert werden soll offenbar eine internationale Ordnung, in der sich bestimmte «Herrenvölker», speziell die USA, England und Deutschland, als Weltpolizei aufspielen. Kleine Länder werden von den grossen massiv unter Druck gesetzt und unterliegen gemäss ihrer Fügsamkeit einem «Ranking». Man muss sich genauer anschauen, warum bestimmte kleinere Länder gerade jetzt ins Fadenkreuz selbst ernannter Moralapostel geraten: neben der Schweiz z.B. auch Island und Griechenland. Jede Regung von Selbstbehauptung, jeder Versuch eines Sonderwegs im neoliberalen Einheitseuropa ist den Regelmachern offenbar suspekt. Nicht, dass die Schweiz «vollkommen» wäre, aber das Ausmass der Aggressivität im Umgang mir ihr erscheint unangemessen. Bedenkt man, dass andere Länder zwar nicht das Geld von Verbrechern verstecken, wohl aber selbst solche Verbrechen begehen.

Der Staat bringt sich bei jeder Gelegenheit als Vormund ins Spiel. Er trainiert, sozusagen seinen Repressionsmuskel, während der Bürger zunehmend von der bangen Frage «Was darf ich noch?» absorbiert wird. Wenn es darum geht, ein Bürgerrecht zu schleifen, einen Freiraum einzuengen, einen dem Staat verborgenen Rückzugsraum seinen Blicken zugänglich zu machen, werden stets drastische Einzelfälle als Gründe vorgeschoben. Will man den staatlichen Zugriff auf private PCs erlauben, begründet man das mit Kinderpornografie. Will man Folter wieder salonfähig machen, müssen Terroranschlägen herhalten, die angeblich nur durch Preisgabe der Menschenrechte verhindert werden können. Um das Bankgeheimnis zu schleifen, entwirft man nun das Schreckensbild grausamer Diktatoren, die ihr Volk ausplündern und es sich mit ihren Schweizer Konten gut gehen lassen. Solche Fälle gibt es gewiss, aber wie häufig sind sie, und rechtfertigen sie einen Kontroll-Amoklauf?

Blindes Vertrauen in das steuerpolitische Augenmass des Staates wäre naiv: Ebenso wie es Menschen gibt, die zu wenige Steuern bezahlen und sich zynisch selbst bedienen, gibt es andere, die zu viele Steuern bezahlen. Wenn letztere «Geld verstecken» kann dies ein Akt anarchischer Notwehr gegen einen zu gierigen, ungerechten Finanzapparat sein. Im übrigen sind die meisten der in Schweiz geführten Konten auch formaljuristisch völlig «sauber». All das müsste man im Einzelnen überprüfen. Aber gerade eine flächendeckende Untersuchung würde einen Generalverdacht gegen Bankkonto-Inhaber beinhalten, einen Nacktscanner für Konten sozusagen, der jeden Zahlungsverkehr für den Staat durchleuchtbar macht: von der Überweisung an den Porno-Videovertrieb bis zum Bagatell-Job, den jemand dem Fiskus verschweigt, um seinen Kindern eine Klassenfahrt zu finanzieren. Ich denke, man muss das Bankgeheimnis analog zur Unverletzlichkeit der Wohnung betrachten. Grundsätzlich hat es zu gelten. Unter bestimmten, genau definierten und eng begrenzten Umständen kann es jedoch durch ein Gericht aufgehoben werden. Eine staatlicher Vernichtungsfeldzug gegen jegliche Form von Geheimnis, das Bürger vor «ihrem» Staat haben könnten, macht ihn selbst totalitärer Ambitionen verdächtig.

Wollen wir einen totalen Weltstaat, der – Gott ähnlich – alles sieht und jede Regelwidrigkeit bis in den hintersten Winkel der Welt verfolgen kann? Ist unsere gesetzliches Regelwerk so makellos, sind die Ordnungskräfte so integer, dass man sich das wünschen sollte? Ein solcher Staat – auf den Europa zweifellos zusteuert – ist immer ein sehr zweischneidiges Schwert. Man kann damit die Hoffnung auf allgegenwärtige Gerechtigkeit verbinden, den Schutz vor «Parasiten» und «Räubern». Mich beschleicht dabei aber eher ein leises Grauen, da ich den Kräften, die diese Weltordnung momentan vorantreiben, aus gutem Grund nicht vertraue.

Ebenso wenig wie den smarten Presse-Propagandisten der grossen Medien. Genau dieselben Zeitschriften, die die Plünderung des Gemeinschaftsvermögens zu Gunsten der «Rettung Not leidender Banken» in einer beispiellosen Kampagne als alternativlos verteidigt haben, blasen nun zum Marsch gegen die Raubzüge der Steuerhinterzieher. Wenn da nicht was faul ist!

Ich jedenfalls werde mich von meinen regelmässigen Schweiz-Reisen nicht abschrecken lassen – auch auf die Gefahr hin, dass mir daheim in Germanien, die Kollaboration mit einem «Schurkenstaat» zu Last gelegt wird. Freiheit ist ohne gewisse Risiken und Schattenseiten nicht zu haben. In Freiheit ist das Leben oft ungerecht und gefährlich; ohne Freiheit ist es jedoch überhaupt nicht zu ertragen.
10. Februar 2010
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