Was wäre wenn wir zukunftsfähige Verkehrssysteme hätten

Ein Professor für Transportation Design & Social Sciences spielt Zukunftsmusik

Montagmorgen im Jahr 2033. Ich sitze auf meiner Dachterrasse in der Mehrgenerationen-Wohngemeinschaft beim Kaffee und sehe den vielen Luftschiffen zu, die über Braunschweig lautlos zur Landung einschweben oder sich von dort auf die Reise machen. Sie bringen Waren und Touristen in unsere kleine Boomtown, die sich zu einem wichtigen regionalen Logistikzentrum entwickelt hat.

Seit der kleine Regionalflughafen Waggum zum internationalen Luftschiffdrehkreuz und der Hanse-Hafen am Mittellandkanal zum Umschlagplatz für die Binnenschifffahrt ausgebaut wurden, ist Braunschweigs Bedeutung in der Region noch weiter gewachsen. Mit den Arbeitsplätzen in der Transportbranche und dem aufstrebenden Tourismus zwischen Harz und Heide ziehen immer mehr Menschen nach Braunschweig. Trotzdem ist es mit den Jahren immer ruhiger geworden, weil in der Stadt praktisch keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor unterwegs sind.

Neue Wohnungen wurden geschaffen, in energieeffizienten Häusern mit Tiefgaragen für elektrische Gemeinschaftsautos und für die vielen Fahrräder und E-Bikes, mit denen heute der grösste Teil des innerstädtischen Individualverkehrs abgewickelt wird. Überall sind neue Fahrradautobahnen und Radwegkreuzungen entstanden, so dass ich mit meinen E-Bike heute schneller unterwegs bin als damals mit dem Auto. Erst gestern hat mich wieder eine Fahrradstreife beim Rasen erwischt. Denn als Pensionär arbeite ich nämlich noch in Teilzeit als Warenkurier und bin viel mit meinem elektrisch unterstützten Lastenfahrrad unterwegs. Da muss es oft schnell gehen.

Aber was will man machen, wenn die Pension nicht reicht für meine Leidenschaft – das Luftschiffreisen in alle Welt. Morgen geht es dann zum Ausgleich ja wieder los. Diesmal auf eine lange Kreuzfahrt über Island und Grönland in die Nordpolregion. Ich will mir das geothermische Wasserstoffexportwunder Island einmal mit eigenen Augen ansehen, in den neuen Staat Grönland einreisen und einen dort angebauten Salat essen und dann noch ein letztes Mal den Nordpol überfliegen - bevor dieser schliesslich chinesisches Hoheitsgebiet wird.

Ich fahre mit dem E-Shuttle nach Waggum. Majestätisch wie eine Armada riesiger, silbergrauer Wale liegen dort zu fast jeder Zeit bis zu zweihundert Luftschiffe unterschiedlicher Grösse auf vier verschiedenen, vertikal angeordneten Ebenen vor Anker. Noch einmal schweift mein Blick über das Flugfeld und das unausgesetzte Sinken und Aufsteigen der grossen, hellgrauen Schiffe: Von überall gleiten sie heran und verlieren, sich in Position drehend, an Höhe, während zugleich, zum Teil an entfernter Stelle, zum Teil direkt neben ihnen, andere aufsteigen und in alle Himmelsrichtungen davonziehen, über die Ankommenden hinweg und unter und zwischen ihnen hindurch und sich auf den Weg nach Frankfurt, Peking oder San Francisco machen.

Das alles geschieht in fast vollkommener Stille. Eher ähnelt das Flugfeld heute einer grossen Meeresbucht als den lärmenden und kerosinstickigen Asphaltwüsten der fossilen Luftfahrt. Und manchmal, wenn der Westwind feuchte Meeresluft heranträgt und der Blick über das riesige Feld weit wird, hat man tatsächlich das Gefühl, direkt am Meer zu stehen. Mein Fernweh ist entfacht! Es kann losgehen.   


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Stephan Rammler ist Professor für Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig