Israel: Bodenoffensive als Suizid-Strategie

Nur wenige Stunden nach dem Raketenangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 verkündete Israel eine bevorstehende Militäraktion gigantischen Ausmasses – worunter neben verheerenden Bombardierungen des Gaza-Streifens vor allem die Bodenoffensive gemeint war. Doch genau die, so analysierte das renommierte US-Fachblatt Foreign Affairs kurz darauf, sei der Kapitalfehler, den Israel mit Tolerierung der USA beging.

Israels Bomben treffen das Krankenhaus in Gaza. Foto: Al Jazeera

Zunächst fällt auf, dass Washington die israelischen Pläne von Beginn an voll unterstützte – und vor allem nicht zur Zurückhaltung mahnte. «In einigen Fällen haben Kommentatoren sogar militärische Massnahmen gegen den Iran gefordert, weil dieser angeblich die Hamas-Operationen unterstützt», schrieb dazu Foreign Affairs.

Und fügte im gleichen Atemzug hinzu: «Doch gerade jetzt muss Washington den kühleren Kopf bewahren und Israel vor sich selbst retten. Die bevorstehende Invasion des Gazastreifens wird eine humanitäre, moralische und strategische Katastrophe sein. Sie wird nicht nur Israels langfristiger Sicherheit schweren Schaden zufügen und den Palästinensern unermessliche menschliche Kosten verursachen, sondern auch die Kerninteressen der USA im Nahen Osten, in der Ukraine und in Washingtons Wettbewerb mit China um die indo-pazifische Ordnung bedrohen.»

Warum aber ist das so? Ein Blick in die Vergangenheit verdeutlicht die Bedeutung des 7. Oktober 2023. Denn im Jahr 2005 zog sich Israel einseitig aus dem Gazastreifen zurück, beendete aber nicht seine De-facto-Besetzung. Es behielt die volle Kontrolle über die Grenzen und den Luftraum des Gazastreifens und kontrollierte weiterhin, in enger Zusammenarbeit mit Ägypten, von ausserhalb des Sicherheitsperimeters aus den Verkehr von Menschen, Waren, Strom und Geld.

Die Hamas wiederum übernahm die Macht 2006 nach ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen und festigte sie 2007 nach einem gescheiterten, von den USA unterstützten Versuch, die Gruppe durch die Palästinensische Behörde zu ersetzen.

Israel stärkte die Hamas gezielt

«Seit 2007 haben Israel und die Hamas ein fragiles Abkommen geschlossen», stellt Foreign Affairs fest, und: «Israel hält eine erdrückende Blockade über den Gazastreifen aufrecht, die die Wirtschaft des Gebiets stark einschränkt und hohe menschliche Kosten verursacht, während sie gleichzeitig die Hamas stärkt, indem sie alle wirtschaftlichen Aktivitäten auf die von ihr kontrollierten Tunnel und Schwarzmärkte lenkt.»

Während der episodischen Ausbrüche des Konflikts in den Jahren 2008, 2014 und erneut 2021 bombardierte Israel massiv die dicht besiedelten urbanen Zentren des Gazastreifens, zerstörte die Infrastruktur und tötete Tausende von Zivilisten.

Gleichzeitig beging Israel einen weiteren entscheidenden Fehler: Die israelische Führung ging davon aus, das Gleichgewicht auf unbestimmte Zeit aufrecht erhalten zu können. Am dramatischsten aber war die Tatsache, dass israelische Beamte die immer wiederkehrenden Beschwerden über die humanitären Auswirkungen der Blockade ausblendeten.

«Stattdessen begnügte sich das Land damit, den Gazastreifen auf Sparflamme zu halten, während es seine zunehmend provokativen Schritte zum Ausbau seiner Siedlungen und seiner Kontrolle über das Westjordanland beschleunigte», so Foreign Affairs.

Die Liste der israelischen Provokationen jedenfalls ist lang, überschritt jedoch 2021 eine rote Linie: Israelische Extremisten wollten die Al-Aqsa-Moschee, eine der heiligsten Stätten des Islam, abreissen lassen, um an ihrer Stelle einen jüdischen Tempel zu errichten.

2023 schliesslich fand die israelische Eskalation ihren Höhepunkt. Das Land reagierte auf den Hamas-Angriff vom 7. Oktober zunächst mit einer noch intensiveren Bombenkampagne als sonst und einer noch intensiveren Blockade, bei der es die die Lebensmittel-, Wasser- und Energieversorgung für Gaza abschnitt.

Ironie der Geschichte: Diese Art der ‚Kriegsführung‘ wendete auch die SS an, als Nazi-Deutschland das Warschauer Ghetto errichtete. Am 2. Oktober 1940 befahlen nämlich die Deutschen allen jüdischen Einwohnern der Stadt innerhalb von sechs Wochen den Umzug in ein Gebiet westlich vom Zentrum. Dort mussten die nichtjüdischen Bewohner ihre Wohnungen verlassen. Das Warschauer Ghetto wurde ab der Nacht vom 15. auf den 16. November 1940 in der Folgezeit mit einer 18 Kilometer langen und 3 Meter hohen Umfassungsmauer abgeriegelt und die anfangs 22 Tore von SS-Wachen unter dem Kommando Paul Moders bewacht. Das Ghetto erhielt – wie andere Sammellager im besetzten Europa – eine nur nominelle Selbstverwaltung. Die Transferstelle Warschau fungierte als deutsche Verwaltung des Sammellagers. Sie regelte und kontrollierte den Wirtschaftsverkehr hinein und heraus.

