Das höchste Gericht der Welt steht vor dem schwersten Entscheid seiner Geschichte

Am Internationalen Gerichtshof werden mögliche Verstösse gegen die Genozid-Konvention von Israel verhandelt. Das Gericht könnte einem Entscheid allerdings aufgrund einer Formalität aus dem Weg gehen: Zwischen Israel und dem Ankläger Südafrika habe gar kein Streit stattgefunden, sagen Israels Anwälte.

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag anlässllich der Verhandlung (Screenshot UN-Video)
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag anlässllich der Verhandlung (Screenshot UN-Video)

Am 29. Dezember reichte Südafrika Klage gegen Israel wegen Völkermordes in Gaza ein und verlangte provisorische Sofortmassnahmen, den Völkermord zu stoppen. Südafrika muss dazu nicht schlüssig beweisen, dass Israel einen Völkermord begeht. Erforderlich ist lediglich ein plausibler Nachweis, dass Israel zumindest einige der angeklagten völkermörderischen Handlungen in völkermörderischer Absicht begeht.

Gemäss Art. 2 der Genozid-Konvention

«bedeutet Völkermord jede der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten:
(a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
(b) Verursachen schwerer körperlicher oder geistiger Schäden bei Mitgliedern der Gruppe;
(c) der Gruppe vorsätzlich Lebensbedingungen auferlegen, die auf ihre vollständige oder teilweise physische Vernichtung abzielen;
(d) Auferlegung von Massnahmen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb der Gruppe zu verhindern;
(e) gewaltsame Überstellung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Es geht beim vorliegenden Verfahren nicht um die Verurteilung von Tätern in Bezug auf strafbare Handlungen – das kann Jahre dauern. Es geht darum, ob es plausibel ist, dass völkermörderische Handlungen mit entsprechender Absicht ausgeführt werden.

Wenn das Gericht das bejaht, wird es provisorische Sofortmassnahmen anordnen, die von der UNO-Vollversammlung bzw. dem Sicherheitsrat durchgesetzt werden müssen. Ministerpräsident Netanjahu hat allerdings bereits im Vorfeld angekündigt, dass Israel dem Urteil nicht Folge leisten wird.

Das Gericht tagte am 11. und 12. Januar, am ersten Tag mit den Plädyoers von Südafrika, für das sechs Anwältinnen und Anwälte aus verschiedenen Ländern sprachen (hier Protokoll und Videoaufzeichnung). Tags darauf war Israel an der Reihe, ebenfalls von Anwälten auch aus anderen Ländern vertreten (Protokoll und Videoaufzeichnung).

Ich habe mir die südafrikanischen Plädoyers spätabends fast zur Gänze angehört und – ich muss es zugeben – still in mich hineingeweint.

Die israelischen Plädoyers habe ich mir nur teilweise angehört. Ich habe die Behauptungen, Israel habe die moralischste Armee der Welt und habe alles zum Schutz der Zivilbevölkerung getan, fast nicht anhören können.

Für mich ist klar, dass Israel völkermörderische Handlungen im Sinn der Konvention begangen hat und auch die Absicht dazu durch verschiedene Äusserungen von Ministerpräsident Netanjahu bin hinunter zu den Soldaten an der Front zweifelsfrei nachgewiesen ist.

Das Gericht wird bald über allfällige vorläufige Massnahmen entscheiden – es wird die schwierigste Entscheidung seit Bestehen des Gerichtshofes sein. Betroffen sind nicht nur Israel, sondern auch die Staaten, die es aktiv unterstützen, namentlich die USA und Grossbritannien.

Betroffen sind aber auch westliche Staaten wie Deutschland, die Israels Handlungen im Gazastreifen verbal unterstützen und als Selbstverteidigung darstellen. Eine schwere Entscheidung, der das Gericht möglicherweise aus formellen Gründen aus dem Weg gehen will.

Der britische Rechtsprofessor Malcolm Shaw, als Anwalt für Israel vor dem Gerichtshof, sagte nämlich: Damit eine Klage vor den Internationalen Gerichtshof gelangen könne, müsse ein Streit, im englischen Original ein dispute zwischen zwei Staaten bestehen.

Ein Disput sei eine Sache der Gegenseitigkeit und erfordere den Austausch von Schriften. Ein solcher sei aber nicht erfolgt. Tatsächlich wurde die Antwort von Israel an Südafrika während der Festtage überbracht, als die Botschaft geschlossen war. Der Überbringer wurde auf den 2. Januar verwiesen. Da hatte Südafrika aber bereits Klage eingereicht.

Craig Murray, ehemaliger britischer Botschafter, schreibt dazu auf Consortium News:

«Ich bin mir sicher, dass die Richter sich aus der Sache herauswinden wollen und sich auf die verfahrensrechtlichen Punkte stürzen werden. Aber es gibt ein echtes Problem mit Israels ‹no dispute›-Argument. Wenn es akzeptiert wird, würde es bedeuten, dass ein Land, das Völkermord begeht, einfach nicht auf eine Anfechtung antworten kann, und dann sind keine rechtlichen Schritte möglich, weil keine Antwort ‹kein Streit› bedeutet. Ich hoffe, diese Absurdität ist den Richtern klar. Aber es kann natürlich sein, dass sie es nicht bemerken wollen.»

Das wäre dann ein weiteres Beispiel für die «rules based order», auf die sich die Eliten des Westens immer wieder berufen. Und es zeigt auch, dass jede rechtliche Ordnung, auch das Völkerrecht, letztlich auf dem mehrheitlichen Willen beruht, das Recht auch zu respektieren. Wenn sich eine massgebliche Gruppe um das Recht foutiert, bricht es in sich zusammen.


Der Artikel als Videobeitrag:

Gerichtshof Den Haag

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Zeitpunkt: Details über die Genozid-Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof. 3.1.2024

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Christoph Pfluger

Submitted by admin on Do, 07/13/2017 - 08:33

Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".

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