Gewiss, den Vergleich zwischen Warschau und Gaza zu ziehen, mag provokativ erscheinen – aber faktisch betrachtet handelt es sich bei der israelischen Blockade 2023 um nichts anderes als das, was die Nazis 1940 in Polen veranstalteten.

Israel mobilisierte im Oktober 2023 seine militärischen Reserven, brachte rund 300.000 Soldaten an die Grenze zu Gaza und bereitete sich auf eine bevorstehende Bodenkampagne vor. Vor allem: Israel forderte die Zivilbevölkerung des Gazastreifens auf, den Norden innerhalb von 24 Stunden zu verlassen.

«Dies ist eine unmögliche Forderung», stellte Foreign Affairs dazu fest. Denn die Menschen im Gazastreifen «können nirgendwo hin. Die Autobahnen sind zerstört, die Infrastruktur liegt in Schutt und Asche, es gibt kaum noch Elektrizität oder Strom, und die wenigen Krankenhäuser und Hilfseinrichtungen befinden sich alle in der nördlichen Zielzone. Selbst wenn die Bewohner des Gazastreifens den Streifen verlassen wollten, ist der Rafah-Übergang nach Ägypten bombardiert worden – und der ägyptische Präsident Abdel Fattah el-Sisi hat wenig Anzeichen gezeigt, eine freundliche Zuflucht zu bieten».

Kein Wunder also, dass die Menschen im Gaza-Streifen die Aufforderung zur Evakuierung nicht als humanitäre Geste, sondern als weitere Nakba (Katastrophe) empfanden: Der Begriff steht für die Zwangsvertreibung der Palästinenser aus Israel während des Krieges von 1948.

Geradezu fatal ist angesichts dieser Hintergründe die US-Strategie von US-Präsident Joe Biden. Seine Forderung eines humanitären Korridors, der es der Zivilbevölkerung des Gazastreifens ermöglichen sollte, vor den Kämpfen zu fliehen, war «eine denkbar schlechte Idee», wir Foreign Affairs schrieb.

«Ein humanitärer Korridor würde die Entvölkerung des Gazastreifens und die Entstehung einer neuen Welle von Dauerflüchtlingen nur noch beschleunigen. Ausserdem würde er den Rechtsextremisten in Netanjahus Regierung einen klaren Fahrplan bieten, um das Gleiche in Jerusalem und im Westjordanland zu tun».

Die junge Bevölkerung von Gaza werde die IDF nicht als Befreier begrüssen: «Es wird keine Blumen und Süssigkeiten geben. Israels bestes Szenario ist eine langwierige Aufstandsbekämpfung in einer einzigartig feindlichen Umgebung, in der es in der Vergangenheit gescheitert ist und in der die Menschen nichts mehr zu verlieren haben.»

Existenzbedrohend aber ist die Bodenoffensive in Gaza allemal – und zwar für Israel. Der iranische Aussenminister Hossein Amir-Abdollahian sagte am 17. Oktober und somit nur 10 Tage nach Beginn des israelischen Krieges gegen die Hamas, dass sein Land in den Konflikt zwischen Israel und Palästina verwickelt werden könnte.

«Jede Option ist vorstellbar», antwortete er auf die Frage, ob Iran in den Konflikt eingreifen könne. «Niemand kann tatenlos zusehen, wie Israel im Gazastreifen vorgeht», sagte er. Dem Minister zufolge würden sich im Konfliktgebiet «andere Fronten öffnen», wenn Israel «weiterhin Kriegsverbrechen begeht».

Auch die von Iran unterstützte Hisbollah könnte leicht in den Krieg hineingezogen werden. «Und sollte die Hisbollah mit ihrem gewaltigen Raketenarsenal in den Kampf eingreifen, stünde Israel vor seinem ersten Zweifrontenkrieg seit einem halben Jahrhundert», resümiert Foreign Affairs.

Man kann es auch plakativ darstellen: Die Hamas verfügt im Süden des Landes über ein Arsenal von 15‘000 Raketen. Im Norden stehen 150‘000 Raketen der Hisbollah zum Abschuss bereit. Wodurch der sogenannte Iron Dome, die staatserhaltende Raketenabwehr Israels, kollabieren würde.


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Kommentare

Humanitäre Katastrophe?

von juerg.wyss
Ich habe grade ein Deutschbuch in digitaler Form gelesen, weil ich am zweifeln bin, was eine humanitäre Katastrophe ist. In diesem Deutschbuch wird humanitär als wohlwollend, menschenfreundlich beschrieben.    In meinem Kopf war aber humanitär etwas, das für Menschen gemacht wurde. So ist der Wasser und Lebensmittelentzug im Gaza keine humanitäre Katastrophe, es ist eine humane Katastrohe. Die Lieferung von Lebensmitteln und Wasser ist humanitär, die Lebensmittel und das Wasser wird wohlwollend gebracht. Aber nur die Lieferung, nicht die Lebensmittel oder das Wasser sind humanitär! Also um das wirrwarr aufzulösen, human ist etwas, das menschlich, humanitär ist etwas, das für Menschen gemacht wird, und zwar wohlwollend.